Manche Menschen wollen ihr Leben lang eine ruhige Kugel schieben, nach dem Motto: Nur keine Wellen. Andere suchen überall den Kick, das Herausfordernde und die Intensität. Sie geraten leicht in Langeweile, wenn nichts Besonderes passiert. Ohne Intensität wird es fad, aber zu viel Intensität erzeugt Dauerstress. Wo liegen die Hintergründe der Suche nach Intensität?
Intensive Erfahrungen führen im günstigen Fall zur Ausschüttung von Glückshormonen (Endorphine und Oxytocin) und werden deshalb immer wieder gesucht. Wir verfügen über ein Dopaminsystem, das uns nach Belohnungen Ausschau halten lässt. Es motiviert uns dazu, aus dem Alltagstrott mit seinen Routinen auszubrechen und neuartige Erfahrung zu machen. Man nennt diese Dynamik in der Psychologie die Suche nach Reizen oder Sensationen („sensation seeking“).
Psychologische Untersuchungen haben ergeben, dass dieses Verhalten besonders im Alter von 20 bis 25 Jahren auftritt, eher bei Männern als bei Frauen. Es gibt ein Kontinuum zwischen dem Suchen von Erfahrungen (experience seeking), dem Suchen nach Sensationen (sensation seeking) bis zum Suchen nach Spannung (thrill seeking). Dabei geht es in unterschiedlichen Graden darum, die Grunderregung des Nervensystems zu erhöhen. Ein niedrig erregtes Nervensystem wird von Personen, die unter Intensitätsmangel leiden, häufig als unangenehme Langeweile interpretiert.
Gewalterfahrung als Intensitätserleben
Die Suche nach Intensität motiviert dazu, Risiken einzugehen, die mit einem teilweisen Kontrollverlust verbunden sind. Der Kick besteht gerade darin, sich gefährlichen Situationen mit vielen Unwägbarkeiten auszusetzen und sich darin zu behaupten. Das Erleben von Intensität in einer sicheren Umgebung soll die Fähigkeit trainieren, den Kontrollverlust auszuhalten, als Coping-Mechanismus.
Jugendliche, die besonders zur Intensitätssuche neigen, nutzen offenbar zunehmend die Übungsmöglichkeiten mit Intensität, die durch Online-Spiele angeboten werden. Es geht dabei um die Spannung, die im Verlauf des Spieles zu immer höherer Intensität gesteigert wird. Oft spielt die Einübung in Gewalt eine wichtige Rolle, indem im Spiel virtuelle Gegner vernichtet werden, was Erfolgs- und Lustgefühle in der Regel auslöst. Manche, die zu stark in die Trance dieser digitalen Welt eingetaucht sind, merken dann kaum einen Unterschied, wenn die Virtualität in die Realität übergeht, wie vielleicht der Attentäter von Charlie Kirk in Utah.
Das Kennenlernen der Intensität von Gewalt ist ein wichtiger Schritt im Prozess des Erwachsenwerdens. Es geht dabei um das Sammeln von Erfahrungen mit der Täterrolle. Während in der Kindheit meist die aus der Opferrolle vorherrscht, dient die Pubertät zum Ausstieg aus der Rolle durch die Übernahme von mehr Selbstverantwortung. Wenn Eltern physische oder emotionale Gewalt ausgeübt haben, ist es schwer und zugleich besonders verführerisch, in dieser Zeit in die Täterrolle zu gehen. Das Online-Gaming kann diese Brücke bereitstellen, ohne allerdings eine adäquate Unterstützung für die Bewältigung bereitstellen zu können. Denn die Abhängigkeit von Bestätigungserlebnissen von der virtuellen Welt stellt, psychologisch betrachtet, nur eine Verlängerung der Kindheitsposition dar.
Umso verlockender kann es sich dann dem Jugendlichen im Emanzipationsprozess darstellen, reale Möglichkeiten zur Gewalterprobung zu nutzen. Die Schwelle zur realen Gewalt wird mit Hilfe des Hasses überwunden, wie im letzten Artikel dargestellt. Das Internet bietet vielfältige Anregungen, um sich mit Opfern zu identifizieren und Hass auf die Täter aufzubauen. Die Kettenreaktion von der Frustration zum Hass und dann zur Gewalt besteht in einer Steigerung der psychischen Intensität von Schritt zu Schritt. Der Kulminationspunkt ist dann die vollbrachte Gewalttat.
Wiederholungszwang
Die Suche nach Intensität kann leicht suchtartige Züge annehmen („Adrenalin-Junkies“). Dazu kommt es vor allem, wenn diese Suche als Wiederholungszwang von Traumen auftritt. Darauf hat schon Sigmund Freud hingewiesen. Es handelt sich um das unbewusst gesteuerte Bestreben, in einer sicheren Umgebung ähnlich intensive Erfahrungen zu machen wie im Trauma, aber im bewusst entschiedenen Wiedererleben zu lernen, das Trauma in der Wiederholungssituation zu bewältigen. Der Suchtcharakter bildet sich aus, weil es nie zu einer Auflösung des Traumas kommt, sondern nur zu seiner Reinszenierung unter scheinbar besser kontrollierten Umständen. Da die angestrebten Intensitätserfahrungen immer auch mit einem gewissen Kontrollverlust verbunden sind, wird ein Stück des Traumas in die Gegenwart geholt, ohne bewusst durchlebt und dann integriert zu werden, wie es in einer Traumatherapie geschehen kann. Also muss diese Erfahrung immer wieder wiederholt werden, ohne reale Aussicht auf die Befreiung von der Traumalast.
Kontrollverlust
Kontrollverlust bedeutet auch Selbstverlust – das zeitweilige Verschwinden des Selbstkontakts. In vielen Zusammenhängen wird dieser Verlust als lustvoll erlebt z.B. in der Sexualität oder in der Ekstase. Doch kann die Lust schnell in Panik umschlagen, wenn der Kontrollverlust aus einem Trauma stammt. Es gibt eine gewisse, nicht vorhersehbare Grenze, innerhalb derer noch so viel Selbstkontrolle besteht, dass die Traumaenergie in Schach gehalten werden kann. Wird diese Grenze überschritten, dann tritt das alte Trauma mit voller Wucht in die momentane Erfahrung ein. Aus der lustvollen Entgrenzung wird ein Horrortrip. Die Dopamin-Euphorie kippt in das Überschießen der Stresshormone. Falls das Nervensystem nicht zeitgerecht in einen regulierten Zustand zurückfindet, gerät es auf der nächsten Stufe der Fehlregulation in eine parasympathische Überreaktion, die mit Erstarrung, Lähmung und Dissoziation einhergeht.
Dissoziation und Gewalt
Die Dissoziation kann sich in verschiedenen Formen zeigen:
Unter Depersonalisation versteht man einen Zustand, in dem sich die betroffene Person vom eigenen Körper losgelöst oder entfremdet vorkommt, oft verbunden mit verminderter Empfindlichkeit gegen Berührung oder Schmerzen sowie einer eingeschränkten Bewegungskontrolle.
Die Derealisation bezeichnet ein Gefühl, in dem die Welt um einen herum als nicht real erscheint. Das Erleben wird wie durch einen Schleier oder wie in einem Film empfunden, mit betäubten Gefühlen und verlangsamte Bewegungen.
Schließlich gibt es noch die dissoziative Amnesie. Es kommt dabei zu kurzen Unterbrechungen im Fluss der subjektiven Erfahrung: Es wird vergessen, was gerade passiert ist. In der Folge treten Gefühle von Orientierungslosigkeit, Verwirrung und Verlorenheit auf.
All diese Phänomene der Dissoziation dienen dem Schutz des Überlebens in äußerst bedrohlichen Situationen, die mit höchster Intensität einhergehen und an die Grenze der Existenz führen. In weiterer Folge führen sie dazu, dass unter bestimmten Umständen die Hemmungen zur Gewaltausübung überwunden werden. Manche Gewalttaten sind nur möglich, weil die Täterperson dissoziativ von sich selbst abgeschnitten ist und in gewisser Weise wie ein Roboter agiert.
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