Donnerstag, 31. Dezember 2020

Die eigene Wahrheit und die Verbundenheit mit anderen

Das Reden, das aus dem Zuhören kommt, wie es im vorigen Blogbeitrag beschrieben wurde, zeigt einen Ausweg aus der Borniertheit der Wahrheitsbehauptung, die die argumentative Auseinandersetzung scheut und zur Verarmung der Diskurskultur führt. 

Die Ebene der Verbundenheit

Jeder ehrlich und gewaltfrei ablaufende Dialog bringt uns unweigerlich auf eine tiefere Ebene: Die Einsicht in die Verbundenheit jenseits der Verschiedenheit. Diese Erkenntnis ist eine Hilfe, um den Zerfall unserer sozialen Welt in lauter Meinungsmonaden, die sich in sich abschließen, dort ihrer Wahrheit frönen und sich vor bedrohlichen Sichtweisen abschotten, zu verhindern. Dort liegt die Wurzel für die Produktion von und den Glauben an Verschwörungstheorien. 

Was beinhaltet die Einsicht in die Verbundenheit trotz der offensichtlichen Verschiedenheiten? Wenn wir näher in uns nachschauen, können wir unschwer erkennen, dass all die anderen Wahrheitsnester, die uns im Außen aufregen,  in unserem Inneren vorhanden sind, manchmal tief versteckt oder bis zur Unkenntlichkeit maskiert. Aber wir sind in uns um Dimensionen vielseitiger, als wir uns auf der Oberfläche eingestehen. Wir sind Konsumidioten und Konsumverweigerer, Gläubige und Gegner von Verschwörungstheorien,  Umweltschützer und Naturzerstörer, Sozialrevolutionäre und Heimattreue, Coronaängstliche und Coronaleugner usw. Wir kennen all diese Orientierungen und Werthaltungen in uns selbst; wir haben uns nur einmal, wohl aus guten Gründen, für eine der Richtungen im Weltanschauungsspektrum entschieden und die widersprechenden Ansichten verworfen und tiefer in unser Inneres verbannt. Im Außen werden sie Objekte für Abwertungen.

Wenn wir das Verständnis der Verbundenheit in uns kultivieren und festigen, erwerben wir eine solide Basis für die Toleranz und Akzeptanz von anderen Ansichten, Meinungen und Überzeugungen. Das ist die Basis für fruchtbare, weiterführende und öffnende Dialoge über die ideologischen Grenzen und angstgesteuerten Behauptungsdebatten hinweg. Es ist auch die Basis für eine lebendige, lernfähige und innovative Demokratie.

 Die mehrdimensionale Wahrheit

Der Zweck dieser Toleranzeinstellung liegt allerdings nicht darin, dass wir selber zu indifferenten Beobachtern der vielfältigen Szenerien der Wahrheitsfindung werden, sodass wir das Motto „Jeder hat seine Wahrheit und folglich ist jede Wahrheit gleichermaßen gültig“ als der Weisheit letzten Schluss internalisieren. Diese Einstellung ist kein Endzweck, sondern eine Bedingung für gelingende gewaltfreie Dialoge und Diskurse. Sie stärkt die Achtung für die Berechtigung anderer Meinungen und Sichtweisen, liefert aber keine Basis für die Verbesserung und Weiterentwicklung der Wirklichkeitserfahrung und Wahrheitsfindung.

Vielmehr bleibt die eigene Wahrheitserkundung als Aufgabe, die sich an drei Maßstäben orientiert: der Erschließung der objektiven und subjektiven Wirklichkeit, der gesellschaftlichen Verträglichkeit und der ethischen Qualifizierung. Die Wahrheitsfindung ist ein kontinuierlicher Annäherungsprozess auf mehreren Ebenen: Der äußeren und inneren Wirklichkeit näher und näher kommen, mit dem Blick auf die gesellschaftliche Konstruktion von Wahrheit und auf die Übereinstimmung mit den Werten der Menschlichkeit.

Wahrheit ist also niemals Besitz, weder von Einzelnen noch von Gruppen. Sie meint vielmehr den fortlaufenden Prozess der Annäherung an die Wirklichkeit in all ihren Dimensionen und Ebenen, ebenso wie den Prozess der Implementierung der Menschenwürde in allen Bereichen des Zusammenlebens. Wahrheiten sind deshalb immer vorläufig und relativ, und im Sinn der Weiterentwicklung der Erkenntnisse besser oder schlechter.

Die eigene Wahrheit

Wir verfügen immer über eine subjektive Wahrheit: Das, was wir im gegebenen Moment für wahr halten. Auf dieser Basis treffen wir unsere Einschätzungen und Präferenzen und fällen unsere Urteile. Deshalb haben wir zu vielen Themen des Lebens eine Überzeugung, die wir häufig in Diskussionen vertreten. Diese Überzeugungen unterscheiden sich durch den Grad an Gewissheit und argumentativer Abstützung. Manche Meinungen sind „intuitiv“ und richten sich stark nach unbewussten Vorlieben. Wenn uns etwa jemand fragt, wie uns ein Haus, an dem wir gerade vorbeigehen, gefällt, antworten wir meist aus einem Areal des Unterbewusstseins. 

Andere Auffassungen sind Ergebnisse von längeren Prozessen des Überlegens, Informationensammelns und Reflektierens. Z.B. müssen wir auf die Frage, wie wir zum Neoliberalismus stehen, auf umfangreiche Datenbanken zurückgreifen, auf die gesammelten Informationen, und auf die Denkprozesse, die wir dieser Frage bisher gewidmet haben. Je komplexer die Themen sind, desto detailliertere und aufwändige Stellungnahmen erfordern sie. 

Wir haben ein Recht auf unsere eigenen Wahrheiten, wie jeder andere Mensch auch. Wir haben aber auch die Pflicht, unsere Wahrheiten weiterzuentwickeln, zu verfeinern und zu verbessern und darüber Klarheit zu gewinnen, wie sie als Wahrheiten qualifiziert werden, also welche Kriterien der Geltung wir vertreten. 

Wir haben demnach die Pflicht, unsere eigenen Wahrheiten immer wieder zu überprüfen und in Frage zu stellen. Die geeignete Arena dafür ist der zwischenmenschliche Diskurs, in dem unterschiedliche Meinungen aufeinander treffen, Überzeugungen ausgetauscht und Argumente präsentiert werden. Solche Diskurse misslingen, wenn die Teilnehmer mit der Absicht hineingehen, die eigenen Ansichten erfolgreich zu behaupten, und sie gelingen, wenn die Teilnehmer mit der Bereitschaft hineingehen, sich verändern zu lassen. Im letzteren Fall steht das Hören vor dem Reden, auch das Hören ins eigene Innere, auf diejenigen Kräfte, die wachsen wollen.

Zum Weiterlesen:
Jeder mit seiner Wahrheit



Samstag, 26. Dezember 2020

Jeder mit seiner Wahrheit

 Vielleicht werden in diesen Zeiten so viele Standpunkte ausgetauscht wie noch nie zuvor und dabei so wenig diskutiert wie nie zuvor. Zeiten der Herausforderung und Unsicherheit erzeugen ein Bedürfnis danach, Stellung zu beziehen und diese zu behaupten. Jedenfalls endet das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Meinungen häufig sehr schnell mit einem schnippischen Statement: „Du hast deine Wahrheit, ich habe meine Wahrheit. Punkt.“ 

So bleiben nicht wenige Meinungsverschiedenheiten im leeren Raum einer scheinbar systemischen Haltung stecken: Jeder lebt in seiner Welt und entwickelt ihr entsprechend seine Wahrheiten. Jede Wahrheit ist von außen betrachtet relativ und subjektiv betrachtet absolut. Man kann zwar diese Wahrheiten vergleichen, dabei aber nie feststellen, welche Vorteile gegenüber der anderen hat, welche näher der Wirklichkeit ist usw., weil das eine übergeordnete Wahrheit voraussetzen würde, die wiederum nur auf subjektiven Festlegungen beruht.

Die Wahrheitsinseln

Es wirkt so, als lebte jeder auf seiner kleinen Wahrheitsinsel, ohne dass der Austausch und die Verbindung mit den anderen Wahrheitsinselchen Sinn machen würde. Denn jeder Austausch zeigt aufs Neue, dass es keine Gemeinsamkeiten gibt, sondern nur unterschiedliche Perspektiven, die für sich jeweils eine absolute Geltung beanspruchen.

Im Feststellen der eigenen Wahrheit in Abgrenzung zu anderen Wahrheiten steckt auch ein trotziges Behaupten: Ich halte an meiner Wahrheit fest, ich klammere mich an sie, als wäre sie ein Rettungsring, von dem mein Überleben abhängt. Ich höre den anderen mit ihrer Wahrheit nur mit halbem Ohr zu, weil sie für mich nicht relevant ist und ich von ihr nichts lernen kann. 

Wenn es mir nicht gelingt, die anderen auf meine Insel zu zerren, muss ich sie in ihrer Wahrheit lassen, die ich zwar als minderwertig und unterentwickelt empfinde, aber nicht ändern kann. Die anderen sollen eben dumm sterben, wenn sie so stur auf ihrer Unvollkommenheit beharren. 

Resignation und Angst

Das ist der resignative Anteil an der Theorie der abgegrenzten Wahrheiten. Entweder übernehmen die anderen die eigene Sichtweise oder sie lassen sie. All die Arbeit, die mit Argumentation, Zuhören, Abgleichen, Unterscheiden, Reflektieren verbunden ist, also all die Mühen der Debatte und des Wettstreits der Gedanken wird erspart und durch ein stumpfes Behaupten ersetzt. An die Stelle von kommunikativen Auseinandersetzungen mit ungewissem Ausgang tritt das schulterzuckende Abwenden vom ungläubigen oder skeptischen Gegenüber, mit dem sich ein Wortwechsel nicht lohnt. 

Die Angst vor dem Verlust von Sicherheiten führt im Hintergrund die Regie. Was, wenn sich herausstellte, dass die eigene Überzeugung auf Sand gebaut ist – welcher Teil der eigenen Identität steht da auf dem Spiel? Da bleibt man auf der sicheren Seite, wenn man die eigene Sichtweise keiner Anfechtung aussetzt und damit sich selbst nicht in Frage stellen muss. In Frage gestellt wird die andere Person mit ihrer abweichenden oder abwegigen Meinung, und die Selbstaufwertung lebt, wie so oft,  von der Fremdabwertung.

Die Lust am Diskutieren scheint zunehmend abhanden zu kommen. Jeder hat seine Quellen, auf die er schwört und die selber nicht infrage gestellt werden, und betet nach, was von dort sprudelt. Wenn jemand die eigene Quelle nicht anerkennt, ist er ein Ignorant.

Die Verkrustung der Demokratie

Die Verweigerung des Diskurses ist eine politische Angelegenheit. Denn sie beinhaltet eine Absage an die Demokratie. Deshalb ist diese Haltung nicht nur eine überhebliche und bequeme Form, sich mit den Ängsten, die hinter dem trotzigen Behaupten von Wahrheiten stecken, auseinanderzusetzen. Sie sägt zusätzlich an den Fundamenten der Demokratie, die ja nicht in sporadisch stattfindenden Wahlen und Verlautbarungen der einzelnen Parteien im Parlament bestehen sollte, sondern ihre Berechtigung und ihre robuste Gestaltungskraft aus den Diskursen der Staatsbürger und Staatsbürgerinnen über die Themen des Gemeinwohls bezieht. Es geht um die Willensbildung, die entweder in einem geteilten gemeinsamen Prozess erfolgt, der auf einer lebendigen Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Meinungen im Rahmen von Achtung und Wertschätzung stattfindet, oder im obrigkeitlich gelenkten Abfragen von Standpunkten durch Wahlen, Abstimmungen oder Befragungen besteht. Im einen Fall entwickelt sich ein dynamisches Kräfte- und Machtverhältnis, an dem die mündigen Staatsbürger gestaltend teilnehmen, im anderen zeitlich begrenzte halbdiktatorische Herrschaftssysteme mit abnickenden „Volksvertretern“ und einem entpolitisierten Volk, das nichts zu sagen hat. 

Die Debattenkultur, die das Um und Auf einer teilhabenden Demokratie darstellt, erfordert eine reife Einstellung zum Diskurs. Sie enthält die Bereitschaft, die eigenen Standpunkte einer Überprüfung und Infragestellung im Austausch auszusetzen. Eigene Meinungen bleiben solange Meinungen, als sie sich nicht in der Debatte bewährt haben. Von Wahrheiten brauchen wir da lange noch nicht zu sprechen. Unter dieser Prämisse fällt es leichter, die eigenen Standpunkte zu revidieren, falls sie sich als unzureichend erweisen. Sie gehören nicht zur eigenen Identität, sondern sind nichts als vorläufige Modelle der Wirklichkeit, die laufend verändert und verbessert werden können und müssen, um nicht in Dogmen zu erstarren. Mit dieser Einstellung können wir angstfrei in jeden Diskurs eintreten, müssen nicht für oder gegen andere Meinungen kämpfen und erfreuen uns an der Lebendigkeit des Meinungsaustauschens. 

Menschen sind unterschiedlich, und diese Unterschiede im kommunikativen Austausch zu nutzen, ist eine wichtige Quelle für Kreativität. Kreativität brauchen wir für alles, was den Menschen Probleme bereitet und worüber sie sich beschweren. Verhärtete Standpunkte, Argumentationsverweigerungen, faktenloses Behaupten, bequemes Nachplappern ohne Prüfung usw. tragen dazu bei, dass diese Quelle ungenutzt bleibt. Damit entstehen Gräben und Mauern in der gesellschaftlichen Landschaft, die Starrheit statt Beweglichkeit bewirken. Fixierte Problemstandpunkte kennen oft nur fixierte Lösungsideen, die so weit von der Wirklichkeit entfernt sind, dass ihre Umsetzung illusorisch erscheint. 

Die Rede, die aus dem Hören kommt

Wie oft und zu Recht gesagt wird, geht es um das Erlernen und Erweitern des Zuhörens. Das, was wir zu sagen haben, bezieht sich dann auf das Gehörte, und auf diese Weise entsteht ein Fließen der Kommunikation, in dem Neues wachsen kann, das über die Gesprächspartner hinaus von Bedeutung ist und damit einen Beitrag für ein verbessertes Zusammenleben darstellt. Wir brauchen uns also nur von der Überheblichkeit der Besserwisserei zu verabschieden, um das Potenzial gelungener Kommunikation freizulegen. Die Wahrheit gehört niemandem, wir können sie nur gemeinsam suchen, bruchstückhaft finden und weiterentwickeln.

Zum Weiterlesen:
Hat die Vernunft eine Zukunft?


Mittwoch, 23. Dezember 2020

Der Zweifel als Prüfstein für das Ego

guille pozzi - unsplash

Es gibt viele Fragen, auf die es keine eindeutig richtige oder falsche Antwort gibt. Dazu zählen auch die großen Fragen des Lebens, z.B. nach dem Sinn der eigenen Existenz oder der Welt im Ganzen. Es gibt zwar viele Antworten auf diese Fragen, aber es braucht den Zweifel zur kritischen Überprüfung von voreiligen Annahmen. Sonst verstricken wir uns in eine Form des Größenwahns. Denn jede Antwort auf Fragen nach dem Ganzen kommt aus einer Position, die wir nicht innehaben: Von einem Aussichtspunkt auf das Ganze, sei es auch nur unserer eigenen Existenz. Dieser Punkt ist ein Punkt und nicht mehr, willkürlich ausgewählt aus einer unendlichen Menge an Punkten, die unsere raum-zeitliche Existenz umfasst und von denen sie nur einen verschwindenden Bruchteil erfassen kann. Der Punkt, den wir jetzt gerade als Urteils- und Einsichtspunkt nehmen, ist im nächsten Moment schon wieder Geschichte, ein Schicksal, das jedem dieser Momente beschieden ist. Manchmal haben wir vielleicht den Eindruck, etwas Wesentliches und Bahnbrechendes verstanden und begriffen zu haben. Solche Durchbrüche können uns auch länger beschäftigen und sich immer wieder mal melden. Doch sind auch sie nur Elemente des Teilhabens an dem Ganzen, Staubkörnchen, die wir erhascht haben, mehr oder weniger zufällig.

Also inkludieren alle Aussagen über die großen Fragen eine Anmaßung, eine Überheblichkeit und Vermessenheit. Unser großspuriges Ego möchte seine Macht über das Ganze durch seine vorlauten Einsichten bestätigen. Im nächsten Moment schon wieder kann es auf die Nase fallen, indem sich der vorgefasste Sinn des Lebens an einer gerade auftauchenden Herausforderung mühselig abarbeitet. Ein Teller fällt runter und schon sind die Scherben das Zentrum des Universums und verkörpern ratlos seinen flüchtigen Sinn.

Was haben wir von unserem Leben, dessen Sinn wir ergründen wollen? Worauf wir uns stützen können, sind ein paar Erinnerungen, die recht willkürlich ab und zu in unser momentanes Erleben hineinplumpsen, und ein paar Ideen über unsere Zukunft, die ein Sammelsurium an illusionären Ängsten und Sehnsüchten darstellen. In der Mitte zwischen den Vergangenheitsreminiszenzen, die unser Gehirn einspeist, und den Zukunftsfantastereien befindet sich der gegenwärtige Moment, in dem sich alles abspielt, was wir zur Verfügung haben. 

Jeder dieser Momente hat zwei Seiten, eine unüberwindliche Begrenztheit und eine unbegreifbare Weite. Meist widmen wir uns unserer Begrenztheit und finden dort viele Quellen des Leidens: Wünsche erfüllen sich nicht, Erwartungen werden enttäuscht, Wunder treten nicht ein, was wir loswerden wollen, verabschiedet sich nicht, und was wir haben wollen, kriegen wir nicht.

Wenn es uns gelingt, die Weite im Moment wahrzunehmen, verschiebt sich das Leiden in den Hintergrund und macht der Freude Platz. Eigentlich ist es nie ein Gelingen, das uns auf diese Ebene führt, sondern die Besonderheit eines Moments, in dem innere und äußere Umstände auf besondere Art zusammenwirken, die plötzlich möglich machen, was wir vorher für nicht möglich gehalten haben. 

Der Zweifel ist das Gegengift gegen die Überheblichkeit unseres Egos. Er macht uns darauf aufmerksam, dass unsere hochfliegenden Gedanken und erhebenden Gefühle nicht das sind, wofür wir sie gerne halten. Wir haben nur Vorläufiges in Händen und glauben oft, Endgültiges zu besitzen. Sobald der Zweifel nicht von einer Angst angetrieben ist, sondern den bescheidenen Anteil unseres Geistes repräsentiert, wird er der wichtige Prüfstein für die Erfahrungen, die wir an der Schwelle zwischen Begrenztheit und Weite machen. Der rechte Zweifel, der Wächter über unser Ego, zieht sich allerdings zurück, wenn die Weite einfach da ist, in einem Moment der Stille oder der einfachen Liebe.

In diesem Sinn Frohe Weihnachten, den Gläubigen, den Zweiflern und den Ungläubigen, die wir in uns kennen und um uns herum treffen.

Zum Weiterlesen:
Vom Sinn und Unsinn des Zweifels
Der notorische Selbstzweifel


Montag, 21. Dezember 2020

Vom Sinn und Unsinn des Zweifelns

Ein Zweifel macht alles vielleichter.

Der Zweifel dient eigentlich der Unterscheidungskraft zwischen richtig und falsch. Der erste Augenschein, der uns von einem neuen Außeneindruck erreicht, kann überzeugend wirken, muss aber nicht stimmen. Unser Gehirn schätzt neue Situationen sofort ein und ordnet sie bestimmten Kategorien zu. So teilen wir Mitmenschen, denen wir erstmals begegnen, in Sekundenbruchteilen danach ein, ob sie gefährlich oder harmlos, sympathisch oder unsympathisch sind. Dieser erste Eindruck ist fehleranfällig, und im Zweifeln wird diese erste Einschätzung anhand von weiteren Erfahrungen überprüft.

Der Zweifel dient also zunächst als Warnsignal: Etwas könnte nicht stimmen, etwas könnte faul sein im Staate Dänemark. Es äußert sich ein Widerspruch gegen die inneren Annahmen, ein Widerstand gegen etwas, das zunächst für selbstverständlich genommen wurde. Damit startet ein Prozess der Neubewertung und Überprüfung.

Das notorische Zweifeln

Die Fähigkeit zum Zweifeln ist ein wichtiges Gegenmittel gegen die Naivität und die Impulsivität, die uns immer wieder in die Irre führen. Das Zweifeln kann aber zu einer störenden Gewohnheit werden, wenn es sich verselbständigt. Das Zweifeln wird notorisch, verbindet sich mit dem Grübeln, neigt zur Depression und wird, wenn ihm kein Einhalt geboten wird, irgendwann in einer Verzweiflung münden.

Zweifel entstehen unabhängig von der zur Verfügung stehenden Information: Sie können entstehen, wenn zu wenig Informationen vorhanden sind („Ich weiß nicht, was richtig ist, weil ich nicht genug darüber weiß”), aber auch wenn es ein Übermaß an Informationen gibt („Trotz all der Sachen, die ich darüber gelesen habe, weiß ich nicht, ob es wirklich stimmt.”) Das Ausmaß des Zweifelns hängt vor allem davon ab, wie ausgeprägt die Neigung zum Zweifeln ist, wie sehr also die kognitive Überprüfung der Wirklichkeitserfahrung für notwendig erachtet wird.

Notorische Zweifler sind Menschen, die in ihrer Kindheit gelernt haben, emotionale Unklarheiten, Verletzungen und Beschämungen mit dem Denken zu bewältigen. Innerlich stark verunsichert, haben sie ein feines Gespür für Unstimmigkeiten und Irritationen und können deshalb nur wenig für selbstverständlich halten. So kommt es, dass sie Neues, das auftaucht, zuerst nach allen Seiten abwägen und bewerten müssen, bis sie sich darauf einlassen können. Ihre Spontaneität ist durch die Notwendigkeit der kognitiven Prüfung unterbrochen. Sie bewältigen Unsicherheiten, indem sie möglichst alle Für und Wider der Phänomene untersuchen.

Sie sind getrieben von der Angst, etwas falsch zu bewerten oder zu machen. Lieber zweifeln sie lange und ausgiebig als dass sie möglicherweise einen Fehler oder eine Fehleinschätzung begehen. Hinter dem Zweifeln steckt also ein hoher Perfektionsanspruch an sich selbst (und auch die anderen, die vom Zweifler oft wegen ihrer Ansichten und Entscheidungen getadelt werden). 

Vom Zweifeln zum Zaudern 

Wir brauchen für die Orientierung in den Komplexitäten des Lebens ein gutes Maß an gesunder Skepsis. Diese kann allerdings ungesund werden, wenn sich das Zweifeln als Abwehr gegen jede Form der Veränderung aufspielt. Zweifel, der sich als Automatismus im Gehirn festsetzt, unterstützt die Unbeweglichkeit im Denken und führt leicht zu kognitiven Kreisprozessen: Soll ich, soll ich nicht. Nehme ich die Alternative A oder B? Selbst wenn die Blütenblätter beim Gänseblümchen gerupft werden und das letzte Blättchen die Entscheidung festlegt, kann der Zweifel bleiben, ob die Entscheidung richtig ist. 

Alltagsdinge sind relativ, ebenso unsere Einschätzung über sie. Was sich in einem Moment für richtig anfühlt, kann im nächsten falsch oder unpassend erscheinen. Deshalb ist das Denken in der Lage, an jeder Entscheidung Zweifel anmelden. Zweifeln wir jedoch alles und jedes an, gibt es nichts Selbstverständliches mehr und wir kommen vor lauter Fragen nicht mehr zum Tun. Wir verzweifeln an der Bedeutungskomplexität der Wirklichkeit. 

Das Zweifeln wird zum Zaudern, das nichts anderes ist als der Zweifel auf der Ebene des Handelns. Vor lauter unvollkommenen Möglichkeiten können wir keine sicheren Entscheidungen treffen und müssen zuwarten, bis sich mehr Sicherheit einstellt, vielleicht morgen, vielleicht übermorgen usw. Beim Zauderer dauert die Entscheidungsphase oft so lange, bis die Entscheidung nicht mehr relevant ist.

Das isolierende Denken

Der Zweifel spielt sich im Denken ab und macht uns auf eine Denkstruktur aufmerksam: Das Denken isoliert Details aus der Ganzheit der Wahrnehmung und verallgemeinert sie. Die Idee dabei ist, auf diese Weise Macht und Herrschaft über die Wirklichkeit ausüben zu können. Allerdings handelt es sich um eine Illusion, denn tatsächlich verstärkt und steigert das zweifelnde Denken die Unsicherheit. Denn isolierte Einzelheiten enthalten keinen Sinn und können deshalb nicht als Orientierungs- und Entscheidungshilfe dienen.

Das Denken trennt, was zusammengehört und im Fluss ist, es hackt gewissermaßen einzelne Elemente aus diesem Fluss heraus und bläst sie in ihrer Bedeutung auf. Alles, was durch das isolierende Denken alleine dasteht, erscheint als starr und unveränderbar. Der Zweifel springt gewissermaßen von einem abgesonderten und fixierten Detail zum nächsten und kann nirgends einen sicheren Grund finden. 

Damit entfernt sich das zweifelnde Denken von der Wirklichkeit, die sich beständig verändert und keine absoluten Bedeutungen kennt. Es spinnt sich in sich selbst ein und läuft einer Sicherheit nach, die es nicht finden kann. Denn diese gibt es nur im Einlassen und Vertrauen auf den beständigen Wandel, der die Wirklichkeit kennzeichnet.

Die Beruhigung des Zweifels

Der notorische Zweifel findet erst zur Beruhigung, wenn die Beziehung zur Realität über das Wahrnehmen und Handeln aufgenommen wird. Jede Wahrnehmung enthält eine Wahrheit, die zunächst zweifelsfrei gilt. Jede Handlung verändert die Realität auf unverwechselbare und zweifellose Weise. Es braucht ein Pendeln zwischen dem Denken und dem Realitätskontakt, damit das eigene Leben konstruktiv mit dem Leben als Ganzem interagieren kann. Der Zweifel bekommt seinen nützlichen brauchbaren Stellenwert, wenn die innere Sicherheit auf der Wirklichkeitserfahrung beruht und das Denken dafür nur einen Zulieferdienst erfüllt.

Die Realität ist voll von Risiken, die das Denken nur abschätzen, aber nicht verhindern kann. Zugleich verhilft jedes Risiko zu mehr Realität und Erfahrung und damit zu mehr Lebendigkeit. 

Zum Weiterlesen:
Vom Sinn und Unsinn des Zweifels

Der notorische Selbstzweifel



Sonntag, 13. Dezember 2020

Die Beschönigung von Gewalt in der Erziehung

 Aus der schicksalshaften Verknüpfung zwischen Eltern und Kindern stammt ein Satz, der häufig zu hören ist, wenn Erwachsene über schlimme Kindheitserfahrungen, z.B. körperliche Strafen, reden und sagen: „Es hat mir ja nicht geschadet.“ 

Im Alten Testament heißt es in dem berüchtigten Zitat: „Wer seiner Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn bald.“ Interessant dabei ist auch, dass es die Söhne sind, die die Liebe durch die Züchtigung spüren sollten – in die männlichen Nachkommen soll der Same der Gewalt eingepflanzt werden, indem sie der Wut der Älteren physisch ausgesetzt werden und später ihre Wut durch körperliche Gewalt zum Ausdruck bringen. Es geht also um einen Motor der patriarchalen Machtdynamik.

Die Wurzeln der Gewaltpädagogik liegen weit zurück in der Geschichte. Diese Mittel der Erziehung waren lange Zeit Standard und selbstverständliche Norm. Die körperliche Strafe („Wer nicht hören will, muss fühlen“, die „gesunde Watschn“) ist im Gefolge der Aufklärung in Verruf geraten und im Lauf der Zeit schrittweise aus den Strafrechtsbüchern in der westlichen Welt verbannt worden. Denn es wurde klar, dass die Grausamkeiten von Strafen die Täter nicht bessern und dazu nichts zur Verbrechensprävention beitragen, sondern das Ausmaß an Brutalität in einer Gesellschaft nur zusätzlich erhöhen. 

Auch in der Kindererziehung wurde vor allem in der Zeit nach dem Nationalsozialismus und dem 2. Weltkrieg die Körperstrafe zunehmend verpönt und schließlich unter Strafe gestellt. Der Begriff der Kindesmisshandlung wurde auf sexuelle und emotionale Gewalthandlungen ausgeweitet, sodass klar ist, dass der Gesetzgeber jede Form von körperlicher Bestrafung bei Kindern unterbinden will. Im deutschen Grundgesetz gibt es das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung. 

Jede zugefügte körperliche Verletzung ist eine seelische Verletzung

Dennoch sind viele Menschen Opfer elterlicher Gewaltanwendung geworden und die „Rute“ ist noch lange nicht aus der Erziehung verschwunden. Wir sprechen hier nur von körperlicher Gewalt, also von physischen Verletzungen, die Kindern mit dem vermeintlichen Ziel der Erziehung zugefügt wurden. 

Jede physische, mit aggressiver Einstellung begleitete Verletzung ist zugleich eine seelische Verletzung. Kinder, die sich der überlegenen Kraft und Macht ihrer Eltern beugen müssen, erleiden eine Demütigung: Wer groß ist, hat die Macht, wer klein ist, muss sich fügen. Die einzige Chance, die Eigenmacht zu erwerben, besteht darin, groß und stark zu werden, um sich dann nie wieder verletzen lassen zu müssen. Im Extremfall auch dadurch, andere zu demütigen.

Der zugefügte Schmerz ist ein doppelter: Körperlich und seelisch. Der körperliche Schmerz vergeht, der seelische Schmerz bleibt. Wenn es keine Entschuldigung und kein Verständnis für den emotionalen Schmerz gibt, muss die Erfahrung verdrängt werden. Zumindest der seelische Schaden, der angerichtet wurde, verschwindet im Unterbewusstsein. Das Kind muss dann mit der Erfahrung leben, dass es missachtet und missbraucht wurde, aber mit dem Schmerz alleine bleiben muss oder dass es sogar für den Ausdruck des Schmerzes und Leids beschämt wird.

Eltern sind unvollkommen und fehlerhaft. Manchmal „rutscht einem die Hand aus“, wie es oft nachträglich verharmlosend gerechtfertigt wird. Das geschieht vor allem, wenn es Gewaltübergriffe in der eigenen Kindheit gegeben hat, die in einer Stresssituation durchschlagen. 

Gewalterfahrungen können passieren und sie sollten möglichst unmittelbar danach besprochen und entschuldigt werden. Es handelt sich um Überreaktionen, für die die Eltern die Verantwortung tragen. Es hilft nichts, wenn dem Kind gesagt wird: „Ich habe dir eine Ohrfeige gegeben, weil du dich daneben benommen hast.“ Wenn also dem Kind die Verantwortung als Auslöser des Übergriffs angelastet wird, geschieht keine Versöhnung, sondern eine Vertiefung der Wunde. Die Eltern müssen ihre Schuld, die aus ihrer Unbewusstheit stammt, eingestehen und dafür die Verantwortung tragen. Wenn das Kind dabei spüren kann, dass es trotz dem, was es gemacht hat, und trotz der Strafe geliebt wird, kommt es in Frieden mit der Erfahrung.

Die Rolle der Scham

Eine wichtige Komponente der Verletzung ist die Scham. Jede Bestrafung beschämt, weil sie auf ein sozialwidriges Handeln hinweist. Dazu kommt die Scham durch das Bestraftwerden, das im schlimmen Fall mit einer Bloßstellung und Demütigung verbunden ist. Und schließlich ist es beschämend, mit dem eigenen Schmerz und der Verletztheit alleine gelassen und ignoriert zu werden. 

Eine Kaskade der Scham entspinnt sich um jede körperliche Bestrafung. So ist es dieses vielschichte Gefühl, das schließlich die Überzeugung produziert, dass die Strafe keinen Schaden angerichtet habe. Das Verhalten der Eltern wird gerechtfertigt, oft auch noch mit dem Hinweis, dass ja jetzt die Beziehung zu den Eltern gut sei. Die Scham muss im Verborgenen bleiben – die Scham für die Bestrafung, aber auch die Scham, Eltern zu haben, die sich nicht anders zu helfen wissen als zuzuschlagen oder an den Ohren zu ziehen, wenn das Kind „ungezogen“ ist. 

Das Bündnis des Verschweigens

Es ist ein Bündnis des Verschweigens, das das Kind und seine Eltern aneinander bindet, geschmiedet von der Scham. Das Kind vergisst den Schmerz, für den es kein Verständnis bekommen hat oder noch schlimmer, für den es zusätzlich beschämt wurde. Es muss diese Erfahrung überleben und weiterhin mit den Eltern gut auskommen. Also ist es besser, die emotionale Erinnerung, den Schmerz und die Scham zu tilgen. Die Erfahrung selbst, die als Schock irgendwo im Körper steckenbleibt, kann nicht vergessen werden. Aber der Kontext wird verändert, vom Bösen zum Guten, von der Scham zur Beschönigung. 

Die Reinwaschung der Eltern hat das Überleben nach dem Schock der Bestrafung ermöglicht. Das ist die Funktion des Satzes, „dass es nicht geschadet hat“: „Ich habe trotz der Erfahrung von Grausamkeit überlebt, ich habe es geschafft, die lebenswichtige Beziehung zu den Eltern wieder aufzurichten und weitergehen zu lassen, so, als ob nichts passiert wäre. Ich habe die Scham tief in mir begraben, sodass sie heute die Beziehung zu meinen Eltern nicht überschattet.“

Menschen mit solchen Erfahrungen und solchen Bewältigungsstrategien finden sich oft im Leben unerklärlich starken Wutimpulsen ausgesetzt. Sie können diese Impulse nicht steuern und schämen sich nachträglich dafür. Sie können nicht wissen, dass es die ohnmächtige Wut auf die bestrafenden und beschämenden Eltern ist, die sich da Bahn bricht. Diese Wut konnte als Kind nicht ausgelebt und ausgedrückt werden, weil die elterliche Übermacht zu groß war und die Angst vor weiterer Bestrafung dem Zorn einen Riegel vorschob. Jetzt, als Erwachsener, in der Position der Macht, erlaubt sich die Wut, für die seinerzeit erlittene Demütigung Rache zu nehmen.

Brüche in der Autonomie 

Die Entwicklung der Autonomie erleidet durch die gewaltsamen Unterbrechungen der Handlungsketten und des damit verbundenen emotionalen Schocks veritable Brüche. Sie muss gewissermaßen nachgeholt werden, indem die Wut aus der damaligen Situation ausgelebt werden muss. Doch weil es keine Erinnerung darüber gibt, was der Sinn und der ursprüngliche Ort der Wut ist, muss sie sich immer wieder austoben, in einem Wiederholungszwang, der sich erst beruhigen kann, wenn die ursprüngliche Erfahrung mit ihren Schmerzen und ihrer Scham anerkannt und durchlebt wird. Im Annehmen dieser Gefühle erst wird der unterbrochene Aufbau der Autonomie nachgeholt.

Der erwachsene autonome Mensch braucht keine gewalttätige Wut, um seinen Unmut auszudrücken oder seine Bedürfnisse und Interessen durchzusetzen. Die Mittel der gewaltfreien Kommunikation reichen dafür aus. Das heißt nicht, dass es keine Wutgefühle mehr geben sollte, sondern dass sie nicht destruktiv ausgelebt werden müssen. Sie werden gespürt, in angemessener Form ausgedrückt und überwunden. Der erwachsene autonome Mensch braucht auch keine Beschönigung von beschämenden Erfahrungen, sondern gibt ihnen den Platz in der eigenen Lebensgeschichte, der ihnen gebührt, mit allen schlimmen Aspekten und mit den dazugehörigen unbewussten und bewussten Lernerfahrungen.

Zum Weiterlesen:
Die Wurzeln der Gewalt
Kinder in der Täterrolle


Samstag, 12. Dezember 2020

Kinder in der Täterrolle

Eltern, die sich als Opfer der Existenz ihrer Kinder fühlen, wollen nicht sehen, dass sie die Täter sind. Sie sind freilich nicht Täter mit Tatbewusstsein in einem strafrechtlichen Sinn, vielmehr sind meist selber Opfer früher Abweisung und Abneigung. Sie sind auch keine bewussten Täter mit bösen Absichten, aber sie sind es, die die Geschichte in Gang gesetzt haben, in deren Verlauf das Kind empfangen und geboren wurde und deshalb sind sie auch dafür zuständig und verantwortlich, wie diese Geschichte weitergeht. Sie sind, ob sie es bewusst oder unbewusst bejahen oder verneinen, die alleinigen Verantwortungsträger in Bezug auf das Kind. 

Sie haben also das kleine Wesen in die Welt gesetzt, wohl wissend um die Konsequenzen im Allgemeinen und im Besonderen, aber natürlich nicht im Detail. Es ist unbestrittenermaßen keine leichte Aufgabe, Kinder großzuziehen, aber Millionen von Generationen haben das unter den unterschiedlichsten Bedingungen geschafft. Auch wenn es immer wieder Phasen der Verzweiflung und der Überforderung in diesem Prozess gibt, gehört es zur Verantwortung des Elternseins, diese Gefühle tunlichst von den Kindern fernzuhalten und sie nicht auf sie damit zu belasten. Denn sonst kommt es zur Verantwortungsumkehr, die schwere Folgen für das Kind zeitigt. 

Schicksalsgemeinschaft

Wo sich jemand als Opfer fühlt, braucht es einen Täter, und dazu werden in diesen Fällen offensichtlich die Kinder gestempelt, indem sie mit der Verantwortung für die Zufriedenheit und das Lebensglück ihrer Eltern überlastet, überladen und überfordert werden. Die materielle oder emotionale Überforderung der Eltern wird durch die Schuld- und Schamüberforderung der Kinder erweitert, so als dürfte und sollte es den Kindern nicht besser ergehen als den Eltern. Scheinbar entlastet es den klagenden, vorwurfsvollen oder jammernden Elternteil, wenn er das Kind für das eigene Unglück verantwortlich macht. Sich der Verantwortung zu entledigen, erleichtert kurzfristig und verhilft zu Ausreden und zum Ausweichen.

Tatsächlich aber verstärkt die Verantwortungsabgabe das Leid, weil die Last, die dem Kind aufgebürdet wird, hinfort auch das Leben der Eltern überschattet. Denn die Identifikation der Eltern mit dem Kind und seinem Schicksal wird durch die Akte der Verantwortungsübertragung nicht verringert, sondern im Gegenteil tief einzementiert. Es wird eine Schicksalsgemeinschaft geschmiedet, der sich sowohl die Eltern als auch das Kind nur unter größten Mühen entwinden können. 

Erst wenn die Eltern die Verantwortung für ihr eigenes Leben und für ihr Elternsein zur Gänze zu sich zurücknehmen, kann sich diese Verknotung lösen und das Kind zur eigenen Freiheit und zur vollen Kraft gelangen, Ressourcen, die ihm hinfort zur Gestaltung seines Lebens zur Verfügung stehen. Denn die Verantwortung für die emotionale und materielle Versorgung des Kindes liegt immer bei den Eltern, ob sie sie tragen oder ob sie versuchen, sie abzuschütteln und den Kindern umzuhängen. Es geht nicht ohne Gewissensbisse, die vielleicht tief im Inneren nagen, wenn diese Verantwortung abgelehnt und abgelegt wird.

Täter-Opfer-Verwechslung

Kinder mit solchen verdrehten und ungelösten Schuld- und Schambelastungen sind später empfänglich für die Verwechslung von Tätern und Opfern, die im gesellschaftlichen und politischen Diskurs eine wichtige Rolle spielt. Sie wissen nicht, wo der richtige Ort für Schuld und Scham ist. Statt dessen sind sie daran gewöhnt, dass die Verantwortung immer wieder konsequent verschoben wird, bis sie zur Unkenntlichkeit verschwunden scheint, wie die Gelder der Korrupten, die von einer obskuren Bank zur nächsten wandern, bis alle Spuren verwischt sind und nur mehr „gewaschenes“ Geld übrig bleibt. Das Äquivalent dazu ist die selbstgefällige und schamlose Zurschaustellung der Reingewaschenen, die sich zynisch ihrer erbeuteten Reichtümer erfreuen und sie verkonsumieren.

Dass solche Machenschaften immer wieder möglich sind und oft erst viel zu spät aufgedeckt werden, liegt wohl darin, dass bei vielen der Sinn für die richtige Weise der Verantwortungsübernahme infolge von verstörenden Täter-Opfer-Rochaden in der Kindheit abhandengekommen ist. Darin liegt auch ein Grund für die seltsame Attraktivität solcher Machtperversionen, weil das Unbewusste Ähnlichkeiten mit dem eigenen Schicksal entdeckt. Im Bewundern der Unverschämten versucht sich die eigene Scham zu erleichtern. Die frühen Erfahrungen des Abstreitens der Verantwortung finden ihre Rechtfertigung durch die Öffentlichkeit einer Täter-Opfer-Verdrehung.

Vom Opfer zum Täter

Was bleibt Kindern, die zu Tätern erklärt werden, viel anderes übrig, als später echte Täter zu werden, im familialen, gesellschaftlichen oder politischen Bereich? Sie werden zu Tätern, die nicht merken oder so tun, als würden sie nicht merken, was sie anrichten, sondern virtuos auf einen Opferstatus ausweichen, sobald ihre Täterschaft ans Tageslicht kommt. Sie finden schnell jemanden, auf den sie die Verantwortung abschieben können, und schon sind sie wieder in der Rolle des Opfers, das bemitleidet werden möchte.

Die Alternative liegt darin, die Opferrolle zu kultivieren, mit beständig nagendem schlechten Gewissen und eingeprägter Schamhaltung. Menschen mit dieser Variante üben die Täterschaft nur indirekt aus, vor allem durch Manipulation, Fehleranfälligkeit und Zur-Last-Fallen. Sie versuchen, anderen ein schlechtes Gewissen zu machen, um den eigenen Mangel und die Selbstzweifel auszugleichen. Sie wollen nach Mitleid heischen und bewundern oft Täter wegen ihrer Unverfrorenheit.

Wunden in der Seele

Verantwortungszuschreibungen und Übertragungen von Täterrollen, wie sie Eltern unbewusst und unbedacht auf ihre Kinder überwälzen, erzeugen Risse im Selbstwert und Wunden in der Seele, die später ihren Ausgleich in sozial destruktiven oder selbstschädigenden Handlungen und Einstellungen finden, solange diese Dynamiken unbewusst wirken. Die Weitergabe der Schuld- und Schambelastungen von Generation zu Generation kann nur verhindert werden, wenn die Verantwortung dorthin zurückgegeben wird, wo sie hingehört, und die eigene Verantwortung übernommen wird, so wie sie angemessen ist. 

Zum Weiterlesen:
Die Seelen- und die Planentenzerstörung
Anklagen gegen das Kind und die Folgen



Freitag, 11. Dezember 2020

Die Seelen- und die Planetenzerstörung

 Geben und Nehmen als Geschäft

Kinder, denen von ihren Eltern im Lauf ihres Aufwachsens ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Existenz eingepflanzt wird, wie im vorigen Blogartikel beschrieben, lernen, dass ihr Leben nur einen bedingten Wert hat. Damit können sie dieses ihr Leben nicht zur Gänze annehmen und leben. Eine Folge von dieser Beschneidung ist die Einprägung der Auffassung, dass jede Form des Gebens an Bedingungen geknüpft ist. Jeder, der gibt, hat eine offene oder versteckte Rechnung, die im Geben inkludiert ist. Deshalb gehört zu jedem Bekommen ein Scham- und Schuldgefühl als Quittung. Es kann sich kein Gefühl von einem freien Fluss des Gebens und Nehmens bilden, sondern es gibt nur bedingte Abläufe, die nach oft unbekannten oder vermuteten Wertmaßstäben gemessen werden, die immer einen Bezug zum eigenen Gewinn oder Verlust haben.

Die Interaktionen mit anderen Menschen bekommen auf dieser emotionalen Grundlage den Charakter von Geschäften, bei denen darauf geachtet werden muss, nicht zu übervorteilen und nicht übervorteilt zu werden. Das ist die Einstimmung auf die gewinnorientierte kapitalistische Marktwirtschaft, durch solche Erziehungsformen in den Seelen verankert wird. Es wird dadurch auch deutlich, dass es keinen Kapitalismus ohne Scham- und Schuldprägungen gibt!

Deshalb sollten wir uns nicht wundern, dass dieses System daran ist, den Planeten Erde zu zerstören. Es hat ja kein Gewissen, und alle seine Akteure, soweit sie in ihrer Kindheit von den Mechanismen der bedingten Liebe infiziert wurden, haben nur ein schlechtes Gewissen, das sie zu hilflosen Akteuren in der wirtschaftlichen Dynamik werden lässt. Die Zwänge zum maximalen Leisten und Konsumieren sind die Kompensationsversuche gegen den inneren Druck, die Berechtigung der eigenen Existenz fortwährend unter Beweis stellen zu müssen. Nur wenn die eigene Arbeitsleistung eingebracht wird und als Ausgleich dafür genug konsumiert wird, darf sich das Gefühl einstellen, doch als Wesen und als Person auf dieser Welt willkommen und gewollt zu sein. 

Innere und äußere Zerstörung

Die Zerstörung der Erde, die durch das Zusammenwirken der individuellen Leistungszwänge vollzogen wird, spiegelt die innere Zerstörung wieder, die durch die Infragestellung der eigenen Existenz durch die eigenen Eltern in der Seele angerichtet wird. Eine Folge davon ist die Blindheit, mit der die kollektiven Lebensgrundlagen beschädigt und ausgebeutet werden. In den Seelen ist implantiert, dass die Lebensinfragestellung ein wichtiger Teilaspekt der Liebe ist und deshalb jede Form der Zerstörung ihre Berechtigung hat.

Die Heilung der Seelen von den Verletzungen, die ihnen angetan wurden, ermöglicht erst den Kontakt zu einer Haltung von Respekt und Ehrfurcht vor den unermesslichen Reichtümern und Schönheiten, die die Natur und das Leben auf unserem Heimatplaneten erschaffen haben. Erst wenn die eigenen Schönheiten und inneren Reichtümer in den Seelen erschlossen sind, wird der Weg für die Menschen frei und leicht zugänglich, der zur Rettung der Erde und zur Überlebenssicherung der Menschheit zu begehen ist. Das Zerstörerische, das uns in unserer frühen Geschichte angetan wurde, wird solange unbewusst der Natur und der Gesellschaft angetan, bis es ins Bewusstsein kommt und dort geheilt wird.

Die Änderungen unserer Lebensweise, die unweigerlich kommen wird, wenn die Erderwärmung und die anderen zerstörerischen Dynamiken eingedämmt und zurückgefahren werden soll, unterstützen und tragen wir mit unseren Kräften, wenn wir die Wunden in unserem Inneren geheilt haben. Wir befreien uns auf dem Weg nach innen von den Schuld- und Schamprägungen, die uns blind und taub werden ließen für die Leiden der Menschheit und der Natur. Wir gewinnen unsere Verantwortung und Mitverantwortung zurück und können unsere Energien bündeln, um jeder zerstörerischen Dynamik entgegenzusteuern und auf die konstruktiven und kreativen Kräfte fokussieren.

Zum Weiterlesen:
Anklagen gegen das Kind und die Folgen
Kinder in der Täterrolle


Sonntag, 6. Dezember 2020

Anklagen gegen das Kind und die Folgen

Eine klassische Methode der schwarzen Pädagogik besteht in folgenden Anklagen einer Elternperson gegen das Kind: „Du machst mir solche Sorgen (…Ängste, Wutgefühle), du bereitest mir solche Schmerzen und machst mich so traurig, verzweifelt, hilf- und ratlos.“ Oder: „Für dich muss ich mich so schämen.“ Die Du-Botschaft weist dem Kind etwas Schlimmes zu, das es dem Elternteil antut. Das Kind hat sich nicht durch eine falsche Handlung schuldig gemacht, sondern dadurch, dass es existiert. 

Die Eltern haben die Deutungsmacht, und deshalb müssen die Kinder bei einem derartigen Vorwurf annehmen, dass an ihnen etwas Grundlegendes falsch und makelhaft ist. In der Reaktion darauf werden sie vielen Gefühlen ausgesetzt sein: Angst, Verwirrung, Hilflosigkeit, Verzweiflung, und unweigerlich ist eine tiefe Scham mit dabei. 

Verdrehung und Verwechslung

Solche Sätze drehen die Beziehung zwischen Eltern und Kind um. Dem Kind wird die Verantwortung für die Gefühle der Elternperson aufgebürdet, so, als wäre es zuständig für deren Lebensglück. Das Kind kommt in eine Täterrolle, ohne zu wissen wie, und steht seinem Opfer, dem anklagend-klagenden Elternteil, ohnmächtig gegenüber. 

Eine massive Last, stets für das Wohlbefinden der Eltern sorgen zu müssen, wird auf seine Schultern geladen, bleibt dort oft ein Leben lang und manifestiert sich irgendwann später als unerklärliche Schulter- und Nackenschmerzen oder in anderer Form einer körperlich-seelischen Krankheit. Im Inneren des Erwachsengewordenen schwelt ein lebenslanges schlechtes Gewissen, zu wenig für die Eltern da zu sein und so viel schuldig zu bleiben. Die eingetrichterte Botschaft verhindert die Abnabelung und befestigt eine dauerhafte Abhängigkeit mit einer Verantwortung, die nie abgetragen werden kann. Das eigene Lebensglück muss dem der Eltern untergeordnet bleiben, sonst wird man es nie schaffen, ein guter Mensch zu werden, so lautet der selbstzerstörerische Glaubenssatz.

Wie kommen Eltern auf die Idee, ihren Kindern derartige Lasten aufzuerlegen? Das Kinderkriegen und -großziehen ist eine Belastung, es ist nicht immer ein Honiglecken und enthält neben vielen erfüllenden Momenten schwere Phasen und Zeiten. Das ist seit alters her bekannt. Dennoch bekommen Eltern Kinder „wider besseres Wissen“, weil sie bereit sind, die Herausforderungen auf sich zu nehmen und mit der Freude ausgleichen, die Kinder durch ihr bloßes Dasein schenken. 

Wenn aber Eltern aber diese „Rechnung“ als nicht ausgeglichen wahrnehmen, sondern sich ausgebeutet oder ausgenutzt vorkommen, ist es wahrscheinlich, dass sie offene Rechnungen aus der eigenen Kindrolle ins Elternsein übernommen haben. Die Folge sind Verwerfungen und Verkehrungen in der Eltern-Kind-Beziehung. Nicht die Eltern sollen für das Glück der Kinder Sorge tragen, bis es sich selbst darum kümmern kann, sondern umgekehrt sollen die Kleinen für die Großen und deren Leben verantwortlich sein. Sie sollen ausgleichen, was den Eltern deren Eltern schuldig blieben. Wenn sie das nicht in ausreichendem Maß machen, müssen sie dafür kritisiert und beschämt werden; in jedem Fall muss ihnen ein schlechtes Gewissen eingeimpft werden.

Die Abgabe der Verantwortung für das eigene Schicksal, zu dem das Kinderkriegen gehört, an die Kinder ist eine Form des emotionalen Missbrauchs. Die abhängige Position der Kinder wird ausgenutzt, um sie für die offenen Bedürfnisse, die aus der eigenen mangelhaften Kindheit resultieren, in die Pflicht zu nehmen. Damit wird die Abhängigkeit zementiert und dem Erwachsenwerden ein mächtiges Hindernis in den Weg gestellt.

Eine unangemessene emotionale Macht

Die Kinder erhalten eine emotionale Macht zugeteilt, die sie nie und nimmer tragen können. „Du machst mir solche Sorgen“ statt: „Ich mache mir solche Sorgen“ bedeutet, dass das Kind die Macht hat, das Leben ihrer Mutter oder ihres Vaters einzunehmen und zu belasten. Es bekommt eine riesengroße Bedeutung für deren Leben, die ihm nicht zusteht und der es auch nicht gerecht werden kann. 

Die Folge ist ein zugleich aufgeblähtes und gebrochenes Ego, eine überdimensionale Selbstüberschätzung beim Kind, gepaart mit dem Bewusstsein der eigenen Unfähigkeit und Unzulänglichkeit, dieser Forderung jemals zu entsprechen. Denn die elterliche Botschaft lautet, dass an ihm etwas grundsätzlich Fehlerhaftes ist, das Sorgen oder andere belastende Gefühle erzeugt. 

Schambeladene Doppelbotschaft

Die Folge ist die Scham für das eigene Dasein, für das eigene Sosein, und in diese Scham sind die entsprechenden Sorgen mit eingeschlossen: „Ich sollte ganz anders sein und dafür sorgen, dass sich die Eltern nie wieder um mich sorgen müssen. Dafür, dass ich diese Sorgen bereite, muss ich mich schämen. Aber woher soll ich diese Fähigkeit nehmen, so mangelhaft, wie ich bin? Auch dafür muss ich mich schämen.“

Die Doppelbotschaft, die den Kleinen einerseits eine unermessliche Macht zuspricht und sie andererseits aberkennt, wirkt auf sie lähmend, schwächend, verwirrend. Das Kind, das diese doppelte Last aufgeladen bekommt, verliert die Orientierung für die Richtung, in die seine Liebe fließen soll, sodass sie auch nach innen nicht mehr stärken kann und irgendwo im Pendeln zwischen Innen und Außen hoffnungslos versiegt. Es bleibt in seiner Hilflosigkeit in der Rolle des Kindes, ohne je zu erfahren, wie das Erwachsensein gelebt werden könnte.

Eltern, die die Wunden ihrer Kindheit nicht integriert haben, bleiben innerlich verletzte Kinder und tun sich deshalb schwer, ihre Kinder erwachsen werden zu lassen. Sie wissen nicht, was das bedeutet und wie es bewerkstelligt werden könnte. Erwachsensein heißt, die Verantwortung für das eigene Leben voll und ganz zu tragen. Dazu gehört, sich am Erwachsenwerden und Erwachsensein der Kinder zu erfreuen, das aus dem bedingungslosen, von Liebe getragenen Geben der Eltern gewachsen ist.

Zum Weiterlesen:
Die Seelen- und die Planetenzerstörung
Kinder in der Täterrolle