Dienstag, 31. Oktober 2023

Über die Notwendigkeit und die Grenzen der Parteinahme

Wie im letzten Blogartikel beschrieben, sollte in einem Konfliktfall die Parteilichkeit mit den Opfern die oberste Leitlinie sein. Es gibt Konflikte, in denen die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern eindeutig ist, z.B. zwischen Eltern und kleinen Kindern, und solche, in denen die Rollen von vornherein uneindeutig verteilt sind und von Situation zu Situation unterschieden werden muss, was gerade gilt, z.B. zwischen Geschwistern.  Wenn in einer patriarchalen Struktur Konflikte zwischen Männern und Frauen ausbrechen, sind die Männer die Täter, weil sie durch die Struktur eine mächtigere Position innehaben, und die Frauen Opfer. Wo sich die patriarchalen Rollen auflösen, verschwimmen die Grenzen zwischen Opfern und Tätern, die Rollen werden austauschbar.

Übertragen auf Konflikte in Organisationen: Bei hierarchischen Strukturen sind die Täter in der Regel oben auf der Ordnungsleiter und die Opfer befinden sich weiter unten. Bei Konflikten zwischen Mitarbeitern auf der gleichen Hierarchieebene gibt es wiederum keine klare Unterscheidung. Bei zwischenstaatlichen Konflikten ist der Staat, der einen anderen angreift, der Täter. Beispiele für solche zwischenstaatliche Angriffskriege sind: Der Angriff Österreich-Ungarns auf Serbien 1914, der Angriff Hitler-Deutschlands auf Polen 1939 und auf die Sowjetunion 1941, der Angriff der USA auf den Irak 2003 und der Angriff Russlands auf die Ukraine 2022.

Bürgerkriege in einem Staat sind meist weniger eindeutig, während Aufstände und Befreiungskonflikte klare Machtverteilungen aufweisen: Es wehren sich die Opfer von Unterdrückung gegen die vorherrschende Macht.

Es gilt also die Regel: Wo die Macht ungleich verteilt ist, werden im Konfliktfall diejenigen mit mehr Macht zu den Tätern und diejenigen mit weniger zu den Opfern. In solchen Fällen ist die Parteinahme mit den Opfern angebracht und wichtig, um ungerechte Strukturen in gerechtere überzuführen.

Jede Parteinahme in einem Konflikt fördert das Gewaltpotenzial, wie im letzten Blogbeitrag argumentiert wurde. Wenn die Lage eindeutig ist, wenn also klar ist, wer der Täter und wer das Opfer ist, gilt die Parteilichkeit den Opfern und steigert damit das Gewaltpotenzial, aber auf der Seite der Schwächeren. Die Gewalt, die durch die Parteinahme mobilisiert wird, kommt den Opfern zugute. Als die Schwächeren brauchen sie Unterstützung und Beistand. Die Täter, die Gewalt ausüben, müssen durch Gegengewalt in die Schranken gewiesen werden; freiwillig werden sie ihre Machtpositionen nicht hergeben. Die Parteinahme zielt auf einen Ausgleich der Kräfte und auf die Verringerung ungleicher Machtverhältnisse, die immer zur Benachteiligung der Schwächeren führt. Gerechtere Formen der Machtverteilung sind zugleich menschlicher, weil sie dem menschlichen Bedürfnis nach Fairness entsprechen und einer größeren Zahl von Menschen mehr Möglichkeiten verschaffen.

Der Nahostkonflikt und die Parteilichkeit

Der schwere Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern liefert ein Beispiel für die Austauschbarkeit der Rollen. In der langen, mindestens hundert Jahre dauernden Konfliktgeschichte sind beide Seiten unzählige Male zu Opfern und Tätern geworden. Gewaltakte folgen auf Gewaltakte, und es gibt keinen Maßstab, nach dem eine Eindeutigkeit in der Rollenverteilung gefunden werden könnte. Es ist nicht auszumachen, wer gut und wer böse ist,  und deshalb ist jede Parteilichkeit willkürlich und anmaßend und pumpt mehr Gewalt in eine Seite des Konflikts. In der jüngsten Entwicklung ist die palästinensische Hamas zunächst zum Täter geworden, und die Parteinahme gilt den Opfer dieser Aggressionen. In der Logik dieses Konflikts haben sich dann die Rollen vertauscht, und die Palästinenser wurden zu den Opfern der israelischen Aggressionen, die Anteilnahme und Unterstützung verdienen.

Viele Solidarisierungen mit einer Konfliktpartei sind von tiefgehenden und oft unbewussten historischen und psychologischen Wurzeln gesteuert. In den Konflikt untrennbar hineinverwoben ist aus europäischer Sicht die unheilvolle Geschichte des Antisemitismus bis zum Holocaust. Die systematische ideologische Judenfeindschaft ist eine Erfindung Europas, zunächst als religiöser Antisemitismus im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, und ab dem 19. Jahrhundert der rassische Antisemitismus, der den Juden rassische Merkmale andichtete, die sie zu bösen Menschen machten.

Ausgrenzungen und Abwertungen von Teilen der eigenen Gesellschaft lösen immer starke Scham- und Schuldgefühle aus, erst recht, wenn sie zu gewaltsamen Ausbrüchen bis zur physischen Vernichtung führen. In den Träger- und Täterländern der nationalsozialistischen Judenvernichtung, Deutschland und Österreich, besteht deshalb eine massive Scham- und Schuldbelastung, die mehr oder weniger erfolgreich in den letzten Jahrzehnten aufgearbeitet wurde, aber immer noch einen unparteilichen Blick auf die Konfliktlage erschwert. Für die Geschichte Österreichs ist es übrigens bezeichnend, dass einzig der Jude Bruno Kreisky als Bundeskanzler in den siebziger Jahren eine diplomatische Brücke zu den Palästinensern schlagen konnte. Von dort aus öffnete sich in weiterer Folge der Weg zu den hoffnungsvollen Projekten für eine Zwei-Staaten-Lösung in Palästina zwanzig Jahre später, denen aber leider kein Erfolg beschieden war.

Gibt es Aussichten?

Was ist die Perspektive? Erst wenn die Parteilichkeit mit den Opfern globale Ausmaße annimmt, die überwiegenden Mehrheiten in den Konfliktgebieten bildet und die Parteilichkeiten für eine der Konfliktseiten übertrifft und in den Schatten stellt, besteht die Hoffnung, die Konfliktparteien zu einem Einlenken zu bringen. Es ist die überwältigende Macht der Menschlichkeit, die es verbietet, dass es in irgendeiner Form zu Menschenrechtsverletzungen und Opfern an Leib und Gesundheit kommt. Sie muss jede Form der Gewaltanwendung wirksam und nachhaltig unterbinden. Es sind die Kräfte des Friedens, die über die Parteinahme mit den Opfern die Fahne der Menschlichkeit so lange hochhalten, bis genügend Menschen verstanden haben, dass es sinnlos ist, weitere Menschenleben zu opfern und dass der Konflikt so beigelegt wird, dass beide Seiten einen Gewinn daraus ziehen.

Zum Weiterlesen:
Parteilichkeit verstärkt die Gewalt

Freitag, 20. Oktober 2023

Parteilichkeit verstärkt die Gewalt

Der aktuelle Nahostkonflikt berührt und verunsichert viele Menschen und bringt viele Fragen in den Vordergrund, die eigentlich schon lange unbeantwortet sind, aber immer wieder in den Hintergrund treten und schnell in Vergessenheit geraten. Bevor ich auf die Frage der Parteilichkeit angesichts der gegenwärtigen Situation eingehe, versuche ich darzustellen, worin die Grundregeln im menschlichen Zusammensein bei Gewaltereignissen bestehen. Unter Grundregeln verstehe ich Übereinkünfte, die für das Weiterbestehen der Gruppe oder Gemeinschaft notwendig sind, wenn es zu Regelüberschreitungen durch Gewalt geht. Diese Regeln bestehen seit Urzeiten und gelten für alle Formen von menschlichen Sozialformen. Sie hängen mit der sozialen Verfasstheit des menschlichen Seins zusammen.

Grundregeln im Umgang mit Gewalt

Wenn Mitglieder einer Gruppe Gewalttaten begehen, reagieren die anderen mit Entsetzen und Betroffenheit. Sie fühlen mit den Opfern mit und unterstützen sie. Sie verurteilen die Taten und fordern Konsequenzen für die Täter, denn Verbrechen sollen nicht ungesühnt bleiben. Die menschliche Gemeinschaft muss auch nach Akten der Barbarei weiterbestehen, und das geht nur, wenn die Taten verurteilt und die Täter bestraft werden. Die Opfer verdienen Solidarität, Trost und Wiedergutmachung. 

Bei jeder Bestrafung muss klar zwischen der Person des Täters und der Tat unterschieden werden. Es darf kein Täter entmenschlicht werden, auch wenn seine Tat unmenschlich war. Denn eine Gemeinschaft, die einem ihrer Mitglieder das Menschsein abspricht, wird selber unmenschlich. Entmenschlichung erzeugt Verunsicherung und Angst bei allen Mitgliedern, und das soziale Zusammengehörigkeitsgefühl wird brüchig. Die Zugehörigkeit muss bedingungslos garantiert bleiben, selbst wenn jemand grob gegen alle Regeln verstößt. Sonst drohen der Gemeinschaft Zerfall und Anarchie. Gemeinschaftliche Gewalt ist nur zur Eindämmung von individueller Gewalt erlaubt. Z.B. darf die Polizei nur dann Gewalt ausüben, um Gewalttaten zu verhindern oder zu beenden. Eine willkürliche Gewaltausübung durch Organe der Gemeinschaft ist noch schlimmer als individuelle Gewalttaten, denn die Folgen sind Angst und Gegengewalt und die Destabilisierung der Gemeinschaft. Gewalt, die eine Gemeinschaft gegen ihre Mitglieder anwendet, muss regelkonform bleiben, sonst dient sie der Unterdrückung.

Parteilichkeit mit den Opfern

Soweit ein paar Überlegungen zum generellen Umgang mit Gewalt und ein Versuch, die Bedingungen zu beschreiben, wie menschliche Gemeinschaften mit Gewalt umgehen können, ohne die Grundlagen ihrer Gemeinschaft zu untergraben. Die aktuelle Gewalteskalation zwischen Palästinensern und Israel enthält natürlich vielfältige und komplexe Komponenten aus der Geschichte und aus den internationalen Zusammenhängen, die hier nicht erörtert werden. Ich möchte darauf eingehen, wie wir als unbeteiligt Beteiligte mit der emotionalen Belastung umgehen können, die mit jeder Gewaltausübung, die in der Menschenfamilie auftaucht, verbunden ist. Wir sind nach dem persischen Dichter Saadi Shirazi wie ein Körper, in dem jedes Glied den Schmerz spürt, wenn ein anderes Glied leidet.

Die nobelste Haltung, die wir entsprechend dieser Einsicht einnehmen können, besteht im Mitgefühl mit jedem Leid, das durch die Gewalt entsteht, ohne jeden Unterschied und ohne jede Bewertung. Die Parteilichkeit gilt den Opfern, auf welcher Seite sie auch entstehen. Zu dieser Haltung gehört die Forderung nach ausgleichender Gerechtigkeit, die die Ahndung der Gewalttaten und die Wiedergutmachung für die Gewaltopfer beinhaltet. Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden, und damit setzt die Menschengemeinschaft ein klares Signal, dass Gewalt nicht geduldet wird, sondern dass andere, gewaltfreie Formen der Konfliktbewältigung gesucht werden müssen.

Das Freund-Feind-Schema

In Konfliktfällen, bei denen wir nicht unmittelbar beteiligt sind, gibt es immer die Versuchung, eine Seite sympathischer oder rechtschaffener zu empfinden als die andere, woraus sich der Impuls ergibt, für diese Seite Partei zu ergreifen. Wer sich in einem Konflikt auf eine Seite schlägt, sollte sich allerdings bewusst sein, dass er oder sie mit diesem Schritt eine friedliche Lösung des Konflikts behindert und erschwert. Denn durch die Parteinahme wird die eigene Gewalttendenz verstärkt. Sie besteht darin, dass eine Seite als Freund und die andere als Feind gesehen wird. Der Freund ist der Gute, der Feind der Böse. Jemanden als Feind zu sehen, rechtfertigt Aggressionen, denn das Böse muss bekämpft werden. Die Gewaltbereitschaft im Inneren wird auf diese Weise genährt und gerechtfertigt. Anhänger einer Seite fordern Aggressionen und Zerstörungen, die der anderen Seite zugefügt werden sollten, und sind zufrieden, wenn diese erfolgen. 

Das verinnerlichte Feindbild billigt und unterstützt das stellvertretende Ausüben von Rache, nach dem Motto: Recht so, den Feinden muss Leid zugefügt werden, sie sind so böse. Gewalt muss mit Gewalt beantwortet werden. Was die Bösen angerichtet haben, muss solche Konsequenzen haben, dass sie niemals wieder auf die Idee kommen, Böses zu tun. Der nächste Schritt wäre, aktiv auf einer Seite mitzuwirken und so die eigene Gewaltbereitschaft mit dem Gefühl der Rechtschaffenheit ausleben zu können.

Das Freund-Feind-Denken entwirft eine binäre Struktur. Jedes binäre Schema enthält eine Polarität und erzeugt damit eine Polarisierung, die eine angstgeladene Spannung enthält. Solche Spannungen sind mit einer Gewaltbereitschaft verbunden, die jederzeit explodieren kann. Weltpolitische Konflikte sind immer Auswuchs aus historischen Verwicklungen und ungelösten Spannungen, die sich dann immer wieder entladen, solange es zu keiner nachhaltigen Friedenslösung kommt. Die Frage, wer den Konflikt begonnen hat und damit die Hauptschuld trägt, ist in solchen Fällen sinnlos. Deshalb dient ein Freund-Feind-Schema, das über die komplizierte Situation gebreitet wird, nur den eigenen unbewussten Rache- und Hassimpulsen. Schwarz-Weiß-Muster sind bequemer und verhelfen zu einer einfachen Orientierung, während die Auseinandersetzung mit der Komplexität immer wieder zu Ungewissheiten und Uneindeutigkeiten führt. Wir wollen ein klares und eindeutiges Bild, und wenn es ein solches nicht gibt, basteln wir es uns selbst, damit wir uns leichter tun und die Unklarheit nicht aushalten zu müssen. Wir blenden alles aus, was nicht in das Schema passt, und sammeln all das, was unser Schema bestätigt. Eindeutige Orientierungen geben uns Sicherheit, allerdings um den Preis der Realitätsverzerrung.

Die Wurzeln der Gewaltbereitschaft

Psychodynamisch betrachtet gilt eine latente Gewaltbereitschaft immer anderen Personen, denen gegenüber wir uns früher ohnmächtig gefühlt haben. Die Racheimpulse stammen aus Erfahrungen, einer ungerechten und willkürlichen Macht ausgeliefert zu sein, ohne Chance, sich zu wehren. Das Gefühl, Opfer einer übermächtigen Gewalt zu sein, führt dann zur Identifikation mit einer Konfliktpartei, deren Schicksal an das eigene erinnert. 

Als wir klein waren, konnten wir uns nicht für Demütigungen rächen, sondern mussten sie ertragen und die Verletzungen uns begraben. Solche Erfahrungen melden sich, wenn wir im Außen Geschichten von Tätern und Opfern hören. Dann finden wir schnell heraus, wer die Guten und wer die Bösen sind, und ergreifen für die Guten Partei, um sie zu ermutigen, den Bösen Leid zuzufügen und freuen uns, wenn das gelingt. Wir merken dabei nicht, dass die aggressiven Gewaltimpulse eigentlich Personen in unserer Geschichte gelten und offene Rechnungen aus unserer Kindheit begleichen sollen. Der Bündnispartner im Außen, die Konfliktpartei, mit der wir uns identifizieren, soll dafür sorgen, dass die Rache durchgeführt wird.

Mit der Parteinahme wird also der Konflikt weiter befeuert. Aus dieser Sicht gibt es nur einen Lösungsweg, nämlich die gewaltsame Zerstörung oder Unterwerfung des Gegners. Im langen Atem der Geschichte kommt irgendwann der Moment, wo diese Gewalt wiederum ihre Rächer findet. Gewalt gebiert Gewalt, ist aber selber nicht in der Lage, der Gewalt ein Ende zu setzen. Darum ist der Schritt aus der Parteilichkeit in eine Haltung des Mitgefühls für alle Leidenden ein Beitrag zur Entschärfung des Konflikts.

P.S. Was bedeuten diese Überlegungen für den Ukraine-Russland-Krieg?
Natürlich ist es wichtig, für die Opfer auf beiden Seiten Mitgefühl zu haben. Aber die Gewalt ist klar von Russland ausgegangen als Überfall auf ein freies Land, das damit zum Opfer einer ungerechtfertigten Aggression wurde. Die Haupttäter und Hauptverantwortlichen sitzen in der russischen Regierung und sollten zur Rechenschaft gezogen werden, was aber leider nicht möglich ist. Denn es gibt keine übergeordnete Instanz, die die Täter vor Gericht stellen kann. Parteinahme für die Ukraine heißt, sie gegen die fortlaufende Gewalt zu stärken. Natürlich braucht die massive Gewalt des Angreifers Gegengewalt, um sie in die Schranken zu weisen und die gesamte Bevölkerung der Ukraine nicht der Willkür der Angreifer auszuliefern. Deshalb ist hier eine Parteinahme für das Opfer des Angriffs und für den schwächeren Teil des Konflikts notwendig und sinnvoll. Täter sollen nicht ermutigt werden, mit ihrem aggressiven Potenzial weiteren Schaden anzurichten. Es gibt in diesem Fall und bei ähnlich gelagerten Beispielen keine andere Möglichkeit, als Gewalt durch Gegengewalt einzudämmen.

Zum Weiterlesen:
Krieg und Scham


Sonntag, 8. Oktober 2023

Der allgegenwärtige Narzissmus

Jede Gemeinschaft, in der es Narzissten gibt, ist von narzisstischen Strukturen durchzogen und durchtränkt. So wie die Narzisse vertrocknet, wenn sie zu wenig Wasser bekommt, so würde die Narzisstin verzweifeln und nach Hilfe suchen, wenn sie nicht Menschen hätte, die ihr Muster bestätigen und auf ihre Manipulationen hereinfallen. Die verbreitete Blindheit gegenüber narzisstischen Verhaltensweisen und Persönlichkeitszügen führt dazu, dass Narzissten immer wieder Bewunderer und Verehrer finden, sowie Leute, die sie in Führungspositionen hieven, auf Rednertribünen bringen und in Machtpositionen wählen. Menschen, deren narzisstischen Anteile versteckt sind, bestätigen die narzisstischen Muster der offenen Narzissten und verstärken damit die Verblendung in der Gesellschaft. 

Es erstaunt immer wieder, wie narzisstische Menschen mit Täuschungen und Verwirrtaktiken Medien und Gerichte an der Nase herumführen können und mit ihren Schamlosigkeiten ungestraft durchkommen. Sie haben ihre Helfer und Helfeshelfer überall im Publikum, die heimlich oder offen Beifall klatschen, wenn ein Narzisst seine Gegner und Kritiker fertigmacht oder die Gerichte beschimpft, die ihn zur Rechenschaft ziehen wollen. 

Der Narzissmus ist allgegenwärtig und kommt gewissermaßen in den besten Kreisen vor. Deshalb ist er allen in irgendeiner Weise bekannt und vertraut. Da wir alle über narzisstische Anteile verfügen, haben wir Affinitäten und Resonanzen zu den narzisstischen Phänomenen, sobald sie irgendwo auftauchen. Jede Unbewusstheit, die uns unterläuft, füttert diesen Narzissmus in uns selber und in der ganzen Gesellschaft. Das Gestörte wird zum Normalen.

Offensichtlich narzisstisch gestörten Personen wird besonderes Vertrauen entgegengebracht, weil sie ins eigene unbewusste Erwartungsbild passen. Im Witz sagt der Mann zur Frau, während im Fernsehen jemand redet: „Sicher ist er der Satan, der Fürst der Dunkelheit, der König der Hölle, der Meister der Lügen, der Verblender und Überbringer von Übel und Verführung, aber er fürchtet sich nicht, auszusprechen, was die Leute denken.“ Der offene Narzisst bedient die unbewussten Fantasien der verdeckten Narzissten. Sie haben ihre Gefühle unter Kontrolle und würden nie in Hassreden verfallen. Das erledigt die Identifikationsfigur für sie. Deshalb verehren sie diese Person und hassen alle ihre Gegner. Sie fühlen sich erkannt und verstanden, ohne dass sie sich selber zu ihrem Hass und zu ihrer Bosheit bekennen müssen. Sie können in der Deckung bleiben, während die narzisstische Identifikationsfigur ihre Aggressivität stellvertretend in der Öffentlichkeit auslebt. 

Diesen Identifikationen ist auch geschuldet, dass gerade mutige Aufdecker von narzisstischen Übergriffen und Machenschaften besonderen Hass von jenen ernten, die weder mit den Tätern etwas zu tun haben noch von deren Manipulationen profitieren. Dieser Hass dient dem Schutz vor der eigenen Scham, die sich zeigen würde, wenn offenbar wird, dass die eigene Bewunderung und Verehrung einer gestörten Persönlichkeit gegolten hat.

Die innere Leere

Ein Kennzeichen des Narzissmus besteht in der Ausblendung und Ausleerung der eigenen Innerlichkeit. Er erzeugt immer eine Wirklichkeitsverzerrung, denn die Wirklichkeit kann nur dann adäquat erfahren werden, wenn das Innere mit dem Äußeren in einer fließenden Wechselbeziehung steht. Beim Narzissmus ist die Verbindung zum Inneren unterbrochen, wodurch das Innere zur Leerstelle wird.

Damit gibt es erstens keine klare Unterscheidung zwischen Innen und Außen und zweitens erlebt die Narzisstin das Außen als das Innen, während in Wirklichkeit es das Innere ist, das im Außen auftaucht. Da aber das Innen für die Innenwahrnehmung leer ist, wird diese Verwechselung nicht bemerkt. Es entsteht eine verschwommene Zone zwischen Innen und Außen, in die dann ungeprüft einfließen kann, was immer das narzisstische Muster bekräftigt.

Da das Innere als leer erlebt wird, indem es eben nicht erlebt wird, gibt es keinen Zugang zu einer Wahrheit mehr, die über die Subjektivität hinausginge. Für den Narzissten bemisst sich der Wahrheitsgehalt von Informationen daran, wieweit sie nützlich sind, um die anderen Menschen zu kontrollieren. Sie müssen in Schach gehalten werden, damit sie nicht auf die Idee kommen, die innere Leere zu erkennen.

Die narzisstische Wirklichkeitsproduktion

Narzissten neigen besonders zu Informationsquellen, die keine klare Unterscheidung zwischen Subjektivität und Objektivität aufweisen. Umgekehrt gilt, dass Menschen, die solchen Informationsquellen den Vorzug geben, einer narzisstischen Störung unterliegen. Die vor allem in deutschsprechenden Gebieten verbreitete Wissenschaftsskepsis hat genau dort ihre psychologischen Wurzeln. 

Narzissten suchen Informationen, die zwischen Subjektivität und Objektivität schwanken, die also ihre Quellen nicht benennen oder auf unseriöse Quellen zurückgreifen. Die Verschleierung der Herkunft des Wissens soll die Überprüfbarkeit der behaupteten Wahrheit erschweren und damit das schummrige Halbdunkel, in dem die narzisstische Selbstbestätigung am besten gedeiht, aufrechterhalten. Für diese Ausrichtung eignen sich die sogenannten sozialen Medien ganz besonders. Sie sind geradezu dadurch gekennzeichnet, dass Fantasien und Fakten wild durcheinandergewirbelt werden und alle Unterschiede zwischen Meinung und Wahrheit eingeebnet sind. Jeder kann dort jedes behaupten. Die Überprüfung der Wahrheitsansprüche erfordert Mühe und wird dann wieder als subjektive Behauptung klassifiziert, die einem gefallen mag oder nicht. Diese Form der Medienkommunikation hat den narzisstischen Wahrnehmungsmustern einen riesigen Aufschwung beschert. 

Die Inhalte, um die es bei den diversen Debatten geht, kennen in der narzisstischen Sphäre ebenfalls keine klare Grenze zwischen Innen und Außen, also zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven. Subjektive, gefühlserzeugte Fantasien werden zu Fakten, ohne dass die Umwandlung bemerkt wird. Da das narzisstische Muster durch die Vermischung von Innen und Außen gekennzeichnet ist, werden solche Verwirrungen von allen, die eine narzisstisch geprägte Wahrnehmung aufweisen, als normal und sinnhaft empfunden. Wer dem nicht beipflichten kann, kann nicht normal sein. Und wer diese aus dem Narzissmus erzeugten Einsichten nicht teilt oder durchschaut, bedroht das fragile Selbstverständnis der narzisstischen Persönlichkeit und muss deshalb bekämpft werden.

Zum Weiterlesen:
Grandioser und verdeckter Narzissmus
Der elterliche Narzissmus und die Selbstfindung
Rollen von Kindern narzisstischer Eltern


Freitag, 6. Oktober 2023

Gesellschaftskritik und Familienmuster

Immer wieder sagen oder schreiben Leute, dass sie die Gesellschaft, so wie sie ist, nicht aushalten, schlecht finden, aussteigen wollen etc. Da es keine vollkommene Gesellschaft gibt, hat jede Gesellschaft ihre Schwächen und Mängel. Es ist gut und wichtig, an Missständen Kritik zu üben und an Verbesserungen mitzuarbeiten. Denn jede Gesellschaft enthält Kräfte, die sie weiterentwickeln wollen. Diese Sichtweise enthält die Annahme, dass die jeweilige Gesellschaft weder gut noch böse, weder vollkommen noch verkommen ist, sondern viele Bereiche enthält, die annehmbar sind, und viele, die Verbesserungsbedarf aufweisen. 

In den verbesserbaren Bereichen können wir partielle und strukturelle Mängel unterscheiden. Mängel in Teilen der Gesellschaft, wie z.B. im Bildungswesen oder im Gesundheitssystem sind ein Dauerbrenner, weil sich diese Bereiche dauernd an die Weiterentwicklung der Gesellschaft anpassen müssen und dadurch zwangsläufig immer wieder in eine Schieflage geraten. 

Unter strukturelle Mängel fallen z.B. die Dynamiken des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das auf permanenter Ressourcenausbeutung beruht und damit eine Hauptursache für den Klimawandel darstellt. Eine andere Dynamik ist der Patriarchalismus, der langsam zurückweicht, aber noch immer Elemente der Benachteiligung der Frauen aufrechterhält. Dann gibt es den Nationalismus, der die Nationen gegeneinander ausspielt und bis zu Kriegen führen kann. Das sind einige Beispiele für die strukturellen Mängel, die die Handlungsfähigkeit von Gesellschaften einschränken und unter denen viele Menschen leiden. Eine Bewusstseinsentwicklung in Richtung systemisches Denken und Handeln kann solche strukturelle Mängel einer Besserung zuführen. Das gelingt, wenn diese Bewusstseinsform eine genügend große Zahl von Menschen erreicht hat.

Das Leiden an der Gesellschaft mit seinen frühen Wurzeln 

Wenn Menschen die gesamte Gesellschaft schlecht machen und angreifen, ohne sich bewusst zu sein, dass es Defizite nur in Teilbereichen und darunterliegenden Strukturen gibt, dann können sie Projektionen unterliegen. Sie sind ja selbst Teil dieser Gesellschaft und merken nicht, dass sie sich selbst dabei abwerten. Woher kommen diese Impulse, die gerne von Politikern und Demagogen aufgegriffen werden? Warum kommen Brandreden gegen die gesamte Gesellschaft, in der wir alle leben und zu derem Sosein wir alle beitragen, bei so vielen Menschen an? Warum fühlen sich viele verstanden, wenn auf die Gesellschaft oder auf das System hingehackt wird?

Wenden wir den Blick auf die Herkunftsfamilie. Sie ist die erste kleine Gesellschaft, die wir kennenlernen und durch die wir die frühesten und prägenden Eindrücke über das menschliche Zusammenleben erwerben. Wie Menschen miteinander umgehen und aufeinander reagieren, erleben und beobachten die Kinder und ziehen daraus ihre Schlüsse. Später wenden sie ihre Erfahrungen auf die anonyme Gesellschaft an, die in der projektiven Fantasie zu einem Einzelwesen wird, das bewertet, bekämpft oder verlassen werden kann.

Wenn also die Rede von „der Gesellschaft“ oder von „dem System“ ist, dann handelt es sich dabei mit viel Wahrscheinlichkeit um Projektionen aus frühen Erfahrungen. Die Einstellungen zum System im Kleinen werden später einfach auf das System im Großen übertragen. Das Leiden, das einem als Kind widerfahren ist, wird ihm angelastet.

Der Wunsch, aus der Gesellschaft auszusteigen, zeigt sich als Impuls, aus der Familie auszubrechen, die als unerträglich erlebt wird. Als Kind ist das nicht möglich; als Erwachsener richtet sich die Phantasie mit der Wut des Kindes auf die unerträgliche Gesellschaft. Der Wunsch, die Gesellschaft umzustürzen, nährt sich aus der Wut auf ein ungerechtes, ausbeuterisches, heuchlerisches oder missbräuchliches Familiensystem.

Die Familie ist nicht nur „die Keimzelle der Gesellschaft“, wie das gerne konservative Politiker in ihr Programm schreiben und auf ihren Reden verkünden, sondern auch die Keimzelle für die Einstellungen zur Gesellschaft als ganzer. Eine wertschätzende Atmosphäre in der Familie legt den Grundstein für eine differenzierte positive Einstellung zur Gesellschaft, während schlechte Erfahrungen mit der eigenen Familie ein Misstrauen und eine Abneigung gegen die Gesellschaft bewirken. Herrschte in der Familie Distanz und Kontaktarmut, so wird die Gesellschaft leicht als kalt und herzlos erlebt. Haben sich in der Familie traumatisierende Ereignisse abgespielt, so erscheint die Gesellschaft als bedrohlich und gefährlich. War die Familie einengend und kontrollierend, so kommt es zu besonders heiklen Reaktionen gegen jede Freiheitseinschränkung durch die Gesellschaft.