Dienstag, 16. Juli 2024

Faschismus - eine Annäherung an den Begriff

Rechtsextreme Strömungen sind im Aufwind, lesen wir jeden Tag. Woran erkennen wir, zu welchem Teil des politischen Spektrums eine bestimmte politische Partei gehört? Und was hat der Begriff Faschismus damit zu tun? In der aktuellen Debatte werden immer wieder den Begriff des Faschismus verwendet, ohne dass es klar ist, was damit gemeint ist. Denn auch die Rechte nutzt den Begriff, indem sie z.B. vom Woke-Faschismus oder vom Linksfaschismus spricht. Wir werden uns deshalb hier etwas eingehender mit dem Faschismus und seinen Grundelementen beschäftigen und dazu auch psychologische Hintergründe beleuchten. Damit kann mehr Klarheit geschaffen werden, um den Begriff treffsicher und sinngetreu zu verwenden, statt ihn bloß als Waffe im ideologischen Kampf zu benutzen.

Ich nutze hier eine Sammlung von zentralen Elementen, mit denen Jason Stanley, Philosophieprofessor in Yale, in einem Artikel im Standard den Begriff „Faschismus“ bestimmt hat. Wie wir wissen, stammt der Ausdruck aus Italien, wo er nach dem ersten Weltkrieg von Mussolini und seinen Parteigängern geprägt wurde. Er kommt aus der römischen Bezeichnung für die Rutenbündel der Liktoren, den fasces. Diese symbolisierten seinerzeit die Macht über Leben und Tod.

In der historischen Forschung ist der Begriff umstritten, weil er nur von Mussolinis Partei verwendet wurde. Doch gibt es gerade in der Zwischenkriegszeit eine Reihe anderer Bewegungen, die sich am italienischen Faschismus orientiert haben. Auch heute noch übt das Modell für viele eine große Anziehung aus, obwohl sich die Zeitbedingungen sehr verändert haben. Es sind aber die emotionalen Kernthemen, die unverändert attraktiv sind.

1) Das erste Element des Faschismus besteht in der Verklärung einer mystischen oder mystifizierten Vergangenheit. Was war, war auf geheimnisvolle Weise besser und muss deshalb wiederhergestellt werden. Alles, was schlecht in der Vergangenheit war, wird ausgeblendet und in die Gegenwart eingeblendet. Damit werden rückwärts gewendete Sehnsüchte von Menschen bedient, die glauben, dass sie im Vergleich zur Vergangenheit verloren haben – an Wohlstand, Sicherheit, Status. Es handelt sich im Grund um eine Form der Verklärung der Kindheit, die besonders bei Menschen auftaucht, die eine schwere Kindheit hatten, aber sich einbilden und einreden können, dass sie wunderbar war. Die Verdrängung des Leides der Vergangenheit wirkt in diesen Fällen so, dass Leid nur in und an der Gegenwart wahrgenommen wird.

2) Das zweite Element besteht im hemmungs- und schamlosen Einsatz von Propaganda, bei der es nicht um Wahrheit geht, sondern um den Gewinn von Sympathie. Fakten zählen nicht, wichtig ist nur, dass Anhänger mobilisiert und abhängig gemacht werden. Sie sollen auf einer emotionalen Ebene erreicht werden, indem ihr Zorn und Hass durch manipulierte Informationen mobilisiert wird. Dazu ist jedes Mittel recht. Lügen und Faktenverdrehungen werden systematisch und skrupellos eingesetzt. 

Wer von Kindheit an gewohnt ist, manipuliert, belogen und getäuscht zu werden, verliert das Gespür für den Unterschied zwischen wahr und falsch und glaubt, dass jeder Mensch egoistisch mit allen Mitteln der Wahrheitsverdrehung zu seinem Vorteil kommen will, und deshalb bleibt einem selbst nichts anderes übrig, als genauso vorzugehen. Selbstsüchtige Eltern prägen selbstsüchtige Kinder.

3) In die gleiche Kerbe schlägt das nächste Element, der Anti-Intellektualismus. Alle, die im Bildungssystem zu kurz gekommen, benachteiligt oder abgewertet wurden, finden ein Ventil für die Kränkungen im faschistischen Affekt gegen die „Eliten“, die Oberen, die Besserweggekommenen, die überheblichen Besserwisser. Sie sollen gedemütigt und entmachtet werden, als Rache für die eigenen Frustrationen. Der Generalverdacht und die Feindschaft gegen die Wissenschaften haben hier ihre Wurzeln.

Statt wissenschaftliche Forschungsergebnisse zu nutzen, wird an Verschwörungstheorien geglaubt, die einfache Welterklärungsmodelle liefern, z.B. eine kleine Gruppe von Menschen regiert heimlich die ganze Welt. Abgesichert werden diese Theorien mit paranoiden Konstruktionen: Alles, was der Theorie widerspricht, oder alle, die dagegen sind, sind selber Teil der Verschwörung. Es gibt keine Korrekturmöglichkeiten bei diesen Theorien, sie gelten absolut und geben deshalb eine Sicherheit gegenüber den Wissenschaften, die alles in Frage stellen.

4) Beim nächsten Element geht es um die Betonung gesellschaftlicher Hierarchien, also um eine klare Abstufung von Über- und Unterordnung. Die Gedanken von Gleichheit und Gleichberechtigung werden abgelehnt, weil sie Unsicherheit erzeugen. Hier drückt sich der Wunsch nach einer eindeutigen Elternautorität aus, die in der Kindheit gefehlt hat. Die Demokratiefeindlichkeit der Faschisten ist die größte Gefahr, die von ihnen ausgeht, denn sie will der Willkür, die sich hinter den Bestrebungen nach klaren Hierarchien versteckt, Tür und Tor öffnen.

Demokratie wird in der Kindheit gelernt, oder sie wird nicht gelernt. Eltern, die ihre Kinder grundsätzlich achten und ihnen auf verschiedenen Ebenen als gleichrangig begegnen, geben ihren Kindern ein Wert- und Toleranzgefühl mit, das ihnen hilft, intuitiv die Grundidee der Demokratie zu verstehen. 

5) Daran reiht sich das nächste Element an: Der Ruf nach Recht und Ordnung. Da die Gegenwart als unsicher erlebt wird, muss die Exekutive gestärkt werden, die jede Störung der vorgegebenen Ordnung unterbindet. Damit soll die Gesellschaft auf ihrem gegenwärtigen Stand eingefroren werden, weil jede Veränderung noch weiter von der heilen Vergangenheit wegführen würde. Die Beschwörung von law and order kann so weit gehen, dass die rechtsstaatlichen Normen oder die Menschenrechte missachtet werden (vgl. den Ruf nach der Aufhebung des Asylrechts, der von rechtsgerichteten Parteien erhoben wird, oder die Eingriffe in die Unabhängigkeit der Rechtsinstanzen in Ländern, die von rechten Parteien regiert werden, oder der Sturm auf das Kapitol nach der Abwahl von Trump in den USA).

Erwachsene, die als Kinder in einem Regime von absolut geltenden Regeln aufgewachsen sind, neigen einerseits zur Rebellion und andererseits zur Unterordnung. Die faschistische Richtung deckt beides ab: Rebellion gegen die „Eliten“, also die ungerechten und selbstsüchtigen Eltern, und Unterordnung unter die Partei oder die Führer, die die guten Eltern repräsentieren, die man sich immer gewünscht hat.

6) Faschisten und Anhänger des Faschismus fühlen sich immer in einer Opferrolle – historisch betrachtet als Angehörige einer Nation, der Ungerechtigkeit widerfahren ist, oder sozial als Mitglieder einer Schicht oder Gruppe, die benachteiligt ist. Die angenommene Opferrolle kann nur durch die Übernahme einer Täterrolle ausgeglichen werden, und das ist die Wurzel der Gewaltbereitschaft, die Teil aller faschistischen Bewegungen ist.

Auch hier ist wieder einsichtig, dass die Opfererfahrung als Kind (z.B. durch eine Form des Missbrauchs) auf die eigene Gesellschaft als ganze übertragen wird.

7) Das nächste Element bezieht sich auf die Rolle der Sexualität. Hier wird einem patriarchalen Muster gefolgt, das in diesem Bereich Sicherheit geben soll. Es bleibt die Welt der Männer starr getrennt von der Welt der Frauen, und ebenso starr soll die Machtverteilung mit der Bevorzugung der Männer bestehen bleiben. Deshalb werden alle Bestrebungen des Feminismus ebenso bekämpft wie die Homosexualität und alle nichtbinäre Formen sexueller Orientierung. 

8) Ähnlich wie die Verklärung der Vergangenheit wirkt die Verherrlichung des Landlebens, das mit einer „natürlichen“, „gesunden“ Lebensform in Verbindung gebracht wird. Aus den Städten kommt alles Schlechte, sie sind der Ursprung von allem Unheil und vom Verfall der Sitten. Das wirkt wie ein Nachhall aus der Entstehung des Kapitalismus, durch den viele ihr Land verlassen mussten, um in den Städten Arbeit zu finden und in erbärmlichen Wohnverhältnissen zu leben. Das Leben am Land wird als Idyll gesehen, wie eine schöne Kindheit, die es nie gegeben hat oder die für immer verloren ist. 

In diesem Aspekt knüpft der Faschismus an die Strömungen der Romantik an, die zu Beginn der Industrialisierung mit der Idealisierung der Vergangenheit und des ländlichen Glücks ein melancholisches Zeitgefühl wiedergegeben haben. Die Romantik war im 19. Jahrhundert aber mit dem Liberalismus in der Ablehnung von autoritären Obrigkeiten verbündet. Dieser herrschafts- und machtkritische Aspekt ist in der faschistischen „Romantik“ völlig verschwunden.

9) Schließlich gibt es in der Vorstellungswelt der Faschisten einen klaren Unterschied zwischen den „Anständigen“ und „Fleißigen“ und den „Unanständigen“ und „Faulen“. Die Anhänger dieser rechtsextremen Richtung sehen sich auf der einen, der sauberen Seite und verachten die anderen, die sich nicht ihren Vorstellungen von Rechtschaffenheit und Fleiß fügen, die allerdings oft nur oberflächlich behauptet und vertreten werden. Denn auch Vertreter des Faschismus, die den Anstand im Mund führen, verhalten sich oft schamlos, wenn es um Gewalt oder Sexualität geht, oder liegen auf der faulen Decke, ohne zu merken, dass sie auf der Seite jener gelandet sind, die sie verachten. Das binäre, dichotome Schema ist typisch für ein faschistisches Weltbild, das immer eine Eindeutigkeit vorgeben möchte, die es in der Wirklichkeit nie gibt.

10) Mir erscheint noch ein weiteres Merkmal wichtig: Die Abneigung gegen Kunst, vor allem was ihre modernen Strömungen anbetrifft. Offenbar bedrohen Kunstrichtungen, die die normalen Wahrnehmungsgewohnheiten herausfordern, das Sicherheitsgefühl, das für Menschen mit faschistischen Neigungen das wichtigste ist. Außerdem kann die Kunst nie in ein Schwarz-Weiß-Schema von Gut und Böse eingepasst werden, wie es von Faschisten bevorzugt wird, sondern sie hat die Aufgabe, die Übergänge, Schattierungen und Nuancen darzustellen und dadurch die Rahmensetzungen, die durch die Konventionen errichtet wurden, zu überschreiten und zu sprengen. Die Verunsicherung, die jede Form von lebendiger Kunst auslösen will, ist allen Faschisten ein Dorn im Auge. Die Ursache für den Hass auf neuartige Kunstwerke kann in der Unterdrückung der kindlichen Kreativität durch verständnislose Eltern gefunden werden.

Aus all diesen Elementen wird klar, dass der Faschismus mit der Demokratie nicht verträglich ist. Genauer gesagt, sind seine Programme antidemokratisch. Alle faschistischen Bewegungen streben danach, die Macht bei sich zu monopolisieren, um dann die Demokratie abschaffen zu können, die durch ein autoritäres System ersetzt werden soll. Deshalb können demokratische Systeme nur dann überleben und weiterentwickelt werden, wenn der Einfluss der Rechtsparteien zurückgedrängt und verkleinert wird. Unabhängige Medien, die der Faktizität verpflichtet sind, unabhängige Wissenschaften, die die hohen Standards der Forschung folgen, und das Aufwachsen von jungen Generationen, die die Werte der Freiheit und Toleranz zu schätzen wissen und gegenüber propagandistischen und ideologischen Verführungen eine kritische Distanz wahren können, sind Garanten für den Fortbestand der Demokratie und für die Eindämmung der rechten Demokratiefeinde.

Der Faschismus und die mit dieser Ideologie verbundenen Rechtsparteien können außerdem wegen ihrer Rückwärtsgewandtheit und Wissenschaftsfeindlichkeit keine Lösungen für aktuelle und für voraussehbar kommende Probleme anbieten. Empirisch konnte nachgewiesen werden, dass rechtsgerichtete Regierungen in der Regel mit ihrer Wirtschaftspolitik die soziale Ungleichheit verstärken, also die wirtschaftliche Lage ihrer Anhänger verschlechtern. Rational betrachtet, gäbe es für niemanden einen Grund, rechte oder faschistische Parteien zu wählen. Deshalb liegt die einzige Chance für faschistische Strömungen, um an die Macht zu kommen, darin, die Gefühle der Menschen mit allen Mitteln der Propaganda und des systematischen Lügens zu manipulieren. Und deshalb liegt das Hauptgegengewicht gegen die rechten Strömungen nicht nur in der Aufrechterhaltung der Rationalität und des vernunftgeleiteten Diskurses, sondern auch in der Bewusstmachung und Aufarbeitung der emotionalen Hintergründe und Triebkräfte, die Menschen nach rechts abdriften lassen.

Donnerstag, 11. Juli 2024

Was ist Manipulation?

Wir reden viel von Manipulation, oft ohne uns genauer zu überlegen, was eigentlich gemeint ist. Zunächst ist es klar, dass es um eine Form der Beeinflussung geht. A hat eine Absicht, und er will B dazu bringen, sie auszuführen. Statt einfach zu fragen, ob B die Absicht umsetzen möchte, wird die Absicht verschleiert und es wird versucht, B dazu zu bringen, zu glauben, dass es für ihn am besten ist, wenn er die Absicht von B ausführt. Beispiel: A möchte B einen Rasenmäher verkaufen. Er weiß, dass B schon einen Rasenmäher hat und keinen neuen braucht. Also muss er versuchen, B dazu zu bringen, dass er selber glaubt, einen neuen Rasenmäher zu kaufen. Es geht also darum, die Einstellung von B so zu verändern, dass dann das, was A will, von B gemacht wird, so dass B meint, es selber zu wollen, und damit können alle scheinbar zufrieden sein.

Die Beeinflussung von anderen geschieht unter Ausnutzung ihrer Schwachstellen und Unsicherheiten. Die Botschaft soll dort ins Innere eindringen, wo die Wachsamkeit aussetzt oder schlecht ausgebildet ist. Der Manipulator zieht seinen Gewinn aus der  Naivität, Gutgläubigkeit oder Gier der Menschen, indem er sie für seinen Vorteil empfänglich macht.

Wir nutzen für Manipulation auch den Ausdruck „jemandem etwas einreden“. Damit ist gemeint, dass wir mittels der Sprache die eigene Rede in jemand anderen einpflanzen wollen. Wir wollen, dass die andere Person unsere Rede und damit unsere Sichtweise übernimmt und zu ihrer eigenen macht. Sie soll also introjizieren, was wir aufoktroyieren wollen. Damit wird die Grundlage für ein Machtgefälle gelegt, indem B tut, was A will, und dabei meint, es selber zu wollen.

Es gibt beim Manipulator eine Absicht, mit der er die andere Person in eine bestimmte Richtung lenken will. Es gibt dazu einen bewussten Teil, der es für richtig befindet, dass das Objekt der Manipulation genau das tut, was man von ihr will. Es gibt auch einen unbewussten Teil, der spürt, wo die Schwachstelle der anderen Person ist, über die sie erreicht werden kann, sodass sie zustimmt, obwohl sie von sich aus nicht will. Aus der Zusammenarbeit dieser beiden Teile entsteht die Manipulation, die wirklich wird, sobald die Person B in die von A gewünschte Richtung geht und deren Absicht ausführt.

Manipulation durch Werbung

Bei der Werbung und Propaganda ist die Absicht klar und unverblümt, und ebenso sind die Schwachstellen der Menschen bekannt, durch Erfahrung und wissenschaftliche Erforschung. Es gibt viele Untersuchungen, wie Menschen zu bestimmten Einstellungen und über die Einstellungen zu Handlungen gebracht werden können, ohne dass sie es merken. Wir wissen zwar, was die werbetreibenden Unternehmen von uns wollen, schauen uns aber trotzdem ihre Botschaften an und können uns den Einflüssen nicht entziehen, die auf unsere unbewusst ablaufenden emotionalen Muster und Denkvorgänge wirken. Auch wenn wir gerade kein Parfüm kaufen wollen, fühlen wir uns freudig berührt, wenn wir ein trautes Paar sehen, das sich beim Sonnenuntergang liebkost. Wir wissen, dass das alles für einen bestimmten Zweck inszeniert ist, aber wenn wir irgendwann einmal in einem Geschäft die Marke sehen, für die geworben wurde, kann uns das gleiche Gefühl wieder befallen, und, so die Hoffnung der Manipulatoren, wir greifen diesmal zu und schon ist das Parfüm in der Tasche gelandet. Wir denken vielleicht später, dass wir eigentlich etwas ganz anderes einkaufen wollten, aber nun ist es schon zu spät. Die Manipulationsfalle ist zugeschnappt.

Zur Manipulation gehört, dass die beeinflusste Person nicht erkennen soll, dass sie beeinflusst wurde, sondern zur Meinung gelangen soll, dass sie eine bestimmte Ansicht von sich aus vertritt und für richtig empfindet. Es geht also um eine Fremdbestimmung, um Fernsteuerung, die unbemerkt ablaufen soll.

Die Parabel vom kleinen Hänschen

Es gibt Manipulationen, die dem Manipulator nicht bewusst sind. Sie bilden den Quell für alle späteren Manipulationsimpulse. Sie entstehen in der Eltern-Kind-Interaktion, wenn Eltern Erwartungen an die Kinder haben, die sie nicht direkt ausdrücken, weil sie mit Scham behaftet sind, aber die sie auf eine Weise mitteilen, dass die Kinder ein schlechtes Gewissen ausbilden, wenn sie die Erwartungen nicht erfüllen. Zum Beispiel sagt die Mutter zum Hänschenklein: „Geh nur in die weite Welt hinaus,“ aber ihr Blick drückt ihr großes Leid darüber aus, dass sie verlassen wird. Der kleine Hans geht in die weite Welt, also in seine Autonomie, aber das schlechte Gewissen holt ihn ein, er besinnt sich, weil er spürt, wie traurig die Mutter ist, und kehrt geschwind wieder heim. Vorbei ist es mit der Autonomie, er hat sich der manipulativen Macht der Mutter unterworfen.

Die Mutter „kann nicht anders“, d.h. sie hat keine bewusste Absicht, ihren Sohn zu manipulieren. Scheinbar will sie ja das Beste für ihn. Sie steckt jedoch fest in ihren narzisstischen Besitzansprüchen und übt damit die Macht aus, die ihr in ihr selber fehlt. Wenn der Sohn geht, fällt sie ganz auf sich selbst zurück und merkt, dass sie nichts wert ist. Also muss der Sohn wieder her, um dieses Vakuum zu füllen. Der kleine Hans lernt dabei, dass es keinen direkten Weg zur Erfüllung der Bedürfnisse gibt, sondern dass der immer über Manipulationen führen muss.

NLP und Manipulation

Eine interessante Wendung findet das Thema im NLP. Dort wird die Sache umgedreht: Manipulation gibt es nur, wenn sie von einem Empfänger zugelassen wird. Der augenscheinlich Manipulierte sorgt erst mit seiner Zustimmung dafür, dass der Manipulierende sich manipulierend verhält. Er manipuliert in diesem Sinne den von außen als aktiv gesehenen Manipulator. Wer Manipulation zulässt, macht sie erst zur Manipulation. Manipulation wird damit zu einer alltäglichen Vorgehensweise, die demnach nicht negativ bewertet werden muss. Es handelt sich um Abmachungen mit wechselseitiger Verantwortung.

Formal nachvollziehbar ist, dass es zum Zustandekommen einer Kommunikation immer zwei braucht, so auch bei einer manipulativen Kommunikation. Wenn B auf die manipulative Absicht von A nicht eingeht, entsteht keine Manipulation. Allerdings gehört zur Manipulation die bewusste Absicht zur Manipulation, die darin besteht, B nicht nur zu einer Handlung zu bewegen, z.B. zum Kauf des Rasenmähers, sondern bei ihm eine innere Haltung zu erzeugen, die diesen Kauf als dem eigenen Interesse dienend einschätzt.

Übersehen wird bei dieser Überlegung das Machtgefälle. Der Manipulierende will (bewusst oder unbewusst) der anderen Person seinen Willen aufzwingen. Er sucht einen Weg, auf dem die andere Person nicht merken soll, dass sie überrumpelt wird. Es gibt also immer eine Täuschungsabsicht, und sie markiert den Unterschied zwischen der Manipulation und anderen Formen der Überzeugungsrede. Mit Hilfe der Täuschung soll in die Innenwelt der Adressatin ein fremder Inhalt eingeschmuggelt werden, ohne dass der Schwindel bemerkt wird. Dieser Vorgang kann von beiden Seiten unbewusst ablaufen, wie beim Beispiel vom kleinen Hans, oder bewusst, wie in der Werbung oder bei einem Kundengespräch, bei dem z.B. Nachteile der angebotenen Ware oder Dienstleistung verschwiegen werden, bei dem also Mogelpackungen angepriesen werden. Das bekannte Beispiel sind die Kühlschränke, die an Eskimos verkauft werden.

Dem NLP wird nachgesagt, als Methode manipulativ zu sein und Manipulationstechniken zu lehren. Es gibt NLP-Kurse mit dem Titel: „Manipulieren, aber richtig.“ Ein Buch namens: „Mit NLP manipulieren“ wird folgendermaßen angepriesen: „In diesem Buch erfahren Sie erstmals, wie Sie Menschen mit Hilfe von NLP so manipulieren können, wie Sie es möchten. Mit Hilfe der richtigen NLP Technik lässt sich jeder Mensch marionettenartig so steuern, wie man es möchte. Hierzu bedarf es lediglich der richtigen NLP Technik.“ (Jacobsen, Frank, 2010)

Natürlich sehen das die Vertreter dieser Richtung nicht so und verweisen darauf, dass man mit dem NLP lernen kann, sich nicht manipulieren zu lassen. Das bedeutet aber, man könne nur mit NLP lernen, NLP-basierende Manipulationen zu durchschauen. NLP versucht, Einfluss auf das Unterbewusste des Interaktionspartners zu nehmen, auch ohne dass dieser es bemerkt. Damit liegt es an der ethischen Integrität dessen, der NLP anwendet, ob er mit seinen Techniken andere Menschen zum eigenen Vorteil täuscht oder ob er sie zum Vorteil der angesprochenen Person nutzt. Das NLP stammt ja zu einem gewissen Teil aus der Hypnotherapie (vor allem nach Milton Eriksson), bei der auch direkt auf das Unterbewusste der behandelten Person Einfluss genommen wird. In diesem Rahmen gibt es klare ethische Richtlinien, die die Klienten schützen. Das NLP hat die Anwendungsgebiete der hypnotischen Beeinflussungen auf andere Geschäftsfelder erweitert und wird z.B. in der Wirtschafts- und Politikberatung angewendet. Dort geht es aber um Konkurrenz und schnellen Gewinn unter Umständen auch auf Kosten anderer und nicht um Mitgefühl für Leidenszustände. Wer die Machtaspekte bei der Manipulation ignoriert oder verharmlost, öffnet dem egoistischen Gebrauch der Manipulation Tür und Tor.

Manipulationsuniversen in den sozialen Medien

Wer Unterlegenheitsgefühle, mangelndes Selbstvertrauen oder Angst hat, lässt sich leichter täuschen, ist leicht manipulierbar. Wer als Kind von den Eltern (zumeist unbewusst) manipuliert wurde, ist besonders anfällig für Manipulationen.

Manipulationen haben aber auch deshalb so viel Erfolg, weil es immer schwieriger wird, alle Angebote und Glücksversprechen, die auf uns einprasseln, zu überprüfen. Mit den sozialen Medien haben sich neue Universen der Manipulation geöffnet, in denen jedermann/frau die Manipulationskünste erproben kann, ohne Rücksicht auf irgendwelche ethischen Standards. Medienkompetenz gehört schon längst zu den Grundfähigkeiten im Umgang mit dem Informationsdschungel, dem wir ausgesetzt sind. Wenn wir aber von ungewollten Beeinflussungen frei bleiben wollen, müssen wir die Mühe auf uns nehmen, Faktencheck über Faktencheck durchzuführen.

Gebräuchliche Manipulationstechniken

Es gibt unterschiedliche Manipulationstechniken, die dort wirksam werden, wo es Grenzverletzungen in der Kindheit gegeben hat:

1.   Manipulation durch Wiederholung:
Hier geht es darum, die Botschaft so oft zu wiederholen, bis das Gegenüber „weichgeklopft ist“ und den Widerstand aufgibt. In der Erziehung ist es wichtig, Vorgänge immer wieder zu wiederholen, damit die Kinder lernen können. Wenn aber die Prozeduren, die immer wieder die gleichen sind, dem Kind nicht beim Wachsen helfen, sondern ihm Prügel vor die Füße werfen, wird es keinen kritischen Geist entwickeln.

2.   Manipulation durch Erzeugen von Angst:
Es wird der Eindruck erweckt, dass eine Entscheidung so schnell wie möglich getroffen werden muss, weil sonst ein großer Nachteil entsteht. Die Angst soll das logische und vernünftige Denken abstellen und zu spontanen Handlungen (z.B. Spontankäufen) anleiten.
Das Aufwachsen unter angstgeprägten Umständen macht empfänglich für die Motivation aus Angst.

3.   Manipulation des Denkens:
Ein weites Feld von Möglichkeiten gibt es bei der Beeinflussung der unbewusst ablaufenden Denkvorgänge, z.B. Übertreibungen, Fangfragen oder Faktenverdrehungen. Es werden Aussagen präsentiert, die nicht überprüft werden können, z.B. das Waschmittel wäscht weißer als alle anderen. Kinder, die mit Eltern aufgewachsen sind, die immer rechthatten und rechthaben mussten, merken schwerer, wenn ihre Denkvorgänge beeinflusst werden.

4.   Manipulation des Verhaltens durch Sprache:
Mit der Formulierung: „Man tut etwas (nicht)“ wird suggeriert, dass es sich um eine unumstößliche Norm handelt. Ebenso wirken Aussagen, die als Faktum behaupten, was nur eine Bewertung darstellt: „Es ist unmöglich, sich so zu verhalten.“ Wer mit solchen Mitteln erzogen wurde, neigt dazu, solche Behauptungen für bare Münze zu nehmen und sich danach zu richten.

5.   Manipulation von Informationen:
Informationen brauchen einen Kontext, um Sinn zu machen. Deshalb ist es relativ einfach, den Kontext zu verändern, ohne dass es bemerkt wird, und schon gewinnt die Information eine neue Bedeutung. Z.B. werden Informationen, die dem angepriesenen Produkt zum Nachteil gereichen, als unwichtig bezeichnet, und solche, die das Produkt auszeichnen, als einzig wichtig benannt. Allgemein heißt das, dass Informationen, die der eigenen Sichtweise entgegenstehen, ausgeblendet oder abgewertet, und Informationen, die diese Perspektive unterstützen, herausgestrichen und überbetont werden.
Wer schon als Kind entmutigt wurde, nach dem zu forschen, was die eigenen Normen und Werte sind, wird sich schwertun, sich gegen solche Manipulationen abzuschirmen.

6.   Manipulation von Bedürfnissen:
Unerfüllte Bedürfnisse motivieren uns zum Handeln. Deshalb ist der Zugriff auf die Bedürfnisse bei jeder Manipulation wichtig. Jeder Mensch leidet irgendwo unter einem Mangel, nachdem nie alle Bedürfnisse optimal erfüllt sind. Diesen Mangel aufzuspüren, ist die Kunst der Manipulatorin. Der zweite Schritt besteht darin, das eigene Angebot als perfekte Erfüllung genau dieses Bedürfnisses darzustellen. Viele der Mangelzustände sind emotionaler Natur: zu wenig Aufmerksamkeit, Zuwendung, Mitgefühl und Liebe zu bekommen. Also werden Produkte emotional aufgeladen, sodass sie scheinbar in der Lage sind, emotionalen Mangel auszugleichen. Z.B. suggeriert eine Schokosüßigkeit einen Genuss, der jeden inneren Mangel stillt. Viele, die als Kinder gelernt haben, statt emotionaler Zuwendung mit Nahrungsmitteln oder Medienkonsum abgespeist zu werden, sind anfällig für diese Form der Manipulation.

Zum Weiterlesen:
Manipulation erkennen und entzaubern
Astroturfing - Manipulation vom Feinsten
Die Begrenzung narzisstischer Manipulation
Wird die Demokratie von Manipulatoren gekidnappt?

Samstag, 22. Juni 2024

Kriege entstehen in den Köpfen

Kriege wirken auf die betroffenen Menschen wie Naturkatastrophen, denen sie machtlos ausgeliefert sind. Aber es ist nicht die Natur, die Kriege hervorbringt. Manche meinen, es wäre die animalische Seite des Menschen, die zur Gewalt neigt und zum Berserker wird, wenn die Ressourcen knapp werden und von Artgenossen bedroht sind. Das wäre der Ursprung für das Kriegführen. Doch wegen der hohen Zerstörungskraft, die von menschlichen Kriegen ausgeht und die mit jeder Weiterentwicklung der Technik wächst, sind Kriege hochriskante Abenteuer, und das, was für ihre Entfesselung notwendig ist, geht weit darüber hinaus, was animalische Triebe hergeben. Die Motive, die hinter dem Auslösen von Kriegen stecken, sind viel komplexer.

Der Historiker Yuval Harari sagt in einem Videogespräch: „Menschen kämpfen nicht um Land oder Nahrung. Sie kämpfen wegen imaginärer Geschichten in ihrem Verstand.“ Diese Sichtweise verstehe ich folgendermaßen: Die Motive, einen Krieg zu führen, stammen nicht aus unerfüllten Bedürfnissen und davon ausgelösten Frustrationen von Einzelpersonen oder Kollektiven, sondern daraus, dass diese Bedürfnisse mit der Vorstellung verknüpft werden, dass sie nur durch einen Krieg erfüllt werden könnten. Es besteht Hunger, und das Bedürfnis ist, Nahrung zu bekommen; es gibt dazu verschiedene Wege, und einer davon ist es, Krieg zu führen, wenn z.B. ein Land dem anderen die Lebensmittelzufuhr abschneidet. Welcher Weg gewählt wird, entscheidet nicht das Bedürfnis, sondern das Denken. Es wählt unter den Optionen diejenige aus, die am wahrscheinlichsten, am schnellsten oder am nachhaltigsten einen Erfolg verspricht. Diese Wahl wird aus Erzählungen gespeist, die sich vor allem aus Opfergeschichten unter Verwendung von Täterkonstrukten zusammensetzen. Der Opferstatus dient zur Rechtfertigung der Gewaltanwendung gegen den Täter. Um diesem demütigenden Zustand zu entkommen, ist jedes Mittel recht. 

Vorstellungen, die ein gewaltsames Vorgehen als einzige Lösung einschätzen, stammen aus Gefühlen der Verzweiflung und Ausweglosigkeit. Die Vernunft ist außer Kraft gesetzt. Unbewusste Ängste liefern die alleinige Triebkraft für die Aggressionen. Diese Ängste werden von Denkkonstrukten erzeugt, die einen Opfer-Täter-Zusammenhang suggerieren, der nur durch die Vernichtung des Täters aufgelöst werden kann. Der Opferstatus kann nur durch die Übernahme des Täterstatus überwunden werden, so die Gefühlslogik, die hinter jeder kriegerischen Aggression steckt. Nur wenn ich so böse werde wie der Täter, der mich zum Opfer gemacht hat, kann ich die Schande des Opferseins ausgleichen. 

Opfererzählungen nähren sich auf der individuellen Ebene aus einem mangelhaften Selbstwert; auf der kollektiven Ebene ist es genauso. Es wird nur das Mangelhafte am eigenen Kollektiv wahrgenommen, eben die Unterlegenheit gegenüber einem anderen Kollektiv, und dieser Mangel kann nur dadurch behoben werden, indem das andere Kollektiv besiegt und unterworfen wird.

Nehmen wir das Beispiel des Russland-Ukraine-Krieges. Der russische Diktator hat diesen Krieg unter Verwendung mehrerer Narrative entfesselt. Prominent dabei ist die Auffassung, dass Russland seine nationale Größe nach dem Zerfall der Sowjetunion verloren hat und dass die Größe weiterhergestellt werden muss. Russland ist in eine Mangellage geraten, die Verkleinerung des Staatsgebietes hat den nationalen Wert gemindert und das Land in einen Opferstatus gerückt. Als Täter eignet sich der Westen, insbesondere die NATO, die sich auf Kosten von Russland ausbreiten will und das Land immer mehr an den Rand drängt. Da die Ukraine, die Teil der Sowjetunion war, sich dem Westen zuwenden will, stellt sie eine weitere Bedrohung dar, die den Opferstatus Russlands noch mehr verschärfen würde. Also, wo kein Wille ist, bleibt nur die Gewalt. Es geht folglich Russland bei diesem Krieg nicht darum, mehr Land und damit mehr Macht zu gewinnen (Land hat, wie Harari bemerkt, Russland mehr als genug), sondern darum, den Opferstatus, der aus dem Narrativ der eigenen Minderwertigkeit hervorgeht, zu eliminieren und damit die eigene Geschichte vom Opferstatus in die Täterrolle zu drehen. 

In einem Spiegel-Interview sagt Harari: „Nationale Interessen sind oft nicht durch objektive Vernunft geformt, sondern entstehen aus mythologischen Narrativen, die sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt haben.“ Ebenso, wie Nationen als solche schon Schöpfungen von Erzählungen sind, sind nationale Interessen aus den Gefühlsenergien dieser Erzählungen gespeist. Der Begriff eines nationalen Interesses wird von Politikern gerne verwendet, wenn sie Machtansprüche ausdrücken wollen und gehört zur Rhetorik der Vorbereitung von Kriegen. Gesellschaften verfügen über die unterschiedlichsten Interessen, z.B. ganz zentral das Interesse am Frieden. Denn nur im Frieden kann das Zusammenleben der Menschen gedeihen. 

Werden Gesellschaften mit Nationen gleichgesetzt, so dringen die nationalen Erzählstränge in die Mentalität der Gesellschaft und in die Psyche ihrer Mitglieder ein. Diese Narrative dienen der Herstellung der Identifikation der Mitglieder mit dem Kollektiv. Auf diese Weise wurden und werden Gesellschaften in Nationen umfunktioniert und auch die Interessen der Mitglieder denen der Nation untergeordnet. Diese Verschiebungen bilden die Grundlage für die Kriegsbereitschaft in der Moderne. 

Die furchtbaren Erfahrungen zweier Weltkriege, die aus diesen Dynamiken entstanden sind, haben dazu geführt, Ansätze einer übernationalen Weltordnung zu erstellen. Die Langsamkeit der Entwicklung der weltweiten Zusammenarbeit zeigt, wie tief die „mythologischen“ Nationalnarrative verankert sind. Aus diesen Gründen entstehen immer wieder neue kriegerisch ausgetragene Konflikte, zum Schaden der betroffenen Menschen und der Menschheit insgesamt. Jeder neue Krieg ist ein massiver Anschlag auf die Menschenwürde und stellt eine Schande dar, für die Verantwortlichen und für die Menschheitsfamilie. Das Versagen der Friedenspolitik, das wir in den letzten Jahren beobachten und bedauern können, zeigt die Macht der unbewussten Kräfte aus dem Zusammenspiel von Opfer- und Täterrollen auf der Basis von gedanklichen Konstrukten.

Zum Weiterlesen:
Braucht es einen Krieg? Wer braucht einen Krieg?
Kriegsverbrechen und Schamverdrängung
Krieg und Scham
Pazifismus in der Krise?
Das Kämpfen nährt den Kampf


Samstag, 15. Juni 2024

Über das Verrückte und das Verrücken

 Verrückt ist ein Begriff, der normalerweise für Geistesgestörte gilt. Wir verwenden ihn in der Alltagssprache auch, um Situationen oder Menschen zu beschreiben, die uns nicht passen oder die uns sehr stören: “Das Wetter schlägt verrückte Kapriolen,” “Der Verrückte hat, ohne zu blinken, die Fahrspur gewechselt.”  

Hier werde ich den Begriff in einem übertragenen Sinn erörtern: als Bezeichnung für etwas, das von einem Ort an einen anderen verschoben, also verrückt wurde. Wenn eine Verrückung stattfindet, verschwindet eine alte Ordnung und eine neue entsteht. Das Alte macht Platz für das Neue, sobald ein verrückender Eingriff erfolgt ist. Manche Leute stellen immer wieder ihre Möbel um, damit im Außen ein neuer Eindruck entsteht. Wenn wir in unserem Inneren unsere Möbel, also die sperrigen Dinge, die sich im Lauf der Zeit angehäuft und festgesetzt haben, aber nur im Weg stehen, umstellen, gewinnen wir neue Einsichten. Jede Nacht wird unser Gehirn gereinigt, indem entfernt wird, was sich während des Tages als Abfall angesammelt hat. Die Schadstoffe werden entfernt, damit am nächsten Morgen neue Gedanken und Ideen kommen können. Das Gehirn ist gewissermaßen jeden Morgen neu aufgestellt, um für die Herausforderungen des Tages gerüstet zu sein. 

Entrümpeln wir auf ähnliche Weise unser Inneres, so machen wir uns zunächst klar, was von unserem Inventar wir noch brauchen und was wir loswerden wollen. Bei Letzteren sollte es vor allem den Gewohnheiten an den Kragen gehen, die wir als schädlich für uns selber einstufen. Sie melden sich vollautomatisch und selbstverständlich, als hätten sie alles Recht auf ihre uneingeschränkte Macht. Tatsächlich bilden sie eine Phalanx, die stur, unerbittlich und unbeweglich ihren Platz behauptet. Mit der Autorität eines Elternteils setzen sie sich gegen alle anderen Stimmen durch. Wenn alles zurechtgerückt ist und an seinem angestammten Ort befindet, bewegt sich nichts mehr. Starre Gewohnheiten regeln das Leben in eingefahrenen Bahnen. Jede kleine Änderung bewirkt eine Irritation und Verunsicherung. 

Wenn wir bestimmte Gewohnheiten eindämmen wollen, die unserem Handeln die Regeln vorgeben, uns aber nicht guttun, so hilft uns die archetypische Gestalt des Narren. Mit seiner spielerischen und spontanen Haltung unterläuft er die Starrheit der Gewohnheiten. Der Narr heißt manchmal auch der Trickser. Er verfügt über das Überraschende und Unerwartete, wie ein tricksender Fußballspieler, der mit Körpertäuschung und Wendigkeit den Gegner überspielt. Er kann alle auf die Schaufel nehmen, allem ein Schnippchen schlagen, und in Windeseile verrückt er die Dinge. Schon hat er sich selbst wieder neu erfunden. 

Die eigene Welt muss immer wieder aus den Fugen geraten, damit sich die Dinge, die am falschen Ort sind, neu konfigurieren. Manchmal warten wir so lange damit, bis eine von außen kommende Erschütterung das bestehende Ordnungsgefüge zum Einsturz bringt. Besser ist es, wenn es ein bewusst gesetzter Schritt ist, mit dem ein Wagnis eingegangen wird, aus gewohnten Bahnen auszubrechen und die Spielräume der inneren Freiheit zu erweitern.  

Streben wir nach mehr Freiheit, so ist das moderate Ausleben der Verrücktheit ein probater Weg. Die einengende Ordnung wird in ein Chaos verwandelt, um zu einer neuen Ordnung zu finden. Die Kunst besteht darin, das Chaos nicht zu groß werden zu lassen, sodass wir den Bezug zum Verrücken aufrechterhalten können. Das Verrücken ist ein bewusster Akt zur Veränderung einer Gewohnheit. 

Nimmt es allerdings unkontrolliert überhand, so wird rasch die Grenze erreicht, jenseits derer das Chaos zu mächtig wird und aus dem Akt des Verrückens eine krankheitswertige Verrücktheit entsteht. Wenn zu viele Elemente unserer Innenwelt auf einmal durcheinanderkommen, verlieren wir den Überblick und das Gefühl für das Zentrum. Wir können nicht mehr klar zwischen Wichtigem und Unwichtigem und zwischen Innerem und Äußerem unterscheiden. Dann brauchen wir professionelle Hilfe, um wieder zu unserer Mitte zurückzufinden.  

Es ist also eine Frage der Dosis: Ohne einen Schuss von Verrücktheit ab und zu ist das Leben trocken und langweilig, kontrolliert und starren Regeln folgend. Mit zu viel der ausgelebten Spontaneität verlieren wir den Bezug zum eigenen Zentrum und zu dem, was wir sind und was wir eigentlich wollen.  

Zum Weiterlesen:
Der Narr

 


Samstag, 1. Juni 2024

Selbsthass und Körperscham

Der eigene Körper zählt zu den Vorgegebenheiten unseres Lebens, auf die wir nur einen geringen Einfluss haben. Unsere Augen- und Haarfarbe, unsere Körpergröße und die Form der Schönheit unseres Äußeren sind durch die genetischen Anlagen vorbestimmt. Sicher gibt es noch weitere Einflüsse auf unsere Außenerscheinung, wie z.B. die Ernährung oder die emotionale Stabilität, mit der wir aufgewachsen sind. Es gibt auch Korrekturmöglichkeiten für körperliche Mängel durch die moderne Medizin. Aber all diesen Eingriffen sind Grenzen gesetzt, die in unserem Genom festgelegt sind.

Die Kultur ist Trägerin von Wertmaßstäben und Idealen, was den menschlichen Körper anbetrifft. Körperliche Fitness z.B. ist ein moderner Standard. In früheren Zeiten war ein beleibter Körper Anzeichen von Wohlhabenheit, heutzutage gilt er als Hinweis auf schlechte Essgewohnheiten und mangelnde Bewegungsfreude. Die Schlankheit als Markenzeichen weiblicher Schönheit hat sich erst dann als Idealmaß etabliert, als sich durch den Einfluss der Empfängnisverhütung die kulturellen Bilder von Weiblichkeit und Fortpflanzungsfähigkeit entkoppelt haben. 

Psychologen haben festgestellt, dass es Menschen, deren Äußeres nach den gängigen Maßstäben als schön wahrgenommen wird (und das sind nach anderen Forschungen ca. 10 Prozent), leichter haben im Leben. Ihnen wird grundsätzlich mehr Vertrauen entgegengebracht als hässlichen Personen. Sie finden leichter eine Arbeit und einen Partner. Für Menschen, die dem Ideal weniger entsprechen, gibt es dann nur die Möglichkeit, den Leistungsidealen, die ebenso von der Kultur vorgegeben sind, zu entsprechen, und auf diese Weise Anerkennung zu erlangen. Nach wie vor sind in vielen Bereichen die Männer vor den Frauen bevorzugt. Männer, die es zu Ruhm oder Geld gebracht haben, wirken relativ unabhängig von ihrem Äußeren auf Frauen attraktiv, während reiche Frauen ohne äußere Zier viel schlechter bei den Männern  ankommen.

Als Mängel und Schwächen wahrgenommene Aspekte der eigenen Körperlichkeit sowie nicht erreichte Schönheits- oder Leistungsideale geben Anlass für Scham und Selbsthass. Ein Körper, für dessen Aussehen man keine Verantwortung hat, der einem aber nicht gefällt, wie er ist, kann für den Verstand zum Objekt für eine permanent wirksame Selbstablehnung werden, die kontinuierlich den Selbstwert untergräbt. Auf diesen einzigen Körper, den wir haben, wird das ganze Unglück projiziert, das erfahren wird und mit jedem Blick in den Spiegel Bestätigung findet. Der Hass drückt die Spannung zwischen der Ohnmacht und dem Selbstvernichtungswunsch aus.

Mediale Ideale

Die allgegenwärtige Medienwelt, in der wir uns tagtäglich aufhalten, verstärkt und verschärft die Idealansprüche, die den Menschen auferlegt werden und denen sie sich oft leichtfertig unterordnen. Viele Menschen machen ihren eigenen Körper zum Schauobjekt auf diversen Plattformen, und die Aufrufe und Likes, die dafür einlangen, bestimmen den Selbstwert und die Selbstachtung. Manche Leute schönen die veröffentlichten Bilder von sich selbst mittels Bildbearbeitung und künstlicher Intelligenz und schaffen sich damit ein Doppelleben – ein reales mit einem ungenügenden Körper und ein virtuelles mit dem idealen Aussehen. Die irreale Präsenz in der Welt der sozialen Medien soll das quälende Schamgefühl ausgleichen, das das Leben in der realen Welt kennzeichnet. Je mehr Zeit mit dem selbstgeschaffenen Bild von sich selbst verbracht wird, desto realer wird es im eigenen Kopf und desto schemenhafter wird die wirkliche Wirklichkeit, bis die Abwehr des Schamgefühls in Wahnvorstellungen mündet.

Auch hier handelt es sich um verinnerlichte fremde Stimmen, die das körperliche Selbstempfinden dominieren. Die kulturellen oder subkulturellen Gebote sind besonders dann wirksam, wenn zunächst der Selbstbezug und daraus dann der Selbstwert von früh an geschwächt wurden. Zuerst sind es die abschätzigen Blicke der Eltern, die das Schamgefühl auslösen, dann die Begutachtungen durch die Gruppe der Gleichaltrigen und schließlich die medialen Scheinwelten, die das Innenempfinden in Geiselhaft nehmen. Die Menschen orientieren sich in ihrem Aufwachsen zunehmend an äußeren Instanzen, weil die innere Sicherheit für Werthaltungen und Normen schon von den Anfängen her geschwächt ist. Es sind dann andere, an die die Zuständigkeit für die Bestätigung des Eigenwertes abgetreten wird, in dem Fall die anonyme Mächte der kulturellen Normen. So zu sein und dem zu entsprechen, wie es diese Werte verlangen, wird dann zur existenziellen Notwendigkeit. Denn es droht beim Nichterreichen dieser Ideale die Existenzscham mit ihrer Wucht, begleitet vom Selbsthass auf das Äußere. Die äußere Körperform ist nun mit dem gesamten unsicheren Selbst aufgeladen.

Von dieser Gefühlsdynamik wird eine riesige und stetig wachsende Industrie für Kosmetika, Schönheitsmittel und -operationen, Beauty-Wellness sowie der gesamte Wirtschaftssektor der Mode in Betrieb gehalten. Die Glitzer- und Glamourwelt, die immer wieder neue Leitfiguren hervorbringt, lebt von diesen Mechanismen und befeuert und belebt sie auch dadurch, dass sie in den jungen Leuten die Hoffnung weckt, nach oben kommen zu können, zu den Schönen und Reichen zu zählen und die allgemeine Bewunderung zu ernten – oder die Ängste schürt, es nicht zu schaffen und in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.

Das Schöne an der Schönheit

Natürlich spielen viele andere Motive und Bedürfnisse im Umfeld der Schönheitsbegriffe mit. Die Menschen wollen sich aus vielen Gründen schön machen, sie wollen füreinander ihre Schönheit teilen, anerkennen und anerkannt werden. Viel Kreativität findet in diesen Bereichen Ausdruck. Es gibt auch wichtige Zusammenhänge zwischen Schönheit und Gesundheit. Das Äußere eines Menschen kann wegen einer Krankheit an Schönheit einbüßen, während ein gesund gehaltener Körper in sich eine Schönheit trägt, die nicht immer mit kulturell geprägten Schönheitsbegriffen gemessen werden kann.

Doch wie in allen menschlichen Angelegenheiten gibt es auch hier Licht- und Schattenseiten. Jede Fixierung auf das Äußere und seinen Glanz oder sein Elend trägt und nährt narzisstische Züge, die durch ökonomische Antriebe und kulturelle noch zusätzlich verstärkt werden. Das nach außen wirksame Bild ist maßgeblich und bestimmt über das Innere. Immer, wenn der Wert der eigenen Innerlichkeit ignoriert wird und der Bezug dazu verzerrt oder unterbrochen ist, entstehen Schamgefühle, und sobald diese Selbstmissachtung als unangenehmes Gefühl spürbar wird, kann die Scham in Selbsthass umschlagen. Die Quelle des Übels ist das unvollkommene Äußere, das der Hass in seiner vorgegebenen Form beseitigen will.

Zum Weiterlesen:
Selbsthass: Sich selbst der ärgste Feind sein
Schönheit wird die Welt retten
Schönheitsideale und Wahrnehmungsschwächen


Mittwoch, 29. Mai 2024

Bedürftigkeit und Scham

Bedürftig kommen wir in die Welt, und in den meisten Fällen verlassen wir die Welt bedürftig, also angewiesen auf andere, die uns helfen und unterstützen. In der Zwischenzeit ist uns allerdings der Zustand der Bedürftigkeit äußerst unangenehm, viel unangenehmer als einzelne Bedürfnisse, die wir uns nicht gönnen wollen. Wir verbinden Bedürftigkeit mit dem unbedingten Angewiesensein auf Hilfe und Unterstützung. Wir könnten es alleine nicht schaffen, und das finden wir sehr beschämend. Wir denken dabei vielleicht an jemanden, der an den Rollstuhl gefesselt ist, und befürchten, dass es uns selbst auch einmal so gehen könnte.

Tatsächlich befinden wir uns viel häufiger in Zuständen der Bedürftigkeit als wir üblicherweise denken. Wenn wir in einer Sache nicht mehr weiter wissen, die uns wichtig ist, brauchen wir jemanden, der uns weiterhilft. Wir sind von diesen Personen abhängig, sonst können wir unser Problem nicht lösen.

Das ist der Fall, wenn wir einen Handwerker für die defekte Heizung brauchen, oder wenn wir wegen einer Krankheit eine Ärztin konsultieren müssen. Auch wenn wir uns emotional im Eck fühlen, sind wir auf Freunde oder Therapeuten angewiesen, damit sie uns wieder aufrichten.

Es sind also Situationen, die in jedem menschlichen Leben vorkommen und Teil des sozialen Austausches darstellen: Eine Person ist bedürftig und andere unterstützen sie, um sie aus dem Zustand der Bedürftigkeit herauszuholen. Einander helfen und einander helfen lassen, ist eine Grundkomponente des zwischenmenschlichen Austausches. Zu helfen (die aktive Seite dieses Austausches) bewirkt mehr Selbstkompetenz – mit jeder Hilfeleistung lernen wir etwas. Sich helfen zu lassen (die passive Seite dieses Austausches) bewirkt mehr Vertrauen in die helfende Person. Insgesamt werden die sozialen Bande gestärkt und die Menschen einander nähergebracht.

Aber viele Beobachtungen weisen darauf hin, dass diese Selbstverständlichkeit des Helfens und die Bereitschaft zum Sich-Helfen-Lassen schwinden, während die Autarkiebedürfnisse stärker werden. Jeder will seine eigenen Sachen selber schaffen können, ohne auf andere angewiesen zu sein. Vermutlich hängt diese Tendenz mit der Konditionierung zusammen, die der Kapitalismus in die Seelen der Menschen eingepflanzt hat: Jeder muss schauen, wie er sich alleine seinen Lebensunterhalt sichert. Die Idee des vereinzelten Menschenwesens, das sich abmüht und ab und zu dazwischen in Kontakt mit den Mitwesen tritt, ist eine Erfindung, die aus der Logik dieser Wirtschaftsweise entstanden ist. 

Zwischenmenschlicher Austausch, also auch das Hilfeleisten, ist in dieser Sichtweise ein Geschäft, bei dem Leistung und Gegenleistung bilanziert, also gegengerechnet werden. Er wird also in ökonomische Begriffe übersetzt und quantifiziert. Aus freiwilligen Hilfeleistungen im familialen und nachbarschaftlichen Umfeld sowie in Freundschaften werden Dienstleistungen, die nach bestimmten Tarifen abgerechnet werden. Die Beziehungen werden dadurch abstrakter, also unpersönlicher. Das kommt der Autarkiescham entgegen. Es fällt uns nicht auf, dass wir uns bei den verschiedenen Alltagsproblemen in Zuständen der Bedürftigkeit befinden. Also vermeiden wir die Schamgefühle, die mit der Bedürftigkeit verbunden sind. 

Denn in gewisser Weise rutschen wir ins kindliche Bewusstsein, wenn wir in praktischen Dingen oder auf der emotionalen Ebene anstehen und nicht weiter wissen. Und das mag unser Erwachsenen-Ich überhaupt nicht und schämt sich schnell dafür. Deshalb verdrängen wir unsere diversen kleinen Bedürftigkeitserfahrungen, die immer auch mit Abhängigkeiten verbunden sind. 

Die Bedürftigkeitskompetenz

Machen wir uns aber mehr bewusst, wie häufig wir und auch alle anderen bedürftig sind, dann brauchen wir uns auch nicht mehr darüber zu schämen. Es ist Teil des Menschseins und zugleich ein förderliches Mittel zur Verbesserung des sozialen Miteinanders. Wir sollten also unsere Bedürftigkeit mehr wahrnehmen und pflegen, statt nur unsere Autarkiebedürfnisse zu stärken. Das bedeutet nicht, dass wir nicht weiterlernen sollten, sondern umfasst auch die Bereitschaft, unsere Fähigkeiten zu entwickeln, mit denen wir uns selbst helfen können. Die „Bedürftigkeitskompetenz“, also die Fähigkeit und Bereitschaft, die eigene Bedürftigkeit zu erkennen und anzuerkennen und nach entsprechender Hilfe zu suchen, ist nicht mit erlernter Hilflosigkeit zu verwechseln, also mit einer Einstellung, sich selbst nichts zuzutrauen und andere mit den eigenen Problemen zu belasten. Wir brauchen ein gutes Gleichgewicht zwischen Selbstkompetenzen und der Bereitschaft, uns helfen zu lassen. 

Ein weiterer sozialer Gewinn von mehr Bewusstheit über das Bedürftigsein liegt darin, dass wir dann Menschen mit offensichtlicher Bedürftigkeit mit anderen Augen wahrnehmen. Wenn wir z.B. jemandem begegnen, der im Rollstuhl sitzt, dann sehen wir ihn in einer stärkeren Form von Bedürftigkeit als die, die wir von uns kennen, wenn wir das Glück haben, uns ohne Hilfsmittel fortbewegen zu können. Wir sind weniger bedürftig als dieser Mensch, aber nicht grundsätzlich verschieden. 

Die Scham-Stolz-Schaukel und die Bedürftigkeit

Das Bewusstmachen dieses feinen Unterschieds macht es uns möglich, aus einer Scham-Stolz-Schaukel herauszufinden, die sonst automatisch abläuft, wenn wir jemanden treffen, den wir als bedürftig einschätzen. Denn wenn es jemandem schlechter geht als uns selber gerade, befällt uns ein heimlicher Stolz, dass wir von dem Leid nicht betroffen sind. Auch wenn wir Mitgefühl mit dem Leid empfinden, gibt es noch einen inneren Anteil, der froh ist, nicht in dieser Lage sein zu müssen. Dieser egoistische Teil in uns trennt uns vom Leid der anderen, weil er um unsere Sicherheit bangt und uns auf ein Terrain bringen will, von dem aus wir die Not aus sicherer Distanz wahrnehmen. Wir schützen uns vor einer tieferen Betroffenheit, die auch das Mitgefühl verstärken würde, indem wir diese Position des Stolzes einnehmen. Aus dieser Perspektive meldet sich leicht auch ein Schuss von Verachtung, die sich darin äußern kann, dass wir manchmal denken, dass jeder für seine Not selbst verantwortlich ist, also selber schuld ist. Mit solchen Konzepten distanzieren wir uns noch mehr und richten es uns gemütlich auf unserer distanzierten Insel ein.

Es ist dieser Stolz, der die Betroffenen die Scham über ihre Lage spüren lässt. Ohne den überheblichen Stolz der Gesunden bräuchten sich die Kranken und Bedürftigen nicht zu schämen. Mit der Bewusstheit aber, dass wir all die Bedürftigkeit und das Angewiesensein auf andere kennen und oft schon erlebt haben, fällt der Stolz weg und wir können ein von jeder Überheblichkeit und Verachtung gereinigtes Mitgefühl empfinden.

Zum Weiterlesen:
Über Schwäche und Bedürftigkeit
Vom Geben und Nehmen


Donnerstag, 25. April 2024

Die Höhenangst und ihre pränatalen Wurzeln

Vielen geht es so, dass sie eine eigentümliche Angst empfinden, wenn sie vor einem Abgrund stehen: Es ist nicht nur die Angst vor der Tiefe, die sich vor einem auftut, sondern die Angst, die Kontrolle zu verlieren, sodass ein unbeherrschbarer innerer Impuls plötzlich das Kommando übernimmt und befiehlt, sich hinunterzustürzen. Es handelt sich also um eine Angst vor einem Kontrollverlust, die im Gegensatz zur Realwahrnehmung steht, nach der der eigene Körper auf einem sicheren Grund steht und es keinen Impuls gibt, den Schritt in den Abgrund zu setzen. 

Woher könnte dieser seltsame Angstgedanke kommen? Wir haben alle schon in unserem Werdegang ähnliche Situationen erlebt. Die eine hat sich noch vor der Befruchtung abgespielt, als die Eizelle, aus der wir entstanden sind, aus dem Verband der Eizellen in den Eileiter „gesprungen“ ist – der sogenannte Eisprung. Die andere hat sich in der ersten Zeit der Schwangerschaft ereignet: Beim Übergang vom Eileiter in die Gebärmutter, also vor der Einnistung.

Der Eisprung (Ovulation)

In den Eierstöcken reifen nach jeder Monatsblutung Eizellen in mehreren Eibläschen (Follikeln) heran. Etwa 10 bis 14 Tage vor der nächsten Monatsblutung kommt es in der Regel bei einer der Eizellen zum Eisprung. Das Eibläschen platzt und gibt die Eizelle frei. Sie wird vom trichterförmigen und beweglichen Ende des Eileiters aufgefangen. Muskelbewegungen und feine Härchen (Zilien) transportieren die Eizelle dann im Eileiter langsam weiter, wo sie dann auf Samenzellen wartet.

Die reife Eizelle muss sich also auf einen Sprung ins Unbekannte einlassen. Es gibt eine Kraft, die zu diesem Schritt drängt und vermutlich eine Kraft, die zurückhält, die Angst vor der Ungewissheit. Die weitertreibende Kraft setzt sich durch, sonst könnte es zu keinen Schwangerschaften kommen. 

Die Einnistung (Nidation)

Die Einnistung geschieht zwischen dem 5. und 10. Tag nach der Empfängnis. In dieser Zeit hat sich der Embryo entwickelt und zum Ende des Eileiters bewegt. Er verfügt bereits über eine Plazenta, die dann die Aufgabe der Einnistung übernimmt und anfangs stärker wächst als der Fötus. 

Zilien (Flimmerhaare), Muskelkontraktionen und peristaltische Prozesse sorgt dafür, dass der Transport und der Zeitablauf stimmen. Die Bewegung erfolgt dabei nicht linear und zielstrebig, sondern zeigt Kreisbewegungen und zeitweiliges Steckenbleiben an Verengungen des Eileiters. Falls die Reise des Embryos im Eileiter aufhört, entwickelt sich eine Eileiterschwangerschaft, die der Embryo nicht überleben kann und die auch viele Risiken für die Mutter mit sich bringt. 

Auch hier können wir von zwei widerstrebenden Kräften ausgehen. Einerseits will die Lebenskraft den für die erfolgreiche Fortpflanzung notwendigen Schritt bewirken, andererseits besteht die Angst vor dem Fallen mit einem ungewissen Ausgang. Wenn kein geeigneter Platz zum Einnisten gefunden werden kann, bedeutet das den Tod. Wir können spekulieren, dass der Embryo den nächsten Schritt seiner Reise hinauszögert, weil er sich in der Gebärmutter nicht willkommen fühlt. Dann gibt es nur die Möglichkeit, dass die Weiterentwicklung im Eileiter stattfindet, wo aber der Platz viel zu klein ist und bald platzt, was dann zu massiven Bedrohungen für die Mutter führt und die Schwangerschaft beendet, oder dass der Embryo gleich abstirbt.

Wird aber der Schritt vollzogen, und das ist bei jeder gelungenen Schwangerschaft der Fall, dann setzt sich die vorwärtstreibende Kraft des Lebens gegen die Angst durch, und das Leben entwickelt sich nach Plan weiter.

Die Höhenangst und ihre Überwindung

Wir können nun annehmen, dass wir uns an diese Momente (vor dem Eisprung und vor der Einnistung) erinnern, wenn wir vor einem gähnenden Abgrund oder auf dem Dach eines Hochhauses stehen. Wir erleben eine Kraft, die uns vorwärts drängt – es ist die Lebenskraft, die uns in den frühen Momenten unseres Lebens zum Weitergehen motiviert hat. Sie war damals notwendig, um unsere Entstehung, unser Überleben und unser Wachstum zu gewährleisten. Jetzt, in der Erfahrung am Rand eines Steilhangs, ist sie fehl am Platz. Sie kommt aus den unbewussten Tiefen unseres Angstgedächtnisses, in dem die frühen Entwicklungsmomente abgespeichert sind. Sie stößt im aktuellen Erleben auf die reale Angst, die uns davor warnt, in den Abgrund zu stürzen. Sie setzt sich immer durch, außer es mischen sich in diese Situation suizidale Impulse ein, die aus dunklen Quellen von Scham und Verzweiflung herrühren. Im Normalfall weiß unser Körper, dass er auf einem sicheren Boden steht und dass ihm nichts passieren kann. Es ist nur der Gedanke, der uns Angst macht und der wieder verschwindet, sobald wir uns von dem Blick in die Tiefe gelöst haben. Wir vergessen in diesem Moment auf unseren Körper und seinen festen Stand sowie auf unser Lebensvertrauen, das den verhängnisvollen Schritt nie zulassen würde, weil wir von einer alten, unbewusst aufbewahrten Erinnerung übermannt werden.

Wenn wir uns diese Zusammenhänge bewusst machen, kann es uns helfen, die Erfahrung des Stehens an Abgründen im direkten und übertragenen Sinn in unserem Leben besser zu ertragen und ohne Angst zu erleben. Es zeigt uns auch, dass wir schon Momente überstanden haben, in denen eine Überlebensangst aufgetaucht ist, die wir aber mit Hilfe unseres Lebensvertrauens überwunden und bewältigt haben.

In der akuten Situation können wir die auftauchende Angst beruhigen, indem wir uns auf unsere Füße fokussieren und den sicheren Untergrund wahrnehmen, auf dem sie stehen, unsere Atmung spüren und uns kognitiv klarmachen, dass alles in Ordnung ist und dass wir die volle Kontrolle über unsere Impulse haben.


Mittwoch, 10. April 2024

Leitkultur - ein Unding

„Als Österreicherinnen und Österreicher sind wir stolz auf unsere österreichische Identität: Auf unsere liberale Demokratie, christliche Werte, Traditionen und Bräuche.“ Der Satz, der als Einleitung zur Diskussion über eine „Leitkultur“ in Österreich gedacht ist, verdient nähere Betrachtung, schließlich stammt er von Christian Stocker, dem Generalsekretär der stärksten Partei im österreichischen Parlament und der Partei, die aktuell den Bundeskanzler stellt. 

Es beginnt schon damit, dass es immer problematisch ist, wenn sich jemand als Sprecher der Allgemeinheit ausgibt, ohne dafür legitimiert zu sein. Herr Stocker ist Sprecher einer politischen Partei, die die Interessen ihrer Wählerschaft vertritt, aber nicht Sprecher aller Österreicherinnen und Österreicher. Er könnte höchstens beginnen mit: „Als ÖVP-Mitglieder und –Anhänger...“. Da er das nicht tut, begeht er einen höchst problematischen Übergriff. Alle Staatsbürger, die der Aussage nicht zustimmen können, müssten sich distanzieren und die Frechheit anprangern, mit der sie für politische Zwecke missbraucht wurden. 

Es wird behauptet, dass, wer Österreicher oder Österreicherin ist, stolz ist auf die österreichische Identität, daraus würde folgen, dass jene, die nicht (nur) stolz sind, sondern auch erkennen, was faul ist in diesem Land, nicht dazugehören oder nur mangelhafte Staatsbürger sind. Wer kritisiert, kann ja gleich gehen und sich anderswo eine Bleibe suchen. Wir sind nicht einfach stolz, wenn wir stolz sind, sondern haben auch stolz zu sein, so als gehörte dieser Stolz zum Österreichersein wie die Geburtsurkunde. Diesen Stolz nicht zu teilen, ist ein Ausschlussgrund vom Österreichersein. Wer nicht nur nicht stolz ist, sondern sich vielmehr schämt für vieles, was in unserem Land abläuft und eigentlich eine Schande ist, hat nach Stockers Aussage die Zugehörigkeit verwirkt. 

Identität

Der Stolz bezieht sich auf „unsere österreichische Identität“. Unter Identität versteht man wohl das, was einen Österreicher zum Österreicher macht. Das ist natürlich eine spannende Frage, auf die es vermutlich so viele Antworten gibt, wie es Österreicher und Österreicherinnen gibt.

Im Zitat werden vier Suchfelder genannt, in denen diese Identität gefunden werden könne: liberale Demokratie, christliche Werte, Traditionen und Bräuche.

Liberale Demokratie und christliche Werte

Gegen die liberale Demokratie gibt es aus meiner Sicht wenig einzuwenden, sie ist mir jedenfalls lieber als eine illiberale Demokratie, die wie in Ungarn als Deckmantel für eine Kleptokratie (eine Herrschaftsform der Diebe und Korrupten) dient. Eine liberale Demokratie ist dadurch ausgezeichnet, dass alle Werthaltungen toleriert werden und alle Menschen- und Freiheitsrechte gelten. Deshalb kann sie nicht mit „christlichen Werten“ gleichgesetzt werden. Diese haben einen Platz im Sinn der Meinungs- und Religionsfreiheit, aber können keinen prominenteren Rang beanspruchen als andere religiöse und nichtreligiöse Orientierungen und daraus abgeleitete Wertordnungen. Zwar bekennen sich ca. zwei Drittel der Österreicher zu einer christlichen Religion, das heißt aber auch, dass sich ein Drittel nicht mit dieser religiösen Orientierung identifiziert. Dazu kommt noch, dass voll unklar ist und ein Feld vielfältiger Diskussionen darstellt, was überhaupt unter „christlichen Werten“ zu verstehen wäre und was nicht. Da sind sich nicht einmal die verschiedenen christlichen Kirchen einig. Außerdem ist es äußerst problematisch, christliche Werte für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Entweder haben wir eine liberale Demokratie oder eine christliche; eine liberale Demokratie, die auf christlichen Werten beruht, ist in einem Zeitalter der Säkularisierung und der Trennung von Staat und Kirche ein Widerspruch in sich. 

Traditionen

Jede aktuelle Gesellschaft ist das Produkt vielfältiger Traditionen, die meist an der Oberfläche bekannt und bewusst sind und deren emotionale Ladungen im Unbewussten schlummern, aufgeladen von kollektiven Traumen. Es wäre also empfehlenswert, sich diese Anteile und Antriebe bewusst zu machen, bevor bestimmte Traditionen in eine Leitkultur aufgenommen werden.  Sonst ist diese Kultur ein Produkt der in ihr wirkenden unbewussten Strömungen und damit ein höchst unsicheres Fundament für eine Gesellschaft. 

Die nächste Frage, die sich stellt, heißt, welche Traditionen hier gemeint sind. Es gibt eine Reihe von Traditionen, die höchst wirksam sind und zur österreichischen Identität gehören, wenn man so will, die ich aber für sehr problematisch halte, z.B.:

Die Tradition der Frauenverachtung

Die Tradition der Obrigkeitshörigkeit 

Die Tradition der Fremdenfeindlichkeit 

Die Tradition des Antisemitismus

Die Tradition des Deutschnationalismus

Die Tradition der aggressiven Abwertung jeder Form von moderner Kunst

Die Tradition des aggressiven Autofahrens und der Fetischisierung dieser Fortbewegungsart

Es wäre also sehr wichtig, zuerst klarzustellen, welche Traditionen überwunden und verabschiedet werden müssten, damit überhaupt so etwas wie eine österreichische Leitkultur diskutiert werden kann. Natürlich gibt es in Österreich auch Traditionen der Mitmenschlichkeit, des Widerstandes gegen Willkür, der Aufklärung und der Emanzipation, Traditionen der Multikulturalität aus einem Vielvölkerstaat, der religiösen Toleranz seit dem Toleranzedikt von Kaiser Joseph II., der sozialstaatlichen Verantwortung seit den ersten Sozialgesetzen und der Friedensstiftung seit der Neutralität und dem Engagement in der UNO sowie des Naturschutzes und des ökologischen Bewusstseins (z.B. bei der Mülltrennung). 

Wir verfügen also über eine reichhaltige Bandbreite an Traditionen, von denen einige entsorgt werden sollten und andere gestärkt werden müssten, um den Anforderungen einer liberalen Demokratie gerecht zu werden. All diese Traditionen schlagen sich in der heutigen Verfasstheit des Österreicherseins nieder. Wer aber kann sich anmaßen, diese Vielfalt auf irgendeinen sinnvollen Nenner zu bringen, wie er für eine Leitkultur notwendig wäre? 

Bräuche

Viele herkömmliche Bräuche der österreichischen „Volkskultur“ (ebenfalls ein problematischer Begriff) sind mit dem Trinken von Alkohol, dem Essen von fetten Fleischgerichten und dem Verzehr von zuckerreichen Mehlspeisen geprägt – eine Kultur, die viele Ernährungsexperten als gesundheitsschädlich einstufen. Soll das Leitbild zu ungesunder Lebensweise verpflichten?

Selbst das Brauchtum ist keine feststehende Größe, sondern befindet sich in permanenter Entwicklung. Angeregt durch die Konsumwirtschaft, werden immer mehr Brauchtümer aus der englischsprachigen Welt übernommen, wie z.B. der Valentinstag oder Halloween. Andere Brauchtümer werden, wie auch in vielen anderen Ländern, vor allem für den Tourismus hochgehalten. Wieviele Österreicher beherrschen wohl das Schuhplatteln? Viele sicher nicht; müssen alle nachlernen, wenn die  ÖVP-Leitkultur in die Verfassung kommt? Muss Mann hinkünftig Lederhosen mit Trachtenjanker tragen und Frau mit dem Dirndl ins Büro fahren?

Manche Landstriche in Österreich haben diese und andere wieder andere Bräuche, die mehr oder weniger intensiv gepflogen werden. Müssen nach ÖVP- Vorstellung alle Orte einen Maibaum und einen Christbaum haben? Müssen die Ostereier von Hühnern stammen oder dürfen sie aus Schokolade und Marzipan sein? Auch das Brauchtum ist vielgestaltig und in Bewegung und lässt sich nicht festschreiben.

Wozu überhaupt eine Leitkultur?

Ich verstehe Kultur als lebendigen und veränderungsreichen Prozess der Selbstdefinition einer Gemeinschaft oder Gesellschaft. Kulturen halten sich nicht an Staatsgrenzen, sondern leben vom Austausch mit anderen Kulturen. Was gestern ein unverzichtbarer Teil der Kultur war, kann übermorgen völlig vergessen sein. Jedes Mitglied der Gesellschaft hat eine andere Beziehung zur Kultur und verändert diese fortlaufend. Kultur ist also das jeweilige Ergebnis der Aktionen aller Teilnehmer des Kulturraumes, in den alle diese individuellen Beiträge einfließen und daraus ein größeres Ganzes bilden.

Eine Leitkultur soll offenbar in dieser beweglichen Landschaft Straßen einbetonieren, anhand derer sich die Menschen fortbewegen sollen. Die Leitkultur soll kontrollierbar und überprüfbar machen, wer sich auf dieser Straße bewegt und wer nicht. Es gibt dann Leitkulturleiter, die diese Straßen vorschreiben und Leitkulturwächter, die Sanktionen für abweichendes Verhalten verhängen – eine schreckliche Vorstellung für alle, die Kultur mit Freiheit, Gestaltung und Kreativität verbinden.

Wenn überhaupt eine Leitkultur gefragt wäre, ist es abwegig, die Aufgabe der Formulierung gerade einer politischen Partei zu überlassen. Parteien haben ihren Zweck darin, partikulare Interessen zu vertreten, also bestimmte Bevölkerungsgruppen zu bevorzugen und andere zu benachteiligen. Sie haben keine besonderen Kompetenzen in kulturellen Belangen. Vielmehr hätten sie genug damit zu tun, eine einigermaßen akzeptable politische Kultur zustande zu bringen.

Leitkultur und Wahlkampf

Offensichtlich ist, dass es sich bei diesem von der ÖVP ventilierten Thema um ein Wahlkampfmanöver handelt, das dazu dienen soll, den Wählerabstrom nach rechts, also zur FPÖ, zu unterbinden. Offensichtlich ist auch, dass die österreichische Leitkultur gegen eine moslemische Kultur in Stellung gebracht werden soll, obwohl diese Absicht tunlichst verschwiegen wird. Aber die Warnungen vor einer Islamisierung des Landes (der Bevölkerungsanteil der Muslime liegt bei 8 Prozent) hallen seit Jahren aus den Lautsprechern der Propaganda der Rechtsparteien und schüren Ängste in der Bevölkerung. In diese Kerbe will offenbar die Leitkulturdebatte hineinschlagen und den ängstlichen Österreichern und Österreicherinnen eine Sicherheit suggerieren, die aber gerade aus der Kultur nicht gewonnen werden kann. Kultur gibt es nur als Prozess im Werden, der durch jede Form der Leitung und Kontrolle verhindert wird. In diesem Sinn sei der Debatte um die Leitkultur ein erkenntisreiches Scheitern gewunschen.

Leseempfehlung:
Vom Verlust der Mitte oder: Schluss mit "Leitkultur"

Donnerstag, 21. März 2024

Eine große Mehrheit für den Klimaschutz

Eine weltweite Studie  mit 130 000 Personen aus 125 Ländern hat ergeben, dass es eine überwältigende Mehrheit für den Klimaschutz gibt. 69 Prozent der Weltbevölkerung können sich vorstellen, auf 1 Prozent ihres Einkommens für Maßnahmen gegen den Klimawandel zu verzichten. 86 Prozent meinen, dass die anderen auch etwas gegen den Klimawandeln tun sollten, 89 Prozent finden, dass es eine stärkere Klimaschutzpolitik geben sollte.

Bei diesen Zahlen würde man sich denken, dass alle Parteien wetteifern, um die Wünsche ihrer Wähler und Wählerinnen nach einer effektiveren Klimapolitik zu erfüllen. Aber bei den meisten Parteien ist dieses Thema nachgereiht, wenn es überhaupt als sinnvoll angesehen wird. Es gibt ja nach wie vor genügend Anhänger der These, dass der Klimawandel nicht von den Menschen verursacht wird oder dass es ihn überhaupt nicht gibt, und damit auch Wählerstimmen, die vor allem rechte Parteien einheimsen wollen.

Diese Diskrepanz beruht auf sozialpsychologischen Phänomenen. Diese Zahlen sind so unbekannt, sodass die, die die Mehrheitsmeinung vertreten, glauben, dass sie in der Minderheit sind. Die Realität gibt ihnen ja Recht, es wird mäßig viel oder eher mäßig wenig gegen die Erderwärmung unternommen. Die meisten politischen Entscheidungsträger hängen sich gerne ein grünes Mascherl um, aber wenn es um die kurzfristigen Vorteile der eigenen Klientel geht, wird der Klimaschutz schnell in den Prioritäten weit nach hinten zurückgereiht. Es wissen also weder die Politiker noch ihre Wähler, dass sich die Mehrheit eine radikalere Klimapolitik wünscht. Die Meinung, zu einer Minderheit zu gehören, verleitet zur Resignation und hindert viele daran, für die Anliegen der Klimapolitik einzutreten. Dazu kommt, dass es neben den politischen auch handfeste wirtschaftliche Interessen gibt, die wirkungsvolle Klimamaßnahmen verhindern wollen und eine entsprechende Propagandamaschinerie zur Verfügung haben, die die sozialen Medien mit Falschmeldungen fluten. Man kann z.B. permanent lesen, wie leicht E-Autos brennen (was nicht stimmt) und wie schrecklich die Produktionsbedingungen sind (was auch nicht stimmt). Oder dass Windräder so viele Vögel umbringen (die meisten kommen durch Straßenverkehr um), usw.

Die Klimaproblematik können wir nur verbessern, wenn wir unseren Eigennutz einschränken. Diese Entscheidung wird uns erleichtert, wenn wir wissen, dass wir nicht alleine sind. Eine US-Studie hat ergeben, dass sich viele Menschen deshalb wenig für den Klimaschutz engagieren, weil sie annehmen, auch die anderen wollen nichts beitragen. Kaum jemand will der einsame Held sein, der auf seinen eigenen Vorteil zugunsten der Gemeinschaft verzichtet, während alle andere davon profitieren, aber selbst nichts beitragen. Da kommt man sich schnell blöd vor und reiht sich lieber in die Masse der selbstsüchtigen Ignoranten ein, als dass man als nützlicher Idiot dasteht. Wir verlassen uns auf einen gewissen Grad an Fairness, und wenn dieser nicht gegeben ist, sind wir auch bereit, unsere eigenen Werte zu verraten.

Dieser Rechtfertigungsmechanismus gilt übrigens auch für Kollektive. Ein in Österreich beliebtes Argument, um sich vor klimarelevanten Entscheidungen, z.B. Tempo 100, zu drücken, besteht darin, dass in dem kleinen Land – global gesehen – verschwindend wenige Treibhausgase reduziert würden, falls diese Maßnahme eingeführt würde. Wir tragen die „Kosten“ (weil sich damit für einige die Fahrzeiten verlängern) und der Nutzen könne vernachlässigt werden. Statt ein mutiger Vorreiter zu sein, warten wir ab und tragen unvermindert unser Scherflein zur Erderwärmung bei. Kommt eines Tages eine EU-Verordnung mit einem generellen Tempolimit, dann werden viele die Maßnahme als unzumutbaren Zwang auffassen uns sich dagegen aufregen. Aber nur  ist das böse Brüssel schuld, während die unschuldigen einheimischen Politiker auf ihre Wiederwahl hoffen dürfen, indem sie sich auf die EU ausreden können.

Dass es eine billige Verweigerung der Verantwortungsübernahme darstellt, das eigene klimaschädliche Verhalten durch Zahlenspiele zu rechtfertigen, habe ich schon an anderer Stelle argumentiert. Da diese Einsicht mit Scham verbunden wäre, wird sie entsprechend abgewehrt. Es ist also die Scham, die maßgeblich an klimaschädigender manipulativer Propaganda und Selbstrechtfertigung beteiligt ist.

Konflikt zwischen Gemeinwohl und Eigennutz

Nach dem Verhaltensökonomen Achim Falk, der auch die oben zitierte Studie geleitet hat, liegt das Problem des ethischen Handelns in einem fundamentalen Zielkonflikt zwischen positiven externen Effekten und dem Eigennutz, oder: zwischen Altruismus, also der Berücksichtigung der Bedürfnisse der anderen, und dem Egoismus, also der Verfolgung dessen, was uns selber den größten Gewinn bringt, unbesehen, ob es anderen schadet. Psychologisch betrachtet, schwanken wir zwischen der angstgesteuerter Sicherung des eigenen Überlebens und der schamgesteuerter Rücksicht auf die Gemeinschaft. Anders ausgedrückt, haben wir es mit einer Variante des Konfliktes zwischen Autonomie und Bindung zu tun, der sich quer durch alle wichtigen Themen des Lebens zieht.

Falk weist darauf hin, dass „das Gute“ meistens etwas kostet, etwa einen Vorteil, auf den wir verzichten müssen, wenn wir auf andere und auf das Gemeinwohl Rücksicht nehmen. Es gibt auch Studien, die feststellen, dass altruistisches Verhalten umso wahrscheinlicher ist, je größer die positiven Außenwirkungen einer Handlung sind, je mehr Leute also davon erfahren. Unsere Reputation steigt, und das ist ein Ausgleich für den Nachteil, den wir auf uns nehmen.

Das prosoziale Verhalten wird wahrscheinlicher, wenn andere davon wissen, nach dem Motto: Tu Gutes und sorge dafür, dass möglichst viele davon wissen. Es ist das Bedürfnis nach Stolz, das uns dazu beflügelt, von unseren guten Taten zu berichten oder uns für das Gute zu entscheiden, wenn wir von anderen beobachtet werden. Wir stehen besser da, für uns selber, insofern wir uns mit den Augen der anderen betrachten. Wir fühlen uns als guter Mensch, weil wir annehmen, dass wir von den anderen so wahrgenommen und beurteilt werden.

Egoistisch zu sein, fällt uns leichter, wenn wir uns unbeobachtet fühlen.  Wir tun uns schwerer, die Plastikflasche im Wald wegzuwerfen, wenn uns andere Wanderer begegnen oder geben mehr Trinkgeld, wenn wir in einer größeren Runde ausgehen. Noch raffinierter kann man es anlegen, wenn man anonym spendet, und die Welt erfährt es hintenherum über Dritte. Hier zeigt sich die mächtige Wirkung der Scham, die uns zu mitmenschlichem Verhalten anspornt und uns dazu motiviert, eben vor allem dann gut zu handeln, wenn es andere bemerken oder Kenntnis erlangen können. Wenn wir uns im Verborgenen unsolidarisch verhalten, schämen wir uns höchstens vor uns selbst, müssen aber keine Missbilligung durch andere befürchten.

Gutes zu tun tut gut

Soweit die wissenschaftlichen Forschungen. Wissenschaftliche Studien beziehen sich offensichtlich auf ein durchschnittliches Niveau des moralischen Urteils, weil sie ja repräsentativ sein sollen. Darum spielt dieser intrinsische Faktor keine Rolle. Ich möchte aber über diesen Tellerrand hinausschauen.

Die Kosten-Nutzen-Rechnung hat nämlich auch ihre Grenze. Denn wir können die Erfahrung machen, dass Gutes tun gut tut, weil es sich gut anfühlt, Gutes getan zu haben, gleich ob die Kosten dafür hoch oder niedrig waren. Wir sind also nicht nur berechnende Wesen, sondern auch mitfühlende Menschen, die das Gute wegen seiner selbst bzw. wegen dem Glück unserer Mitmenschen wollen. Nur im Zustand des egoistischen Eigennutzes, der von Ängsten angetrieben ist, sind sie uns egal. In diesem Zustand geht es uns nur um unser eigenes Überleben. Sind wir frei von Angst, so denken wir immer auch die anderen Personen bei unseren Entscheidungen mit und sind an ihrem Wohl interessiert. Durch das Erweitern des Horizontes für unsere Handlungsmotivation haben wir den Zugang zu einer Glücksdimension, indem uns das Tun des Guten selbst beglückt. Allerdings erfordert es ein gewisses Maß an innerer Einsicht und ethischer Reflexion, um diesen intrinsischen Wert des Tuns des Guten zu erkennen.

Schlechtes zu tun macht ein schlechtes Gefühl, wenn wir uns des Schlechten bewusst sind. Vieles von unserem Tun ist zwar objektiv schlecht, weil es anderen Schaden zufügt, z.B. jede Autofahrt mit einem Verbrenner oder jeder Kauf eines Billig-T-Shirts. Aber subjektiv versuchen wir, das Schlechte unseres Tuns wegzurationalisieren, weil uns solche Wertkonflikte Stress verursachen. Das Bewusstsein, dass wir alle, die wir in dieser Konsumkultur und auf diesem Wohlstandsniveau leben, permanent in solchen ethischen Konflikten stecken, ist schwer aushaltbar und erfordert ein hohes Maß an ethischer Integrität und Schamkompetenz.

Es macht allerdings einen Unterschied, ob wir das schlechte Gefühl, insbesondere in seiner Schamkomponente zulassen, statt es durch schwache Gegenargumente zu übertönen. Wir wachsen in unserer Würde und Mitmenschlichkeit. Wir werden zu solidarischeren Menschen. Wir sind nicht mehr von unseren Ängsten abhängig. Wir richten unser Handeln immer mehr nach dem größtmöglichen Nutzen für möglichst viele andere aus statt nach dem, was uns selber am meisten bringt. Wir erkennen, dass es uns nicht glücklich machen kann, wenn wir die einzigen sind, die glücklich sind, bloß weil wir Glück gehabt haben. Auf dieser höheren Ebene des Bewusstseins wird es uns auch leichter fallen, mit den Herausforderungen der Zeit fertig zu werden.

Literatur:

Achim Falk: Warum es so schwer ist, ein guter Mensch zu sein ... und wie wir das ändern können: Antworten eines Verhaltensökonomen. Siedler Verlag München 2022

Zum Weiterlesen:
Die Notwendigkeit der universalen Ethik
Vom Gruppenegoismus zur globalen Ethik
Ist der Mensch von Natur aus egoistisch oder sozial?

Freitag, 15. März 2024

Das Kämpfen in Beziehungen

Im vorigen Blogartikel bin ich der Frage nachgegangen, welche Rolle der Satz, dass das Kämpfen den Kampf nährt, bei kollektiven Themen spielt. Hier möchte ich näher beleuchten, was er in Hinblick auf die zwischenmenschlichen Belange bedeuten könnte. 

Wenn wir in Beziehungen streiten, kämpfen in der Regel zwei Kinder miteinander, die beide ein Grundbedürfnis nicht erfüllt bekommen haben und nun hoffen, vom Beziehungspartner zu kriegen, was damals gefehlt hat. Der innere Mangel ist noch immer spürbar und soll jetzt endlich aufgefüllt werden. Die Gefühle von Verzweiflung und Wut, die oft in solchen Streitigkeiten zum Ausdruck kommen, stehen meist in keiner Relation zu dem Thema, um das es geht. Aber Erwachsene kämpfen oft mit der Energie von Kleinkindern, denen es scheinbar ums Überleben geht, um die eigenen Bedürfnisse durchzubringen. Obwohl wir immer wieder die Erfahrung gemacht haben, dass wir umso weniger das kriegen, was wir wollen, je mehr wir darum kämpfen, lassen wir uns immer wieder auf Streitigkeiten ein, oder, anders gesagt, finden wir uns in einen Streit verwickelt, ohne zu wissen, wie wir hineingeraten sind. Es handelt sich also um Stellvertreterkriege, die wir da miteinander ausfechten.

Solche Streitereien ziehen sich oft in die Länge, weil „ein Wort das andere gibt.“ Der Stress steigt und die sozialen Kompetenzen schwinden. Die Kommunikation vereinfacht sich und wird aggressiv aufgeladen. Je mehr Streitenergie die eine Seite einbringt, desto mehr muss die andere mobilisieren. Die Eskalation folgt einer festgelegten Mechanik und ist oft bei Paaren gut eingespielt. Eine Unstimmigkeit, ein Missverständnis, schon meldet sich die Kampfbereitschaft. Kleine Ursachen gebären große Wirkungen. Die Distanz wächst und die Verzweiflung ebenso. Jede Investition in den Streit verstärkt den Streit. Je mehr emotionale Energie, desto heftiger und desto regressiver, desto mehr Persönlichkeitsanteile rutschen in die Kindheit zurück. Hilflosigkeit breitet sich aus, die oft zu gegenläufigen Notprogrammen führt: Ein Partner geht auf den anderen zu, um ihn zu erreichen oder von ihm wahrgenommen zu werden (lat. aggredere: auf jemanden zugehen), der andere zieht sich zurück, um sich vor dem Angriff zu schützen. Die vorgegebene Dynamik funktioniert bei vielen Paaren wie ein eingeübter Tanz: Je mehr der eine zugeht (räumlich und/oder in der Lautstärke), desto mehr zieht sich der andere zurück und umgekehrt. Beide können nicht anders, weil ihre Kreativität durch den Stress und die Verzweiflung stillgelegt wurde. Sie sind im Kindheitsmuster gefangen und haben daher nur mehr kindliche Ressourcen zur Verfügung. 

Dem Aufblähen der Streitenergie kann nur Einhalt geboten werden, wenn sich das Nervensystem beruhigt. Im angespannten Zustand sind wir einfach nicht in der Lage, konstruktiv miteinander zu kommunizieren. Wir verfügen nicht über die sozialen Fähigkeiten, die uns im Normalfall zu Diensten sind. Das Bemühen, einen gemeinsamen Ausweg aus der angespannten Situation zu finden, gelingt nur, wenn der Organismus genügend Zeit bekommt, um aus der Übererregung herauszufinden. Es wird sinnvoll sein, auf Abstand zu gehen, z.B. eine räumliche Distanz aufzunehmen, sodass jeder wieder zu sich selber finden kann. Dazu braucht der Partner, der meint, durch die Herstellung von mehr Nähe zu einer Konfliktlösung zu kommen, die Zusicherung vom anderen, nach einer bestimmten Zeit wieder zurückzukommen.

Der Kampf nährt den Kampf, solange wir uns im Notzustand befinden. Wir glauben, nur durch das Kämpfen zu dem zu kommen, von dem wir meinen, dass wir es unbedingt brauchen. Es ist ein Glaube wider jede Erfahrung, denn wir haben genügend Erfahrungen gesammelt, dass durch das Streiten der Streit heftiger wird und dass wir miteinander erst dann weiterkommen, wenn er abgebbt ist. Da die Wurzeln der Streitenergie in der Verzweiflung des Kindes liegen, muss die Zeit abgewartet werden, bis sich das innere Kind beruhigt hat. Dann erst ist es möglich, für die Aktivierung der Ebene des zwischenmenschlichen Verstehens die Erwachsenenpersönlichkeit als die bestimmende Instanz wiederherzustellen. Oder, im Modell der Polyvagaltheorie: Wir müssen in einen Smart-Vagus-Zustand gelangen, um uns konstruktiv und empathisch verständigen zu können. Solange das sympathische Nervensystem die Dominanz im Inneren ausübt, ist es illusorisch, auf ein tieferes Verstehen und Verstandenwerden zu hoffen.

Wir können außerdem aus der Polyvagaltheorie verstehen, dass wir zunächst nichts machen können, wenn in der Kommunikation Stress ausgelöst wird. Unser Unbewusstes registriert die Gefahr und setzt die Stressachse zwischen Hypophyse, Hypothalamus und Nebennierenrinden in Gang. Wenn uns bewusst wird, dass wir uns ärgern oder verletzt sind, sind wir schon längst im Stresszustand und reagieren aus ihm heraus. Dieser Vorgang wird als Neurozeption bezeichnet, also die Eigenschaft des vegetativen Nervensystems, Gefahrenreize ohne Zutun des Bewusstseins zu prüfen und sogleich die Alarmreaktion auszulösen. 

Die Theorie gibt uns aber auch Hinweise, wie wir wieder aus der Anspannung herausfinden. Je besser unsere „vagale Bremse“, also unsere Fähigkeit, mit dem Parasympathikus unseren Sympathikus zu drosseln, trainiert ist, desto schneller kommen wir vom Erregungszustand in den sozialen Kompetenzzustand zurück. Das ist der Grund, warum jede Form der Stärkung des Vagus-Nerves (z.B. durch das kohärente Atmen) unsere kommunikativen Fähigkeiten verbessert und uns ermöglicht, aus den Verstrickungen in Konflikten rascher wieder herauszufinden. Wir können uns leichter wieder mit uns selbst verbinden und zu unseren Erwachsenenfähigkeiten zurückfinden.

Zum Weiterlesen:
Das Kämpfen nährt den Kampf
Der Vagusnerv und die Selbstheilungskraft
Kohärentes Atmen