Freitag, 15. März 2024

Das Kämpfen in Beziehungen

Im vorigen Blogartikel bin ich der Frage nachgegangen, welche Rolle der Satz, dass das Kämpfen den Kampf nährt, bei kollektiven Themen spielt. Hier möchte ich näher beleuchten, was er in Hinblick auf die zwischenmenschlichen Belange bedeuten könnte. 

Wenn wir in Beziehungen streiten, kämpfen in der Regel zwei Kinder miteinander, die beide ein Grundbedürfnis nicht erfüllt bekommen haben und nun hoffen, vom Beziehungspartner zu kriegen, was damals gefehlt hat. Der innere Mangel ist noch immer spürbar und soll jetzt endlich aufgefüllt werden. Die Gefühle von Verzweiflung und Wut, die oft in solchen Streitigkeiten zum Ausdruck kommen, stehen meist in keiner Relation zu dem Thema, um das es geht. Aber Erwachsene kämpfen oft mit der Energie von Kleinkindern, denen es scheinbar ums Überleben geht, um die eigenen Bedürfnisse durchzubringen. Obwohl wir immer wieder die Erfahrung gemacht haben, dass wir umso weniger das kriegen, was wir wollen, je mehr wir darum kämpfen, lassen wir uns immer wieder auf Streitigkeiten ein, oder, anders gesagt, finden wir uns in einen Streit verwickelt, ohne zu wissen, wie wir hineingeraten sind. Es handelt sich also um Stellvertreterkriege, die wir da miteinander ausfechten.

Solche Streitereien ziehen sich oft in die Länge, weil „ein Wort das andere gibt.“ Der Stress steigt und die sozialen Kompetenzen schwinden. Die Kommunikation vereinfacht sich und wird aggressiv aufgeladen. Je mehr Streitenergie die eine Seite einbringt, desto mehr muss die andere mobilisieren. Die Eskalation folgt einer festgelegten Mechanik und ist oft bei Paaren gut eingespielt. Eine Unstimmigkeit, ein Missverständnis, schon meldet sich die Kampfbereitschaft. Kleine Ursachen gebären große Wirkungen. Die Distanz wächst und die Verzweiflung ebenso. Jede Investition in den Streit verstärkt den Streit. Je mehr emotionale Energie, desto heftiger und desto regressiver, desto mehr Persönlichkeitsanteile rutschen in die Kindheit zurück. Hilflosigkeit breitet sich aus, die oft zu gegenläufigen Notprogrammen führt: Ein Partner geht auf den anderen zu, um ihn zu erreichen oder von ihm wahrgenommen zu werden (lat. aggredere: auf jemanden zugehen), der andere zieht sich zurück, um sich vor dem Angriff zu schützen. Die vorgegebene Dynamik funktioniert bei vielen Paaren wie ein eingeübter Tanz: Je mehr der eine zugeht (räumlich und/oder in der Lautstärke), desto mehr zieht sich der andere zurück und umgekehrt. Beide können nicht anders, weil ihre Kreativität durch den Stress und die Verzweiflung stillgelegt wurde. Sie sind im Kindheitsmuster gefangen und haben daher nur mehr kindliche Ressourcen zur Verfügung. 

Dem Aufblähen der Streitenergie kann nur Einhalt geboten werden, wenn sich das Nervensystem beruhigt. Im angespannten Zustand sind wir einfach nicht in der Lage, konstruktiv miteinander zu kommunizieren. Wir verfügen nicht über die sozialen Fähigkeiten, die uns im Normalfall zu Diensten sind. Das Bemühen, einen gemeinsamen Ausweg aus der angespannten Situation zu finden, gelingt nur, wenn der Organismus genügend Zeit bekommt, um aus der Übererregung herauszufinden. Es wird sinnvoll sein, auf Abstand zu gehen, z.B. eine räumliche Distanz aufzunehmen, sodass jeder wieder zu sich selber finden kann. Dazu braucht der Partner, der meint, durch die Herstellung von mehr Nähe zu einer Konfliktlösung zu kommen, die Zusicherung vom anderen, nach einer bestimmten Zeit wieder zurückzukommen.

Der Kampf nährt den Kampf, solange wir uns im Notzustand befinden. Wir glauben, nur durch das Kämpfen zu dem zu kommen, von dem wir meinen, dass wir es unbedingt brauchen. Es ist ein Glaube wider jede Erfahrung, denn wir haben genügend Erfahrungen gesammelt, dass durch das Streiten der Streit heftiger wird und dass wir miteinander erst dann weiterkommen, wenn er abgebbt ist. Da die Wurzeln der Streitenergie in der Verzweiflung des Kindes liegen, muss die Zeit abgewartet werden, bis sich das innere Kind beruhigt hat. Dann erst ist es möglich, für die Aktivierung der Ebene des zwischenmenschlichen Verstehens die Erwachsenenpersönlichkeit als die bestimmende Instanz wiederherzustellen. Oder, im Modell der Polyvagaltheorie: Wir müssen in einen Smart-Vagus-Zustand gelangen, um uns konstruktiv und empathisch verständigen zu können. Solange das sympathische Nervensystem die Dominanz im Inneren ausübt, ist es illusorisch, auf ein tieferes Verstehen und Verstandenwerden zu hoffen.

Wir können außerdem aus der Polyvagaltheorie verstehen, dass wir zunächst nichts machen können, wenn in der Kommunikation Stress ausgelöst wird. Unser Unbewusstes registriert die Gefahr und setzt die Stressachse zwischen Hypophyse, Hypothalamus und Nebennierenrinden in Gang. Wenn uns bewusst wird, dass wir uns ärgern oder verletzt sind, sind wir schon längst im Stresszustand und reagieren aus ihm heraus. Dieser Vorgang wird als Neurozeption bezeichnet, also die Eigenschaft des vegetativen Nervensystems, Gefahrenreize ohne Zutun des Bewusstseins zu prüfen und sogleich die Alarmreaktion auszulösen. 

Die Theorie gibt uns aber auch Hinweise, wie wir wieder aus der Anspannung herausfinden. Je besser unsere „vagale Bremse“, also unsere Fähigkeit, mit dem Parasympathikus unseren Sympathikus zu drosseln, trainiert ist, desto schneller kommen wir vom Erregungszustand in den sozialen Kompetenzzustand zurück. Das ist der Grund, warum jede Form der Stärkung des Vagus-Nerves (z.B. durch das kohärente Atmen) unsere kommunikativen Fähigkeiten verbessert und uns ermöglicht, aus den Verstrickungen in Konflikten rascher wieder herauszufinden. Wir können uns leichter wieder mit uns selbst verbinden und zu unseren Erwachsenenfähigkeiten zurückfinden.

Zum Weiterlesen:
Das Kämpfen nährt den Kampf
Der Vagusnerv und die Selbstheilungskraft
Kohärentes Atmen


Donnerstag, 7. März 2024

Das Kämpfen nährt den Kampf

Wenn wir gegen jemanden kämpfen, wollen wir diesen Gegner schwächen, bis er besiegt ist und wir gewonnen haben. Das ist das Ziel jedes Kampfes. Sobald wir mit einem Kampf beginnen, wehrt sich aber der Gegner und sammelt seine Kräfte. Um zu bestehen, muss er über sich hinauswachsen und Energien mobilisieren, die ihm sonst nicht zur Verfügung stehen. Er wird durch unseren Angriff stärker. Es entsteht also ein Paradoxon: Wir wollen den Gegner schwächen und erreichen gerade dadurch, dass er stärker wird. Ähnliches geschieht in uns selber: Wir haben ein Feindbild in uns, mit dem wir unseren Angriff rechtfertigen. Sobald wir erkennen, dass sich der Gegner wehrt, wird dieses Feindbild in uns mächtiger. Das Feindbild wächst mit jedem Schlag, zu dem wir ausholen oder den wir einstecken, und damit ergreifen auch unsere Feindschaft und unser Hass mehr Besitz von uns selber. 

In einem Krieg z.B. wird der Gegner gezwungen, aufzurüsten, wenn er angegriffen wird. Je stärker der Angriff abläuft, desto stärker wird die Gegenwehr und desto zerstörerischer werden die Kämpfe. Gleichzeitig werden die Feindbilder auf beiden Seiten aggressiver und verzerrter. Wir können diese Dynamik bei allen großen und kleinen Konflikten beobachten. Ähnlich manchen Boxkämpfen enden viele Kriege erst, wenn die Kräfte emotional oder physisch erschöpft sind. Dann setzt sich entweder die Seite durch, die den längeren Atem hat, oder der Konflikt endet wie beim Schach mit einem Remis oder Patt.

Die Kampfdynamik wirkt weit, selbst wenn der Gegner besiegt wurde. Die unterlegene Partei muss dafür sorgen, ihre verlorene Würde wiederherzustellen. Sie will wieder zu Kräften kommen und die verlorene Macht neu errichten. In diesem Prozess wird der Drang nach Rache aufwachen und irgendwann in Aktion treten. Die Scham, die die Niederlage bereitet hat, soll durch einen Racheakt ausgeglichen werden, der andere beschämt, indem er sie in die Opferposition bringt. 

Kampf um des Kämpfens willen

Im Kampf geht es nur scheinbar um den Sieg und in Wirklichkeit um das Kämpfen selbst. Wir kennen diese Dynamik von Wettkämpfen oder Konkurrenzspielen. Wir wollen, dass unser Handballteam das gegnerische besiegt; aber die eigentliche Befriedigung liegt im Spielen. Auch wenn wir unterliegen, wollen wir weiterspielen. Das Spannende und Lohnende ist der Wettkampf selbst, nicht das Ergebnis. Hobbyfußballer, die sich auf dem Feld nichts schenken, gehen nachher gemeinsam Bier trinken. Im geselligen Beisammensein wird das Gefälle zwischen den stolzen Siegern und den beschämten Unterlegenen wieder ausgeglichen.

Sportliches Kräftemessen

Sportliches Kräftemessen unterscheidet sich allerdings prinzipiell von anderen Formen des Kampfes, die auf Feindschaft und Hass beruhen. Aktivitäten, die wir aus freien Stücken verfolgen, erleben wir ganz anders als solche, die wir als aufgezwungen erleben und aus denen wir nicht einfach aussteigen können, wenn wir wollen. Der Unterschied liegt also darin, ob die Kontrolle über das Geschehen bei uns liegt oder nicht. In einem Fall sprechen wir von einem guten Stress (Eustress), im anderen vom Distress. Bei Eustress gerät der Körper zwar in einen Anstrengungszustand mit der Aufbietung von Reserven und schüttet dazu das Stresshormon Adrenalin aus, aber mobilisiert zugleich Dopamin, das für Glücksgefühle zuständig ist. Beim Distress folgt auf die Adrenalinausschüttung das Cortisol, das langfristig wirksame Stresshormon, aber kein Dopamin. Hier stehen wir also unter einer Angstspannung ohne jeden Lustfaktor, denn es geht um Leben oder Tod. Die Spannung wirkt außerdem noch über die Kampfsituation hinaus und enthält die Tendenz zur Chronifizierung.

Die Corona-Debatten

In der Corona-Debatte konnten wir beobachten, dass die hitzigen Debatten über das Corona-Management oder das Impfen immer schärfer wurden, je länger sie dauerten. Viele Diskussionen führten nicht dazu, dass sich die Standpunkte nicht annäherten, sondern dass sie sich, aufgeladen durch die aufgeheizten Auseinandersetzungen, immer weiter voneinander entfernten, während der Hass in den unterschiedlichen Lagern wuchs. Je mehr Kampfenergie in die Debatten gepumpte wurde, desto ausdauernd wurde der Kampf. Erst als sich die Pandemie beruhigte und die Erkrankungen weniger und milder wurden, ebbten die Diskussionen ab. Aber auch Jahre danach wirken die Folgen weiter, manche aufgerissenen Gräben in Familien oder Freundesgruppen sind noch immer nicht zugeschüttet.

Das Festhalten am Kämpfen hat viel damit zu tun, die Schmach der Niederlage nicht tragen zu wollen und deshalb bis „zur letzten Kugel“ weiterzukämpfen. Es ist also die vorweggenommene Scham, im Fall des Unterliegens als Schwächling und Versager dazustehen. Diese Dynamik kennen wir von Debatten über scheinbar harmlose Themen ebenso wie von Bürgerkriegen und zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikten, die über Jahre und Jahrzehnte brennen und schwelen. Eine verdeckte Form der Schamvermeidung stellt das Wettrüsten zwischen den Großmächten dar.

Die Erkenntnis, dass der Kampf das Kämpfen nährt, liefert keinen zureichenden Grund, gänzlich auf das Kämpfen zu verzichten. Wenn einer Aggression von außen keine Gegenaggression entgegengestellt wird, hat sie die natürliche Tendenz, sich weiter auszubreiten und sich noch mehr Raum einzuverleiben. Aber wir brauchen auch die Bewusstheit über diese Dynamik, weil sie uns darauf hinweist, wann es notwendig ist, auf das Kämpfen zu verzichten. Irgendwann wachsen die Schäden und damit die vielen Formen des Leidens ins Unermessliche, die durch das Zerstörerische am Kämpfen ausgelöst werden. Als Großmut gilt, wenn der Stärkere im Kampf dem unterlegenen Gegner die Hand reicht und ihm auf Augenhöhe begegnet. Der Kampf ist zu Ende, die Menschen können wieder wahrnehmen, dass sie keine Feinde, sondern Brüder und Schwestern sind. Der Zyklus der Rache ist durchbrochen. Nur mit der hohen Tugend des Machtverzichts kann es gelingen, dort einen dauerhaft haltbaren Frieden zu schaffen, wo Feindschaft geherrscht hat. 

Der Nahostkonflikt als Beispiel

Der Gaza-Krieg, der zurzeit wütet, dient aus israelischer Sichtweise dem Ziel, die Hamas zu vernichten. Es handelt sich um einen Racheakt gegen den blutigen und blutrünstigen Überfall der Hamas auf Israel, mit dem solche Überfälle in Zukunft verhindert werden sollten. Eine der modernsten und bestausgebildetsten Armeen der Welt kämpft gegen eine Terrororganisation oder gegen die gewählte Verwaltungsmacht im Gaza-Streifen, je nach Sichtweise. Dieser Krieg dauert nun schon 6 Monate und hat bisher ca. 30 000 Tote und 70 000 Verletzte verursacht, darunter ca. 1200 israelische Tote und 5000 Verletzte. Er spielt sich im Gaza-Streifen ab und hat dort zu massiven Zerstörungen der Wohnanlagen und der Infrastruktur  geführt. 70 Prozent der Gebäude liegen in Trümmern.

Ein neues Kapitel im nun schon über hundert Jahre alten Nahostkonflikt, ohne jede Aussicht auf eine Lösung, ohne Aussicht auf einen Frieden. Spätestens seit der Staatsgründung von Israel 1948 war der Landstrich am Ostufer des Mittelmeers der Schauplatz von vielen Kriegen und spannungsgeladenen Zwischenzeiten. Die Aussicht auf einen dauerhaften Frieden mit einer Zweistaatenlösung hat sich in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts zerschlagen. Jeder Krieg hinterließ auf beiden Seiten tiefe Spuren, jeder Krieg trug zur Vermehrung und Vertiefung des Hasses und damit zur Steigerung der Gewaltbereitschaft bei. Bei den Palästinensern, die in jedem Krieg die Verlierer waren und die durch vielfache Vertreibungen gedemütigt wurden, ist die Last der Scham über mehrere Generationen angewachsen. Bei den Israelis ist parallel dazu die Angst angewachsen. Denn bewusst oder unbewusst stellt es eine enorme Belastung dar, mit Nachbarn zu leben, die voll von Hass und Scham sind. Es ist nur die Frage, wann es zur nächsten aggressiven Explosion kommt. Auch wenn es auf beiden Seiten Menschen gibt, die über diese Gefühlsbelastungen hinausgewachsen sind und sich im offenen Dialog verständigen können, steckt die große Mehrheit in der Geschichte von Verletzungen und Gewalthandlungen fest. 

Es besteht in dieser Gegend seit vielen Jahrzehnten ein Dauerkampf, der manchmal offen ausbricht und ansonsten unterschwellig besteht; es gibt die offenen Aggressionen der Palästinenser und die strukturelle Gewalt der Israelis, die sich gegenseitig befeuern (es gibt dazu noch offene Aggressionen der Israelis mit der Ermordung von über 400 Palästinensern im Westjordanland seit dem 7.10.23). Als scheinbar unvermeidliche Folge der Dauerspannung wächst beständig die Gewaltbereitschaft auf beiden Seiten. Immer mehr Israels wählen rechte Parteien, die die ihre Feindschaft gegen die Palästinenser offen zur Schau stellen, während auf palästinensischer Seite die radikalen politischen Organisationen immer mehr Zulauf bekommen. Die Dauerspannung wächst also weiter und weiter.

Der israelische Staat kann sich auf eine moderne Wirtschaft und auf die Unterstützung der USA und anderer westlicher Staaten stützen, die seine Existenz garantieren. Die Palästinenser haben große Teile der arabischen Welt auf ihrer Seite, die ihr Überleben auch unter den prekärsten Bedingungen absichern, so gut es geht. Auf diese Weise sind mächtige Staaten und damit viele Volkswirtschaften und Gesellschaften in den Konflikt eingebunden. Wegen der nationalstaatlichen Souveränitäten haben die Außenstehenden aber nicht die Einflussmöglichkeiten, um den Krieg zu beenden und Friedensregeln einzuführen.

Da die Lebenschancen im Gazastreifen durch die Abriegelung nach außen minimal sind, gibt es für viele, vor allem junge Menschen keine Perspektiven für eine kreative Selbstverwirklichung. Deshalb wird es immer wieder Jugendliche geben, die zur Gewalt tendieren und zu den Waffen greifen wollen, um wenigsten ein kleines Machtgefühl zu erlangen. Jeder Tag, den der Krieg andauert, erzeugt neben all dem Leid neue Kampfbereitschaft, die sich irgendwann in der Zukunft ihre Bahn brechen wird.

Der Kampf nährt den Kampf und bringt immer wieder neuen Kampf hervor, solange versucht wird, die Spannungen mit Gewaltanwendung zu lösen. Der gewaltsam niedergerungene Gegner wird irgendwann wieder aufstehen und die angetane Gewalt heimzahlen.

Zum Weiterlesen:
Braucht es einen Krieg? Wer braucht einen Krieg?
Krieg und Scham


Sonntag, 3. März 2024

Das kohärente Atmen und die Wissenschaft

In einer wissenschaftlichen Studie, die mit 400 Teilnehmern in England durchgeführt wurde, ging es um einen Vergleich zwischen langsamem und schnellem Atmen. Die Versuchsteilnehmer wurden in zwei Gruppen aufgeteilt. Beide sollten über vier Wochen jeden Tag 10 Minuten Atemübungen machen, die eine Gruppe mit 5,5 Atemzügen/Minute (eine Atemfrequenz, die beim kohärenten Atmen angewendet wird), die andere mit 12 Atemzügen/Minute (diese Atemfrequenz stellt die Untergrenze der Atemgeschwindigkeit bei der Durchschnittsbevölkerung dar). Die Ergebnisse zeigten, dass sich das subjektive Stressempfinden und Depressionen bei beiden Gruppen verringerten, während die Werte für das Wohlbefinden anstiegen. Allerdings gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Langsam- und den Schnellatmern.

Nachdem die langsame Atemmethode in der Studie als kohärentes Atmen benannt wurde, würde die Studie beweisen, dass das kohärente Atmen, bei dem man ja zwischen 3 und 6 Atemzüge/Minute machen soll, genauso wirksam ist wie ein mehr als doppelt so schnelles Atmen. Es gibt inzwischen eine Reihe von anderen Studien sowie Literaturzusammenfassungen, die belegen, dass das langsame Atmen das Wohlbefinden verbessert und die Stresserregung reduziert. 

Was ist also von der englischen Studie zu halten? Ich behaupte, dass im Titel und Text der Studie zu Unrecht vom kohärenten Atmen die Rede ist. Kohärentes Atmen heißt ja nicht nur, langsam und regelmäßig zu atmen, sondern auch die Ausatmung zu entspannen und die Atemtiefe so zu regulieren, dass die Atmung vor allem über das Zwerchfell gesteuert wird. Aus der Praxis wissen wir, dass einigen Anfängern in der Methode diese Elemente des kohärenten Atmens leicht fallen, während viele anfangs mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben: Es gelingt die entspannte Ausatmung nicht, das Einatmen dauert zu lang, die Bauchatmung ist ungewohnt, die Atemfrequenz ist zu langsam, sodass durch die notwendige Dehnung der Atmung ein Stress entsteht usw. Für all diese Anfangsprobleme gibt es auch Abhilfen, die von einem kompetenten Instrukteur vermittelt werden. Nach einigen Übungsdurchgängen werden diese Schwierigkeiten durch die Interventionen und Übungsvorschläge in fast allen Fällen überwunden.

In der Studie bekamen die Teilnehmer anfangs eine Information zur Methode, es gab aber keine Möglichkeit für Rückfragen bei Schwierigkeiten. Deshalb können wir davon ausgehen, dass einige der Übungsteilnehmer Probleme mit der Entspannung der Atmung hatten und deshalb auch keine tieferen Erholungswerte erleben konnten. So einfach die Methode des kohärenten Atmens erscheint, weil bei ihr nur drei oder vier Grundelemente beachtet werden müssen, so viele Tücken zeigen sich in der Praxis. Jeder bringt seine eigenen Atemgewohnheiten mit, die sich über Jahre und Jahrzehnte eingeprägt haben. Es braucht deshalb auch Zeit, Motivation und konsequentes Üben, um sie in eine günstige Richtung zu verändern. In der Diskussion der Studienergebnisse in der Publikation wird auch auf diesen Umstand eingegangen und es werden Studien zitiert, bei denen das kohärente Atmen unter individueller Anleitung praktiziert wurde, mit deutlich positiven Wirkungen. Während in der Studie die zu wenig „robuste“ Konstruktion dieser Experimente kritisiert wurde, liefern auch die anderen Studien wichtige Erkenntnisse.

Einen weiteren Kritikpunkt an der Studie beziehe ich (ebenso wie die Studienautoren) auf den Umstand, dass die durchschnittliche Übungspraxis 20 Sitzungen betragen hat, d.h. dass nicht von einer konsequenten Übungsdisziplin gesprochen werden kann, was vor allem anfangs entscheidend ist, um die fest verankerten Atemgewohnheiten nachhaltig zu verändern. Außerdem weiß niemand, ob die Methode überhaupt richtig geübt wurde oder nur irgendwie. 

Die Teilnehmer waren auch nicht darüber informiert, warum sie ausgerechnet 5,5 Atemzüge/Minute nehmen sollten. Gerade beim kohärenten Atmen ist es für viele Anfänger wichtig, dass sie verstehen, warum gerade so und nicht anders geatmet werden soll, damit sie sich für das Üben des kohärenten Atmens motivieren können. Bei manchen Menschen läuft die Motivation über die Erfahrung: Sie mögen eine Übung, weil sie die positiven Wirkungen spüren. Für andere läuft sie über das mentale Verständnis: Sie erkennen, dass die Übung wertvoll sein könnte und praktizieren sie dann.  Es gibt immer wieder Anfänger, die sich weigern, eine strikte Vorgabe, wie sie beim kohärenten Atmen erforderlich ist, einzuhalten. Erst wenn sie verstehen, was der Sinn dahinter ist, sind sie bereit, sich darauf einzulassen. Solche Widerstände, die wir aus der Vermittlungspraxis kennen, wurden in der Studie nicht berücksichtigt. Auch die Studienautoren vermuten, dass eine entsprechende „Psychoedukation“ zu besseren Resultaten beim kohärenten Atmen geführt hätten. 

Die Studienautoren weisen auch darauf hin, dass es eine Untersuchung gibt, die belegt, dass eine Atemfrequenz von 8 Atemzügen/Minute bessere Resultate für die vagale Aktivierung, also für die Anregung des Parasympathikus bringt als 12 Atemzügen/Minute und diese wiederum besser abschneiden als 16 Atemzügen/Minute. Sie belegt also, dass die entspannende und blutdrucksenkende Wirkung umso größer wird, je langsamer geatmet wird. In der hier besprochenen Studie können die positiven Ergebnisse für die „Placebo“-Gruppe, die eben mit 12 Atemzügen/Minute atmeten, darauf zurückgeführt werden, dass viele schon eine Reduktion ihrer sonst noch höheren gewohnten Atemgeschwindigkeit als entspannend und stimmungsaufhellend erleben konnten. Beide Untersuchungsgruppen profitierten offensichtlich von der Atemachtsamkeit, der Regelmäßigkeit und der Vertiefung beim Atmen. Beide Gruppen waren auch instruiert, durch die Nase zu atmen, was vielfältige gesundheitliche Auswirkungen hat, u.a. wird die Sauerstoffaufnahme verbessert sowie das Angst- und Stressmanagement im Gehirn reguliert. 

Der nächste Kritikpunkt bezieht sich auf das Fehlen von physiologischen Auswertungen der Atemübungen. Die Studienergebnisse stammen aus Fragebögen, die die Teilnehmer ausfüllten. Es handelt sich also um subjektive Stimmungsberichte, und es gibt keine Daten über die Herzrate, die Herzratenvariabilität oder Messungen zur Schlafqualität.

Zusammengefasst: Die besprochene Studie wirft mehr Fragezeichen auf als sie Antworten gibt – und das sind Anregungen für mehr und genauere Forschungen. Wer in diesem Feld arbeitet, kann aus dieser Studie den vielfältigen Nutzen der Arbeit mit dem bewussten Atmen ableiten. 


Die Studie wurde auch in einem kurzen Artikel der Tageszeitung „Kurier“ vorgestellt, unter dem Titel: „Atemtechniken gegen Stress und Angst: Kaum wirksamer als ein Placebo.“ Die Überschrift ist irreführend, weil sie suggeriert, dass Atemübungen nichts bringen; das Placebo in der Studie war aber auch eine Atemtechnik. Außerdem wird zunächst ausgeführt, dass das kohärente Atmen nicht mehr bringt als ein schnelleres Atmen, am Schluss heißt es aber: „Die Forschenden sehen in den Ergebnissen keinen Beweis dafür, dass kohärentes Atmen nicht hilfreich ist.“ Nachdem viele Leute nur die Überschrift lesen, ist es schade, wenn hängen bleibt, dass Atemtechniken nichts gegen Stress und Angst bewirken. Das Gegenteil stimmt, bestätigt von zahlreichen Studien mit eindeutigen Resultaten.

Zum Weiterlesen:
Der Vagus-Nerv und die Selbstheilungskraft
Kohärentes Atmen


Sonntag, 25. Februar 2024

Das Glück im Hirn

Was macht uns glücklich? Ich werfe hier einen Blick auf die Glücksentstehung im menschlichen Gehirn. Die Neurowissenschaften haben die grundlegenden Mechanismen entschlüsselt, unter welchen Umständen wir zu Glückserfahrungen gelangen.

Wir leben mit unserer reichhaltigen Innenwelt von Erwartungen bezüglich unserer Zukunft: Was wird als nächstes, übernächstes und überübernächstes passieren? Wir wollen den Überblick über unsere Zukunft haben, damit wir uns sicher im Jetzt fühlen können. Das Gefühl der Sicherheit reicht nicht aus, um uns glücklich zu fühlen. Es kommt zwar vor, dass wir Glücksgefühle spüren, wenn wir einer Gefahr entronnen sind und uns sicher fühlen. Aber daran gewöhnen wir uns schnell wieder, und die Sicherheit, die wir genießen, zählt zu den Selbstverständlichkeiten.

Die Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass wir Glücksgefühle erleben, wenn unser Gehirn Dopamin ausschüttet. Allerdings geht es dabei nicht um die Menge dieses Botenstoffes, sondern um die Änderung zum vorigen Niveau. Bei einem starken Dopaminanstieg meldet sich das Glücksgefühl. War die Menge vorher schon recht hoch, dann bringt ein weiterer Anstieg nicht sehr viel. Wenn wir „Glück haben“, wie wir sagen, dann hat uns gerade die Wirklichkeit positiv überrascht. Sofort wird Dopamin freigesetzt und wir fühlen uns besonders gut. Unsere pessimistische oder neutrale Zukunftserwartung trifft nicht zu, stattdessen widerfährt uns etwas Gutes.

Das sind die Erfahrungen, nach denen wir auf der Suche nach dem Glück streben. Erwartbare Erfolge wirken viel weniger erhebend als ein plötzlicher Glückstreffer. Das Glück ist also überhaupt nicht in unserer Hand, sondern „ein Vogerl“, wie es im Wienerlied heißt. Es speist sich aus der Ungewissheit und Unvorhersagbarkeit der Zukunft. Die meiste Zeit hadern wir mit dieser Unsicherheit, und das Nichtwissen bereitet uns Unbehagen. Gewissermaßen als Ausgleich hat uns die Natur mit einem Belohnungsmechanismus ausgestattet, der aktiviert wird, wenn etwas unvorhersehbar Tolles passiert. Glück findet also im Moment der Überraschung statt und verflüchtigt sich durch die Gewöhnung an das Neue. 

Die schnelle Abnutzung des Glücks hat auch seine Vorzüge – sie motiviert die Menschen zur Produktivität und Kreativität. Im Grund wissen wir, dass wir etwas tun müssen, um die Bedingungen fürs Glücklichsein zu schaffen; im Grund wollen wir auch tätig sein und etwas in der Welt weiterbringen. Es treibt uns dabei die Erwartung auf eine Belohnung an, die Hoffnung auf das Glück. So wechseln wir zwischen Phasen der Anstrengung und des Verzichts auf einen sofortigen Lohn mit Phasen, wo wir uns über das Geschaffene freuen; da sich Freude und Glück schnell abnutzen, verbringen wir wohl mehr Zeit mit der Glückssuche, und das ist auch gut so. 

Süchtige leiden darunter, dass ihnen diese Motivation abhandengekommen ist und sie nicht mehr zu ihr zurückfinden. Ihr Glücksstreben ist auf eine Substanz oder eine Verhaltensweise fixiert und von ihr abhängig. Genauer gesagt, kann ihr Gehirn nur mehr Dopamin freisetzen, wenn die entsprechende Reizzufuhr kommt, sei es von einer Droge oder von einem zwanghaften Verhalten. 

Die Suchtdynamik stellt eine extreme Form der kreisförmigen Abläufe im Dopaminhaushalt dar. Diese Abläufe sind ansonsten allgegenwärtig in unseren kulturellen Mustern eingeprägt. Wir passen uns schnell an ein neues Niveau an Wohlstand oder Wohlgefühl an und brauchen bald mehr an positiven Überraschungen, um wieder in ein High zu kommen. Wir wollen das Glücksgefühl, das wir schon kennen, zurückhaben, müssen aber immer mehr aufwenden, um zu ihm zu kommen. Das Anspruchsniveau steigt mit jeder Glückserfahrung, und wir brauchen eine gesteigerte Zufuhr von außen, um wieder in den bekannten Glückszustand zu kommen, und diese Zustände werden immer kürzer, während sie immer schwieriger erreicht werden können.

Das neue Auto, mit dem wir unsere Nachbarn beeindrucken können, das neue Smartphone, das unsere Freunde beeindruckt – ein Strohfeuer an Befriedigung und Glück, das schnell verbrennt. Also muss ein neuer Kick her, vielleicht ein neuer Film oder ein neuer Song. Unsere Kultur bietet jede Menge an Glücksversprechen, jeder Werbeclip verspricht einen Dopaminschub.

Diese Dynamik besteht auch auf der kollektiven Ebene, was den Zusammenhang zwischen Wohlstand und Lebenszufriedenheit anbetrifft. Nach statistischen Erhebungen braucht es ein bestimmtes Niveau des Lebensstandards, dass sich die Menschen glücklich fühlen können. Steigt der Wohlstand über dieses Niveau hinaus, stagniert die Lebenszufriedenheit. Superreiche sind also im Schnitt nicht glücklicher als Otto-Normalverdiener. 

Wie entkommen wir der Abhängigkeit von Außenreizen und Glückstriggern? Wir wollen ja diese Momente der Erfüllung nicht missen. Sie machen uns das Leben immer wieder lebenswert und geben uns ein Sinngefühl. Hier treffen wir auf die Bestrebungen der jahrtausendealten östlichen Weisheitslehren, die sich auch in manchen westlichen Philosophien wiederfinden. Es geht darum, die Illusionsmaschinerie der kurzfristig wirksamen Glücksversprechen zu überwinden und zu distanzieren. Jeder, der sich länger mit Meditation befasst hat, kennt die Erfahrung, dass es genügen kann, die Augen zu schließen, die Aufmerksamkeit nach innen zu richten, die Atmung zu entspannen, und schon stellen sich Glückserlebnisse ein. Es ist nicht immer so, aber geschieht immer wieder und umso öfter, je mehr wir uns der Meditationspraxis widmen und ihr Zeit geben. 

Es ist ein Glück, das sich in solchen Zusammenhängen einstellt, das nicht mit Erwartungen verbunden ist. Es wird nicht durch eine positive Überraschung ausgelöst, sondern steigt aus einer tieferen inneren Quelle aufsteigt.  Wir wissen, dass das regelmäßige Meditieren den Dopaminspiegel erhöht (hier zur Quelle), aber das ist nur ein Nebeneffekt. Insbesondere geht es beim Meditieren um die Innenwendung und damit um die Befreiung von äußeren Glücksverlockungen. Wenn wir uns regelmäßig in der Meditation in uns selbst verankern, können wir aus den suchterzeugenden Mechanismen der Konsumwelt aussteigen. Wir erkennen, dass wir alles in uns haben, das wir brauchen, um glücklich zu sein.

Die Zusammenhänge zwischen Dopamin und Glückserfahrungen habe ich diesem Buch entnommen: 
Henning Beck: 12 Gesetze der Dummheit. Denkfehler, die vernünftige Entscheidungen in der Politik und bei uns allen verhindern. Ullstein 2023, S. 156 - 162

Zum Weiterlesen:
Das Geheimnis der Lebensfreude
Das individuelle Glück und die Ungeheuerlichkeit des Leids
Konsumscham und Schamkonsum
Der Mythos vom verlorenen Glück
Der trügerische Zauber der Illusion


Donnerstag, 15. Februar 2024

Die Notwendigkeit der universalen Ethik

Die globalen Probleme der Menschheit können nur mit gemeinsamen Anstrengungen gelöst werden. Die weltweite Zusammenarbeit wiederum benötigt ein ethisches Fundament, um die notwendigen Motivationen und eine breite Basis des Verständnisses für die erforderlichen politischen Beschlüsse bereitzustellen. Es muss also eine genügend große Zahl von Menschen einsehen und unterstützen, dass alle Gesellschaften ihren Beitrag leisten müssen, entsprechend der jeweils zur Verfügung stehenden Ressourcen. Die universale Ethik wird diesen Anliegen gerecht. Sie dehnt den Rahmen für die Subjekte des ethischen Handelns auf alle Menschen und darüber hinaus auf alle Lebewesen und die gesamte Natur aus. Die Begrenzung der Ethik auf privilegierte Gruppen oder der Ausschluss von nichtmenschlichen Lebewesen verhindert die Problemlösungen, die notwendig sind, um das Leben der künftigen Generationen auf der Erde zu gewährleisten. Wir können uns also den Luxus einer begrenzten Ethik nicht mehr leisten.

Die Ausweitung der Ethik ist von Mystikern schon lange eingefordert worden. Sie haben erkannt, dass es nicht genügt, die Überwindung von individuellen Egoismen durch ethische Grundsätze zu fordern, sondern dass Gruppen- und Gesellschaftsegoismen ebenso hinter sich gelassen werden müssen, wenn es um ein gutes Handeln geht. Die Verantwortung bei jeder Entscheidung kann nicht auf das eigene Leben oder auf die Menschen in der engeren Umgebung beschränkt bleiben; jede unserer Handlungen hat globale Auswirkungen, für die wir die Verantwortung tragen und in unsere zukünftigen Handlungsmotivationen einbauen müssen.

Der persische Dichter Saadi hat im 13. Jahrhundert dazu die folgenden Zeilen geschrieben, die hier in einer Nachdichtung wiedergegeben werden:

„Die Kinder Adams sind aus einem Stoff gemacht, 
als Glieder eines Leibs von Gott, dem Schöpfer erdacht.
Sobald ein Leid geschieht nur einem dieser Glieder,
dann klingt sein Schmerz sogleich in ihnen allen wider.
Ein Mensch, den nicht die Not der Menschenbrüder rührt,
verdient nicht, dass er noch des Menschen Namen führt.“

Dieses Gedicht ist der Überlieferung nach übrigens entstanden, als der König den Dichter befragte, wie er sich vor einem übermächtigen Feind schützen könne. Es geht also um einen Gewaltzusammenhang, den der Dichter auf eine höhere ethische Ebene hebt, indem er die Universalität des Leidens und des Mitgefühls anspricht. Er verdeutlicht damit indirekt, mit wieviel Scham jeder Akt der Gewaltanwendung verbunden ist, weil dadurch die Geschichte des Leidens fortgesetzt wird, aber auch, wie durch das Einnehmen der geweiteten Perspektive jede Schambelastung aufgehoben wird und ein freier Raum der Menschlichkeit entsteht.

Von der Pflichtethik zur universalen Ethik

Die Pflichtethik geht von einem Unterschied zwischen Sein und Sollen aus. Was „ist“, sind die egoistischen Antriebe, die das Handeln der Menschen lenken, wenn sie von Überlebensängsten geleitet sind. Die Ethik fordert dazu auf, diese Antriebe zu überwinden und im Sinn der Gemeinschaft zu handeln. Sie formuliert das, was getan werden „soll“. Die Annahme dabei ist, dass das menschliche Sein erst durch das Sollen, das gegen die eigenen Impulse gerichtet ist, zur Ethik gelangt. Die Ethik wird nur durch eine kognitive Reflexion erreicht, mit der einsichtig wird, dass dem, was das Sollen verlangt, gefolgt werden muss. Ein Beispiel für diese systematische Überlegung stellt der kategorische Imperativ von Immanuel Kant dar: Handle so, dass die Maxime deines Handelns zugleich als allgemeines Gesetz geeignet ist.

In dem von mir beschriebenen Modell der Bewusstseinsevolution habe ich die holistische oder universalistische Stufe eingeführt. Sie umfasst die mystische Sichtweise auf die Welt, mit der auch jedes Handeln von bedingungsloser Liebe bestimmt ist. Frei von Ängsten und toxischen Schamgefühlen fließt das Tun aus einem Bewusstsein der Allverbundenheit. Das Eigene ist das Ganze, und das Ganze ist das Eigene. Anderen Menschen Gutes zu tun, ist nichts Besonderes, weil der Schmerz und die Scham unmittelbar gespürt würden, wenn anderen Schaden oder Leid zugefügt wird. Jedes Leid, das es auf der Welt gibt, ist zugleich eigenes Leid, und jede Vermehrung des Leidens der Welt steigert das eigene Leid. 

Es braucht deshalb nicht einmal einen Unterschied zwischen Sein und Sollen: Was zu tun ist, erwächst aus dem Sein, aus dem Wesenskern der eigenen Persönlichkeit, und nicht aus einem Prinzip oder aus einer moralischen Reflexion. Es geht nicht um eine Pflicht, sondern, in den Begriffen von Kant formuliert, wird das moralische Handeln zur Neigung, zu etwas, das die eigenen Bedürfnisse genauso berücksichtigt und abdeckt wie die der anderen Menschen.

Es wird auf dieser Ebene deutlich, dass ethisches Handeln aus der Übereinstimmung der handelnden Person mit sich selbst erfließt, und dass diese Übereinstimmung mit sich zugleich eine Übereinstimmung mit allen anderen einschließt. Es ist zugleich ein Tun und ein Geschehenlassen. Es geht also nicht um die Befolgung einer Pflicht, die im Gegensatz zu den Neigungen und egoistischen Antrieben steht, sondern darum, das zu tun, was einem entspricht, was aus dem eigenen Inneren kommt. Ethisch zu handeln, ist auf dieser Bewusstseinsstufe die einzige Option, die zur Verfügung steht. Alles andere wäre eine Form der Selbstverleugnung, die als schmerzhaft und schambeladen erlebt wird.

Möglich wird diese Haltung, wenn die inneren Ängste und Schamgefühle so tief bearbeitet sind, dass sie sich nicht mehr in die Handlungsmotivation einmischen. Die Überlebensimpulse, die jedes egoistische Handeln motivieren, müssen erkannt und integriert sein, sodass sie keine Rolle bei der Ausrichtung des Entscheidens und Handelns sind.

Erwachtes ethisches Bewusstsein

Mittlerweile ist das hohe ethische Bewusstsein nicht mehr nur Sache von wenigen Auserwählten aus der Menschheitsgeschichte, die gerne als Beispiele zitiert werden: Jesus, Buddha, Mahatma Gandhi. Es treten immer mehr Menschen auf, die von sich sagen, dass sie sich im erwachten oder erleuchteten Zustand befinden, und immer mehr Menschen suchen bei diesen Personen Inspiration und Hilfe für ihren inneren Weg. Der deutsche Philosoph Thomas Metzinger sieht in einer vertieften „Bewusstseinskultur“ (2023), die Zugang zu der universalistischen Bewusstseinsstufe hat und sich besonders auf die Meditation stützt, die wichtigste Ressource für die Änderungen in der Lebensweise, die durch die Klimaveränderungen auf uns zukommen. 

Auch die Wissenschaft nimmt sich dieser Phänomene an. Die US-amerikanische Neurowissenschaftlerin Lisa Hiller hat in einem Buch („Das erwachte Gehirn“, 2022) die Neurobiologie von spirituellen Bewusstseinszuständen erforscht und festgestellt, dass diese Zustände prinzipiell allen Menschen offenstehen. Es handelt sich also nicht um geistige „Spitzenleistungen“, die nur wenigen außergewöhnlich begabten oder begnadeten Personen zugänglich sind, sondern um ein Potenzial, das in allen Menschen steckt und durch geeignete Zugänge, Erfahrungen und Methoden erschlossen werden kann.

Die Welt steht vor großen Herausforderungen, die nur gemeistert werden können, wenn genügend Menschen mit den oberen Stufen der Ethik vertraut sind und in ihre Einstellungen und Werte aufnehmen können, sodass sie die praktischen Handlungen bestimmen. Wir haben viele Gründe zur Annahme, dass der Raubbau an der Natur massive Auswirkungen auf die sozialen Systeme haben wird. Die drohende Zerstörung von Klima und Atmosphäre, deren Stabilität für das Leben der Menschheit unerlässlich ist, führt zu immensen Herausforderungen für das Leben aller Menschen und für den sozialen Zusammenhalt. Dass die Menschen in Zeiten von knapper werdenden Ressourcen zusammenarbeiten statt zu kämpfen, erfordert eine starke Fundierung in einer erweiterten Form der Ethik. Ohne diese Rückbesinnung auf unser gemeinsames Schicksal auf diesem Planeten ist zu befürchten, dass die Verteilungskonflikte in den Staaten, in den Staatengemeinschaften und global an Schärfe und Heftigkeit zulegen werden. Die Probleme in der Eindämmung der CO2-Emissionen und vieler anderer Aspekte der Naturzerstörung, die ohnehin schon sehr groß sind, könnten dann nicht angegangen werden. Wir leben schon lange in einer Welt mit starken sozialen Unterschieden innerhalb der Weltbevölkerung, und diese eklatanten Unterscheide werden durch die Klimakrise fortlaufend vertieft. 

Universale Verantwortung

Die universalistische Ethik macht uns klar, dass Hunger und Armut nicht irgendwo fern in der Welt Leid verursacht, sondern dass das unser Problem ist, das wir gemeinsam lösen müssen. In dieser Perspektive leiden wir in den hochentwickelnden Ländern nicht nur an den Folgen der Klimaveränderungen und an der fortschreitenden Inflation, sondern auch am Hunger der Menschen in anderen Ländern. 

Es gibt eine Alternative, die allerdings keine wirkliche Alternative darstellt: Eine winzige Minderheit sichert sich ein komfortables Überleben (auf der Erde oder auf einem anderen Planeten), während die anderen mehr oder weniger darben oder zugrunde gehen, oder es arbeitet die Menschheit zusammen und findet Wege, die Lasten gleichmäßig zu verteilen und darauf zu achten, dass niemand unter die Räder kommt. Die erste Möglichkeit benötigt eine massive und kontinuierliche Schamverdrängung, sodass nur Zyniker überleben werden und sich dann untereinander das Leben schwer machen. Schon die Vorstellung einer solchen Möglichkeit ist in sich menschenverachtend und kann nur von Personen vertreten werden, die es nach Saadi „nicht verdienen, eines Menschen Namen zu führen.“ 

Die zweite Möglichkeit erfordert das innere Wachsen der ethischen Kompetenz bei möglichst vielen Menschen, und das geht nur über die Verarbeitung von Ängsten und die Entwicklung einer reifen Schamkompetenz. Wir alle müssen also an der Horizonterweiterung unserer moralischen Einstellung arbeiten und die dafür erforderlichen emotionalen Grundlagen festigen; diese Aufgabe ist mindestens so zentral wie die der Weiterentwicklung von Technologien und von sozialen Regulationen zur Abfederung der ärgsten Folgen der klimatischen Veränderungen. 

Zum Weiterlesen:
Keine Nachhaltigkeit ohne soziale Konfliktlösung
Von der Angst zur Ethik
Vom Gruppenegoismus zur globalen Ethik


Sonntag, 7. Januar 2024

Die Frage nach dem Jenseits und die Scham

Viele Religionen beschäftigen sich mit der Frage über das Weiterleben nach dem Tod und bieten dazu ihre Glaubenswahrheiten an. Die gängigsten Antworten sind die Wiedergeburtslehre und die Lehre von Himmel und Hölle. Nach Religionszugehörigkeit betrachtet, könnte man sagen, dass ungefähr eine Hälfte der Menschheit mehr der einen und die andere mehr der anderen Richtung des Jenseitsglaubens anhängt.

Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, welche Rolle die Scham bei der Beantwortung dieser Frage spielt. Wir kennen den Zusammenhang von Frage und Antwort. Fragen kommen aus einem Spannungszustand, der durch die Antwort entspannt werden soll. Wir wissen etwas nicht, und das bereitet uns ein unangenehmes Gefühl. Wir suchen die Antwort, um das lästige Gefühl zu beseitigen. Jede Unwissenheit trägt ein kleines Element der Scham in sich, und das Wissen, das wir erlangen, löst die Scham auf. Wenn wir aber keine Antwort auf unsere Frage bekommen, bleibt die Schamspannung bestehen.

Dieser Zusammenhang zeigt sich bei den kleinen und kleinsten Unwissenheiten im Alltag in Form von kleinen und kleinsten Scham-Lösungszyklen. Bei den großen, letzten Fragen, die unser gesamtes Sein anbetreffen, sind diese Zyklen umso größer. Die Frage nach dem Jenseits unserer Lebenslaufbahn betrifft uns auf einer existenziellen Ebene. Unser Denken ist in der Lage, über unseren Tod hinaus zu fragen: Was ist mit der Seele, wenn der Körper stirbt? Die Vorstellung der radikalen Endlichkeit („Mit dem Tod ist alles aus“) hat etwas Schockierendes an sich. Alles, worauf wir in diesem Leben bauen, und alles, was wir in diesem Leben aufgebaut haben, soll mit einem Schlag beendet und verschwunden sein. Um uns vor dieser Radikalität der Endlichkeit zu schützen, glauben wir lieber an eine der Formen des Weiterlebens, entweder mit einer Chance, die dann eine Ewigkeit anhält, oder mit einer endlichen oder unendlichen Serie von Wiedergeburten. Diese Denkmöglichkeiten geben uns einen Trost und eine Beruhigung angesichts der drohenden Endlichkeit. Zugleich befrieden sie das Schamgefühl, das entsteht, wenn wir mit einer Frage ohne Antwort dastehen, so als wären wir wären keiner Antwort würdig.

Die Antworten auf Fragen geben uns ein Gefühl der Kontrolle. Wir sind nicht mehr einem ungewissen Schicksal ausgeliefert, auch dann nicht, wenn der Tod anklopft, sondern wir können darauf vertrauen, dass es irgendwie weitergeht und wir nicht völlig ausgelöscht werden. Wir verfügen über ein Stück Sicherheit, ein Stück Kontrolle in Hinblick auf den Tod.

Wir können uns dabei zwar nicht auf Wissen berufen, weil es aus der Jenseitswelt kein sicheres Wissen geben kann, aber wir können uns auf unsere Fähigkeit zum Glauben stützen. Durch das Glauben schützen wir uns vor der unheimlichen und existenziell bedrohlichen Vorstellung, im Moment des Todes in ein Nichts zu fallen. Wir müssen die Scham nicht mehr spüren, die uns bei dieser Vorstellung befällt.  

Der Umkehrschluss lautet allerdings, dass all die Scheinsicherheiten, die durch Erklärungsmodelle und Sinnangebote jenseits des Wissbaren vorgeschlagen werden, der Angst- und der Schamabwehr dienen. Sie vermitteln die Illusion von Kontrolle und befriedigen das Bedürfnis nach Sicherheit in einem Bereich, in dem es keine Sicherheit geben kann. Es wäre blamabel und bedrohlich zugleich, zugeben zu müssen, das eigene Leben über den Tod hinaus nicht kontrollieren zu können.

Wissen und Kontrolle

Verlässliches Wissen suchen wir deshalb, weil es uns Sicherheit gibt und uns erlaubt, die Wirklichkeit zu kontrollieren. Wenn wir herausgefunden haben, was Blitze sind, können wir Techniken entwickeln, die unsere Häuser vor Blitzschlägen schützen. Wir sind der Naturgewalt in dieser Hinsicht nicht mehr ausgesetzt, sondern halten sie unter Kontrolle. Wenn wir verstehen, dass Menschen, die in ihrer Kindheit Gewalt ausgesetzt waren, später als Erwachsene mit höherer Wahrscheinlichkeit selber gewalttätig werden, wissen wir, wie wir die Gewalttätigkeit unter Menschen verringern können.

Wo wir über kein Wissen verfügen, das uns Sicherheit geben könnte, strengen wir uns an, dieses Wissen zu erzeugen. Wir forschen nach den Ursachen und Zusammenhängen, bis wir wissen, wie die Dinge funktionieren und wie wir sie lenken und kontrollieren können, sodass sie uns nutzen oder zumindest nicht mehr schaden.

Mit jedem Wissen gewinnen wir also ein Gefühl der Macht über Vorgänge und Menschen und fühlen uns geschützt vor Risiken. Das Gefühl, die Kontrolle zu haben, erfüllt uns mit Stolz. Mit Mitleid betrachten wir frühere Zeiten, in denen z.B. die Risiken, an einer Bakterieninfektion zu sterben, viel höher waren als heute. Denn wir verfügen gegen diese Gefahr über wirksame Mittel, die wir durch Wissen gefunden haben. Wo dieses Wissen noch nicht vorhanden ist, z.B. bei noch immer unheilbaren Krankheiten, spüren wir einen Mangel, der uns Scham bereitet, und eine Bedrohung, die uns Angst macht. Und wir freuen uns und sind stolz, wenn den medizinischen Wissenschaften ein Erfolg in der Krankheitsbekämpfung gelungen ist.

Gerade deshalb sind uns Bereiche, in denen wir kein sicheres Wissen erlangen können, besonders suspekt. Sie bereiten uns ein mulmiges Gefühl. Wir wollen uns auch hier vor Gefahren schützen und schämen uns, wenn es uns nicht gelingt. Um diese Scham zu überwinden, hat die Menschheit Vorstellungen erfunden, die uns auch hier eine Sicherheit geben sollen. Wir sind zwar nie sicher, ob es sich nicht doch um Illusionen handelt. Dennoch wollen viele auf diese Einbildungen nicht verzichten.

Die Alternative wäre es, das Nichtwissen und Nichtwissenkönnen auszuhalten. Die absolute Grenze, die der Tod in jedes Menschenleben einführt, löst Widerstände und Unwillen aus, die aus unserem Ego kommen. Unsere Selbstsucht hält es nicht aus, wenn wir irgendwo über keine Kontrolle verfügen und in der Schwebe der Unsicherheit hängen bleiben. Insbesondere unser eigenes Ende ist mit der größten Angst behaftet, und eine der Hauptfunktionen des Egos besteht darin, uns vor der Vorstellung eines absoluten Endes zu schützen. Es will über den Tod hinaus die Kontrolle behalten.

Denn es ist für unser überzogenes Selbstbewusstsein ein Skandal, das eigene Ende und damit die zukünftige Nichtigkeit dessen, was wir jetzt sind, mitdenken zu müssen. Der Narzissmus, der in jede Ego-Selbstbestätigung enthalten ist, will diese Grenze um jeden Preis relativieren, indem er sich an die Hoffnung auf ein jenseitiges Leben anklammert. Mit einer Form des Jenseitsglaubens kann er und damit die gesamte Ego-Agenda bestehen bleiben, zumindest so lange der Körper die Denkvorgänge aufrechterhält.

Der Stolz der Nichtgläubigen

Aber auch die skeptische Haltung zu den Jenseitsfragen enthält emotionale Fixierungen, wenn sie mit Stolz vertreten wird. Die naiven Jenseitsgläubigen werden belächelt oder verachtet, während die eigene Überlegenheit im Nichtglauben genossen wird. Festgehaltener Stolz stellt eine Form der Schamabwehr dar. Die Scham, keine befriedigende Antwort auf die Frage nach der eigenen Endlichkeit finden zu können, wird in den Stolz umgemünzt, im eigenen Bewusstsein weiter entwickelt zu sein als jene, die am Glauben hängen. Das Ego findet seine Befriedigung in dieser Form der Überheblichkeit.

Das Aushalten der Endlichkeit

Was wäre, wenn wir uns nicht unserem Ego unterordnen und den Narzissmus der Selbstüberschätzung überwinden? Dazu müssen wir uns den Gefühlen der Scham und der Angst stellen, die mit der Akzeptanz einer absoluten Grenze unseres Kontrollstrebens auftauchen. Wenn wir uns diese Gefühle bewusst machen, können wir ihre Macht über uns und über unsere Jenseitsvorstellungen brechen. Es fällt uns dann leichter, uns einzugestehen, dass unsere Kontrolle an der Grenze des Diesseits endet. Das Jenseits entzieht sich unserem Einfluss und unserer Macht, also auch der , die wir durch das Wissen erlangen wollen.

Die Akzeptanz der absoluten Grenze für das Wissen und die Kontrolle führt uns zu einer Haltung der Bescheidenheit und Demut. Wir fügen uns in unsere Begrenztheit und Unvollkommenheit und erkennen darin besondere Qualitäten des Menschseins. Wir beschränken unsere Fähigkeit, die Wirklichkeit durch Wissen zu kontrollieren, auf das diesseitige Leben, auf das Meistern der aktuellen Probleme und Fragestellungen. Wir erkennen und nehmen die besondere Würde, die darin liegt, unsere Kräfte der Bewältigung unseres uns gegebenen Lebens zu widmen, gleich ob es nach dem Tod irgendwie weitergeht oder nicht. Wir gründen das Vertrauen in uns und in die Beziehungen zu den Menschen um uns herum, denen wir liebevoll begegnen.

Wir nutzen die Räume, die uns zur Verfügung stehen, um unser Wissen zu erweitern und zu vertiefen. Als Menschen haben wir aufgrund unserer ins Jenseits und ins Unendliche reichenden Intelligenz eine Sonderstellung in der Natur inne. Wir können dieser Sonderstellung aber nur dann gerecht werden und aus ihr sinnvollen Nutzen ziehen, wenn wir uns selbst überall dort beschränken, wo die Kontrolle durch das Wissen nur illusionär ist. Jede Überdehnung der Grenzen führt uns in eine Versuchung, mehr Macht auszuüben als uns zusteht. Und das tut weder uns gut noch allem anderen, worauf sich diese Macht auswirkt.

Ähnlich wie wir als Menschheit unser Verhältnis zur Natur nur dadurch ausgleichen können, dass wir unsere überschießenden Kontrollimpulse kontrollieren und einschränken, kommen wir dem Sinn unseres Lebens nur näher, wenn wir die absolute Grenze, die uns der Tod nun einmal setzt, in ihrer Absolutheit respektieren und der Versuchung widerstehen, die uns die verschiedenen Glaubensmodelle anbieten.

Auf die Frage nach dem Weiterleben nach dem Tod haben wir die Wahl, an eines der Angebote aus den Religionen zu glauben oder auf jeden Glauben zu verzichten. In jedem Fall ist es sinnvoll und hilft bei der inneren Klärung, wenn wir nachprüfen, welche Ängste und vor allem welche Schamgefühle bei unserer Wahl mitspielen.

 Zum Weiterlesen:
Das Ego und die Idee der Unsterblichkeit
Theologie und Mystik zur Frage des Weiterlebens
Die zwei Wahrheiten und die Religionen
Wissen, Phantasie und Glaube
Dissoziative Weltbilder und die Trennung von Leib und Seele

Samstag, 23. Dezember 2023

Die pubertären Wurzeln der Ideologien

Die Zwischenzeit der Adoleszenz besteht darin, eine Antithese zur Kindheit zu bilden. Adoleszente wollen keine Kinder mehr sein und lehnen deshalb alles Kindliche ab. Sie orientieren sich an Werten, die sie absolut setzen. Sie fordern die Erwachsenen und ihre Ansichten heraus. Sie treten mit neuen Ideen und neuen Programmen auf, die die Gesellschaft verändern und vorantreiben sollen. Sie kritisieren die Widersprüche der von den Erwachsenen eingerichteten Welt und fordern die Widerspruchsfreiheit ein. Sie vertreten ihre Ideale bedingungslos, und sie können das auch, weil sie noch keine Handlungen setzen können und noch keine Verantwortung tragen müssen. Oft werden sie deshalb von den Erwachsenen als Träumer oder als weltfremde Idealisten belächelt. Die Jugendlichen wiederum sehen in den Erwachsenen in ihren Haltungen festgefahren und stur im Festhalten an alten Strukturen und an ihrer Macht. Sie betrachten das Bestehende als Hemmschuh für ihr Fortkommen und bekämpfen es, um Freiräume für eine Neugestaltung zu gewinnen. Die Adoleszenten treten mit vielen Forderungen auf, die sie leicht stellen können, weil sie nicht die Verantwortung für deren Verwirklichung tragen können.

Offenbar dient es dem gesellschaftlichen Fortschritt, dass jede junge Generation mit einem Elan zur Erneuerung und zur Überwindung von alten Verkrustungen antritt. Sie zeigt die Widersprüche zwischen Moral und Praxis, zwischen Idealen und Realität auf und fordert oft radikal eine Kehrwende ein, zurück zu mehr Gerechtigkeit und Offenheit. Denn die Jugend braucht eine offene Welt, in der es viele Chancen gibt, nicht nur für wenige Privilegierte, sondern für alle. Sie wissen noch zu wenig über sich selbst und sind unsicher, ob sie ihren Platz in der Welt finden können. Deshalb neigen sie zu radikaleren Vorstellungen über die notwendigen Veränderungen als viele Erwachsene, die sich eine pragmatischere Sicht auf die Wirklichkeit erworben haben. 

Widersprüchliche Realität

Die Realität ist geprägt von Gegensätzen und Widersprüchen, und das Erwachsenenleben gelingt in dem Maß, in dem diese Widersprüchlichkeit sein darf, ausgehalten wird und den Rahmen für das Handeln bildet. Viele Vorkommnisse sind weder gut noch böse, oder beides, keinesfalls aber eindeutig zuordenbar. Wir täten uns leichter mit der Wirklichkeit, wenn es immer die Täter (die Bösen) auf der einen und die Opfer (die Guten) auf der anderen Seite gäbe. Aber Vereinfachungen haben immer ihren Preis, während die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten bestehen lassen zu können, die Handlungsfähigkeit erweitert. Wir können besser auf die Wirklichkeit und ihre Erfordernisse eingehen, wenn wir sie in ihrer Ambiguität tolerieren. Je mehr Sichtweisen wir entwickeln, desto mehr Optionen haben wir. 

Ideologien sind pubertäre Erlösungsfantasien 

Jede Ideologie stellt einen Versuch dar, Widersprüche auf Kosten der Realität zu harmonisieren. Das scheinbar eindeutige Benennen von einfachen Ursachen für Missstände begeistert viele Anhänger und Parteigänger. Vereinfachungen vermitteln Illusionen der Handlungsfähigkeit, weil sie vorgaukeln, dass mit der Beseitigung des so-genannten Bösen die Probleme gelöst werden und sang- und klanglos verschwinden. Die gesellschaftlichen Probleme sind allerdings immer komplex und können nicht durch ein einfaches Dreinhauen gelöst werden. Meist verstärken einfache Lösungsansätze die Probleme zusätzlich. Ein Beispiel bilden die ökonomischen Maßnahmen, die von vielen rechtspopulistischen Regierungen durchgeführt werden. Sie geben aus dem gesellschaftlichen Füllhorn gern Geschenke für ihre Klientel, die den Staatshaushalt belasten; und den kleinen Leuten wird dann auf andere Weise wieder das Geld aus der Tasche gezogen. Oft reduzieren diese Politiker die Steuern für die Reichen, was den Schlechterverdienern mehr Lasten aufbürdet, aber Geld von den Reicheren in die Parteikassen der Rechtsparteien spült, die damit ihre Propagandamaschinen betreiben können. 

Wir können erkennen, dass die Neigung zu Ideologien pubertäre Wurzeln hat. Jugendliche neigen zu radikalen Sichtweisen und einfachen Lösungswegen, wie sie von Ideologien angeboten werden. Z.B. wird gefordert, riesige Zäune zu bauen, um das Flüchtlingsproblem für das eigene Land zu lösen. Das Problem wird damit in andere Länder exportiert und im eigenen Land kann man sich selbstzufrieden abputzen. Das Problem wurde also nur von den eigenen Leuten und Anhängern weggeschoben, aber nicht gelöst. Echte Lösungsschritte müssen in den Herkunftsländern ansetzen, damit die Bedingungen dort so verbessert werden, dass niemand mehr flüchten will. Aber das sind langwierige und komplexe Bemühungen, die zwar nachhaltig wirken, aber in den Zielländern der Fluchtbewegungen nicht populär sind, weil sie keine unmittelbare Entlastung von den Ängsten bewirken, die durch die Migrationen ausgelöst werden. 

Ideologen und Ideologieanhänger sind in ihrer Weltsicht nicht erwachsen geworden. Sie befinden sich in einer Fundamentalopposition zur Realität, die die objektive Entsprechung der Erwachsenenwelt darstellt. Sie wollen eine Gegenwelt, nicht die Weiterentwicklung der bestehenden. Sie erhoffen sich schnelle Lösungen und übersehen die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit, indem sie die Komplexitäten auf Einfachheit reduzieren und damit alle Details und Zusammenhänge, die dem eigenen Weltbild widersprechen, ausblenden. Deshalb bringen sie im besten Fall Scheinlösungen oder nur kurzfristig wirksame Verbesserungen zustande. Der Verantwortungshorizont reicht nicht aus, um nachhaltige oder langfristig haltbare Maßnahmen zu verwirklichen.

Verantwortungsbewusstes politisches Handeln trägt der Komplexität Rechnung und versucht, verschiedene Interessenslagen zu bedienen. Im 21. Jahrhundert bedeutet das immer auch, dass die Perspektive des gesellschaftlichen Handelns immer auch die Bedürfnisse der Natur und der künftigen Generation mit einschließt – Bereichen, denen sonst nachhaltiger Schaden zugefügt wird. Viele rechtsextreme Politiker vermeiden diese wichtige Sicht, indem sie den Klimawandel leugnen und damit Raubbau an den Ressourcen des Planeten fördern, die auch die Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen einschränken. 

Reifes Erwachsensein

Das reife Erwachsensein besteht nicht in der Negation der Adoleszenz, sondern in einer Integration von Kindheit, Jugend und Erwachsenem. Im Sinn von Georg Wilhelm Friedrich Hegel geht es beim Fortschritt immer um eine Synthese aus These und Antithese, aber nicht um eine reine Negation der Negation. Die Pubertierenden neigen zwar zur Negation von Kindheit und Erwachsenenwelt, aber die Weiterentwicklung führt zur Synthese, zur Verbindung der Kräfte und Energien.

Erwachsene dürfen immer wieder mal kindlich und pubertär sein. Es sind Aspekte der Lebendigkeit, die unterschiedliche kreative Impulse enthalten, die in jedem Erwachsenenleben mitwirken sollten. Das Erwachsensein, das sich nur als Abkehr und Überwindung von Kindheit und Jugendzeit versteht, neigt zur emotionalen Trockenheit und schöpferischen Farblosigkeit. Die Hauptausrichtung der Erwachsenen ist der produktive Umgang mit der Realität und ihren Herausforderungen mit den Mitteln der Rationalität und Pragmatik. „Reine“ Erwachsene sind nur Verwalter der Realität und keine Gestalter. Die Impulse zur Gestaltung kommen aus der Kreativität des Kindes und des Jugendlichen. Sie erfordern die Fähigkeit, die Welt immer wieder ganz anders sehen zu können, als sie ist.  

Die frühkindlichen Wurzeln der Ideologien
Verschwörungstheorien und Normalitätsscham

Donnerstag, 21. Dezember 2023

Über das Leben mit Ungewissheiten

Eine Klientin hat endlich einen Abnehmer für ihr Geschäft, das sie schon lange verkaufen will, weil es ihr viel Anstrengung abverlangt und sie neue Perspektiven für ihr Leben sucht. Der neue Übernehmer ist sehr interessiert, aber die legalen Prozesse brauchen noch Zeit, und erst dann ist der Verkauf sicher. Da immer wieder Interessenten aufgetaucht sind, die dann nach einiger Zeit der Überlegung abgesprungen sind, bleibt sie auch jetzt in einer dauernden Anspannung, solange der Vertrag nicht unterschrieben ist.

Eine andere Klientin sucht schon länger einen Nachmieter für sich und denkt, dass sie niemanden finden wird. Das Problem beschäftigt sie und lässt ihr keine Ruhe. Auch wenn es nicht wirklich dringend ist, braucht sie doch das Geld und fürchtet, dass es viel zu lange dauern wird, bis jemand, der auch passen muss, auftaucht.

Ungewissheit ist ein Zustand, den Menschen schlecht aushalten können. Sie wollen die Zukunft unter Kontrolle haben, um sich in der Gegenwart sicher zu fühlen. Diesem Bedürfnis nach Kontrolle steht die Einsicht gegenüber, dass wir prinzipiell nichts über die Zukunft wissen können. Wir verfügen einzig über Wahrscheinlichkeiten, die uns erlauben, die Zukunft zu planen. Der sprichwörtliche Ziegel fällt vom Dach, während wir gerade vorbeikommen, und alle unsere Planungen sind über den Haufen geworfen. Mit vielem können wir rechnen, eben mit dem, was sich im Wahrscheinlichkeitsspektrum aufhält, aber jenseits dieser Bereiche gibt es immer Räume für Ungewissheiten und Überraschungen. Ungewisses führt zu Unsicherheit, und Unsicherheit löst Angst aus. Diese Angst entsteht schon, wenn unsere Fantasie in die Zukunft schweift und dort eine verschwommene Leerstelle vorfindet. Sobald die Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurückkehrt, schwindet diese Angst. 

Aber unsere Gewohnheiten halten oft die Aufmerksamkeit gerade auf dem, was Angst macht, denn da könnte ja eine Gefahr drohen, auf die wir uns einstellen müssen. Lieber mit dem Schlimmsten rechnen, ist die Devise vieler Leute, mit dem Vorteil, dass es meistens doch nicht so arg kommt und damit eine positive Überraschung geschieht, aber mit dem Nachteil, dass die Zukunft mit Sorgen und Ängsten überladen wird und damit die Gegenwart andauernd überschattet und belastet ist. 

Die Schwierigkeiten, mit Ungewissheiten umgehen zu können, stammen oft aus einem mangelhaften Vertrauen ins Leben. Im Moment scheint alles ja ganz gut zu sein, aber es könnte sich schnell verschlechtern. Um die nächste Ecke schon könnte eine Unannehmlichkeit lauern. Also gehe ich lieber vorsichtig um die Ecke, eingestellt auf jedwede unliebsame Überraschung. 

Die Wurzel dafür liegt oft darin, dass die eigenen Eltern eine Unsicherheit in sich getragen haben, die sie auf das Kind übertragen haben. Sie konnten dem neuen Leben nicht vertrauen, das ihnen geschenkt wurde. Ein Kind, das mit dieser Unsicherheit empfangen wird, ist ebenfalls in seinem Lebensvertrauen erschüttert und trägt diese Ängstlichkeit weiter mit sich herum. Sie passt sich an die jeweiligen Umstände an, aber befürchtet leicht, dass leicht etwas Unerwartetes passieren könnte. Es reagiert klammernd und ängstlich, wenn die Mutter weggehen will oder gerät in Panik, wenn sie nicht gleich wieder kommt. Es ist im Kindergarten und in der Schule eher schüchtern und zurückhaltend. Auch im späteren Leben werden oft Gefahren gesehen, wo gar keine sind.

Die Ungewissheiten des Lebens annehmen zu können, weil sie zum Leben gehören, ist eine wichtige Lernaufgabe für jeden Menschen. Sie beinhaltet das Aushalten von Ängsten, verbunden mit der Herausforderung, die eigenen angsterfüllten Fantasien mit der Realität abzugleichen und die Handlungsspielräume auszuloten, die in jeder Situation liegen. Es ist ein kindlicher Anteil, der Ungewissheiten mit Angst verbindet, während der erwachsene Persönlichkeitsteil für die Realitätsprüfung zuständig ist. Kindliche Anteile melden sich oft mit starker emotionaler Ladung, um die ganze Aufmerksamkeit zu bekommen. Erwachsen werden heißt, sich der Macht der Gefühle nicht zu unterwerfen, sondern, ohne sie zu unterdrücken und zu übergehen, den Bezug zur Wirklichkeit aufrechtzuerhalten und aus ihm die innere Sicherheit zu gewinnen.

Das Leben ist ein beständiger Änderungsprozess. Über die Verläufe in der Zukunft können wir nur Vermutungen anstellen. Wir rechnen mit gewissen Wahrscheinlichkeiten, haben aber keine Gewissheit über ihr Eintreten. Wenn wir die Gelassenheit des Erwachsenseins mehr und mehr zulassen können, werden die Ungewissheiten zu Überraschungen und zu Aspekten des Abenteuers, das jedes Leben von Anfang bis Ende ist.

Zum Weiterlesen:
Von der Ungewissheit zur Mystik
Ungewissheit als Chance


Samstag, 16. Dezember 2023

Die individuelle Mobilität und die Klimakrise

Der Motive zum Reisen gibt es viele, und es zählt zu den grundlegenden Sehnsüchten der Menschen, sich von zuhause wegzubewegen und fremde Orte kennenzulernen. Die Reiselust ist eng mit der Abenteuerlust verbunden. Das Reisen führt zur Konfrontation mit anderen Welten, Kulturen und Lebensformen. Es bietet ein Entkommen aus den gewohnten Umständen. Es führt zum Sammeln von Erfahrungen, die mit anderen geteilt werden können. Interessantes aus der Ferne berichten zu können, macht zu einem beliebten Gesellschaftsmenschen. Dazu kommen die Stressmuster aus dem Arbeitsleben, die es schwer machen, die Erholung zuhause zu finden. Die Anforderungen werden nach der Logik des Kapitalismus immer schärfer angezogen, und umso dringender zeigt sich der Wunsch nach einem Kontrastprogramm, das möglichst weit weg gefunden werden soll. 

Die moderne Zeit hat einen enormen Zugewinn an Mobilität erlaubt. Der Erfahrungs- und Lebenshorizont der Menschen in vormodernen Gesellschaften war auf ca. 30 Kilometer im Umkreis beschränkt (die Wegstrecke, die man in einem Tag zu Fuß hin- und retour bewältigen kann). Wer über ein Reitpferd verfügte, kam schon weiter, aber das war das Privileg einer winzigen Minderheit. Und auch diese Reiseform hatte ihre Grenzen. Die grenzenlose Freiheit des Reisens ist also eine Errungenschaft der neuesten Zeit und hat in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg die Massen in den reichsten Ländern erreicht. Im Maß des Wachstums des Wohlstandes in immer mehr Ländern entwickelt sich auch die Reiselust und Reisegier. So leicht und beschwerdefrei wie in unserer Zeit war das Reisen noch nie, die Abenteuer werden immer billiger und uniformer; die Urlaubsdomizilien ähneln sich immer mehr. Mit fortschreitender Vergünstigung des Reisens schwindet der Charakter des Abenteuers kontinuierlich. Die Suche nach der „einzigartigen Erfahrung“ in der Fremde wird deshalb immer aufwändiger.

Reisen und Energie

Die modernen Formen des Reisens beginnen mit den Dampfzügen, betrieben mit Steinkohle aus den Tiefen der Erde. Dann kamen die Autos, und das Erdöl wurde zum flüssigen Gold überall dort, wo es gefördert werden konnte. Später dann wurde mit den Flugreisen die bis dahin ressourcenintensivste Form des individuellen Reisens eingeführt. Heute können sich die Superprivilegierten eine Mondreise leisten, mit der man neue Rekorde im Ressourcenverbrauch und in der klimaschädlichen Gasfreisetzung aufstellen kann. Modernes Reisen ist also ressourcenintensiv und benötigt bislang vor allem fossile Brennstoffe. Reisen zu Pferd oder Segelschiff sind heutzutage nicht mehr als Hobbies von denen, die es sich leisten können. 

Es gab die naiven goldenen Jahren des Schwelgens im grenzenlosen Wachstum, als die Warnungen vor der Begrenztheit der Rohstoffe noch als Spinnereien abgetan werden konnten und der Klimawandel nur einigen Wissenschaftlern aufgefallen war. In diesen Zeiten war das Reisen nur eine Frage des Geldes und nicht auch des Gewissens. Heute wissen wir viel mehr und tun uns immer schwerer damit, dieses Wissen wegzudrücken und so zu tun, als könnten wir weiter unbeschwert tun und lassen, was wir wollen. Wir reden uns gerne ein, dass alles nicht so schlimm ist und dass wir deshalb an unseren Lieblingsgewohnheiten festhalten können. Wir gebärden uns so, als wäre es unser Recht und nicht unser Privileg, in der Art zu reisen, wie wir gerade wollen, solange wir es uns leisten können.

Wir wissen, dass die Ressourcen dieser Erde endlich sind und dass die Verbrennung der fossilen Bodenschätze die Hauptursache für den Klimawandel mit seinen unabsehbaren Folgen ist. Wir wissen, dass wir uns daran beteiligen, wenn wir ressourcenaufwändig reisen. Aber im Zweifelsfall vergessen wir auf unsere moralische Verantwortung und rechtfertigen unsere Reisetätigkeit mit fadenscheinigen Argumenten vor uns selbst und vor anderen. Es gibt keine äußeren Ankläger, die die Verantwortung, die wir der Umwelt und den künftigen Generationen gegenüber haben, einfordern würden. Denn weder die Natur noch zukünftige Erdenbürger gelten als Rechtssubjekte. Unser Rechtsverständnis und unsere Rechtsprechung haben sich noch nicht auf die Gegebenheiten eingestellt, mit denen wir schon seit geraumer Zeit konfrontiert sind. Damit kommen wir ungestraft davon, auch wenn wir anderen Schaden zufügen.

Die moralische Spannung beim Reisen

Es ist deshalb nur ein Anspruch, den wir an uns selber stellen können und müssen, weil wir ja über das Wissen zu den Folgen unseres Handelns verfügen. Jede Reise mit belastender Ökobilanz erzeugt eine moralische Spannung, ob wir das wollen oder nicht, mit der wir umgehen müssen. Die verbreitetste, weil scheinbar einfachste Form, mit der Spannung zurechtzukommen, besteht darin, sie abzuschwächen oder ganz zu leugnen. Aber auch die Bagatellisierung und Verdrängung der Spannung ist belastend erfordert Energie, die oft als Aggression auf jene abgelassen wird, die an die Auswirkungen der Klimakrise erinnern. Es werden diejenigen geprügelt, die einen an das schlechte Gewissen erinnern. Sie sollen zum Schweigen gebracht werden, in der Hoffnung, dass sich dadurch auch das eigene Gewissen beruhigt. Die Überbringer von schlechten Nachrichten hatten nie ein leichtes Los, aber die drastischen Veränderungen des Klimas kümmern sich nicht darum, ob die Menschen Verantwortung übernehmen oder nicht. 

Es gibt trotz der überwältigenden wissenschaftlichen Evidenz leider noch immer viele Leugner des menschengemachten Klimawandels, die zum Teil von Firmen finanziert werden, die an der bisherigen Ressourcenverschwendung profitieren und jede Änderung unterminieren wollen, um ihre Gewinne weiterhin zu sichern. Sie halten sich ein Publikum bei denen, die zwar nichts mit der fossilen Industrie zu tun haben und auch nicht an deren Gewinnen mitnaschen, die aber deren Argumente aufgreifen und verbreiten, um mit ihnen die eigene Gewissensspannung zu beruhigen und über jene richten zu können, die immer wieder an die sich anbahnende Katastrophe erinnern. 

Reisen in der Zukunft

Es ist historisch gesehen ein kleines Zeitfenster, in dem das Reisen zum Massenphänomen wurde und unbeschwert genossen werden konnte. Im Lauf der letzten Jahrzehnte wurde klar, dass wir die Verantwortung für diese Erde gemeinsam schultern und als Folge Einschränkungen im Lebensstil und in den Konsumfreiheiten in Kauf nehmen müssen. Sie betreffen auch das Reisen, das seine Selbstverständlichkeit verliert und als komplexes Problem gesehen werden muss.

Das Reisen wird auch in Zukunft nicht verschwinden, aber es wird seinen reinen Konsumcharakter verlieren müssen und wieder auf die ursprünglichen Bedürfnisse und Motive zurückgreifen, die allesamt auch ohne den Verbrauch von fossilen Brennstoffen erfüllt werden können. Das Erleben des Neuen und das Heraussteigen aus dem Alltag geschieht durch das Wegbewegen von den Gewohnheiten, und dafür, dass es gelingt, ist nicht die Anzahl der Kilometer maßgeblich, die bei Reisen zurückgelegt werden, noch die Geschwindigkeit, mit der die Distanzen überwunden werden.

Zum Weiterlesen:
Die Jagd nach Erfahrung


Sonntag, 3. Dezember 2023

Das Ego in der Meditation

Das Ego mischt sich in alle Themen und Aktivitäten unseres Lebens ein, so natürlich auch ins Meditieren. Es äußert sich schon von Beginn an: Was soll das bringen? Wie mühsam ist es doch, nur dazusitzen und nichts zu tun, so viele Ideen hätte ich, aber jetzt soll ich nur still sitzen bleiben ...  

Aber auch, wenn die ersten Hürden überwunden sind und der Entschluss zum Meditieren zu einer Routine geführt hat, melden sich Widerstände, die unser Ego produziert: Ich komme nicht weiter, es ist nur langweilig, ich bin ja sowieso immer nur in Gedanken etc. Manche resignieren wegen dieser hartnäckigen Widerstände und hören irgendwann mit dem Meditieren auf. Oder sie schaffen es nur, dranzubleiben, wenn sie in einer Gruppe sind. Das Aussteigen aus der Meditationspraxis tut dem Ego einen Gefallen, das sich zufrieden zurücklehnen kann und nicht mehr fürchten muss, die Macht im Inneren zu verlieren. So kann alles beim Alten bleiben, die Muster ändern sich nicht und die Gewohnheiten bestimmen weiterhin das Leben mit seinen vielfältigen Ablenkungen. 

Das Ego und der spirituelle Fortschritt

Das Ego meldet sich aber auch dann, wenn eine Meditation eine herausragend positive Erfahrung war. Hurtig brüstet es sich mit dem Fortschritt einer „gelungenen” Meditation, wenn sie z.B. zu tiefer Entspannung geführt, spezielle innere Räume geöffnet und egofreie Zustände ermöglicht hat. Kaum öffnen wir die Augen, drängt sich das Ego in den Vordergrund und reklamiert den „Erfolg“ für sich: Wie weit bin ich doch schon auf meinem inneren Weg fortgeschritten, das Ziel kann nicht mehr weit sein. Vielleicht präsentiert das Ego auch Vergleiche wie: Früher habe ich noch mit so vielen Widerständen kämpfen müssen, gestern konnte ich mich gar nicht konzentrieren, aber heute habe ich einen tollen Schritt vorwärts geschafft. 

Selbstzufrieden schauen wir auf die Errungenschaft zurück, stolz erzählen wir Freunden davon, um ihre Bewunderung zu ernten. Heimlich reibt sich das Ego seine Hände und freut sich, dass ihm die Meditation nichts anhaben konnte. Denn es sonnt sich in dem Stolz. Plötzlich steht es voll hinter der Meditation, die es als seine Leistung präsentieren kann. Dieses Momentum, wo der Drang nach innerem Vertiefen und das stolzgeprägte Ego zusammenwirken, kann die Meditiererin für sich nutzen und die Konsequenz im Weitermachen stärken. 

Dem Ego geht es zwar nicht um die innere Entwicklung, die tendenziell von seiner Macht wegführt, sondern darum, im sozialen Feld für einen stabilen Stand zu sorgen, an dem die Anerkennung sichergestellt ist. Da es aber erkennt, dass es in seiner Aufgabe, für Sicherheit zu sorgen, durch die Meditation unterstützt wird, verringert es seinen Widerstand dagegen.  

Im Überschwang der „ Fürsorglichkeit” hebt es uns gerne auf ein Podest: Ach, die anderen unbewussten Menschen, die auf den Straßen im Halbschlaf herumlaufen, während ich Bewusstseinsräume kenne und in Sphären unterwegs bin, die sie nicht einmal in den kühnsten Träumen kennenlernen konnten. Sie sind voll in ihren dunklen Prägungen verhaftet und kennen die Freiheit und Glückseligkeit nicht, all die erlesenen Qualitäten, von denen ich schon gekostet habe. 

Wenn allerdings die Meditation nicht „gelungen“ erscheint, wenn zu viele Gedanken oder unangenehme Gefühle den Ablauf bestimmt haben, ist das Ego erst recht in seinem Element. Es sorgt sofort für Kritik und Selbstvorwürfe.  Es vergleicht mit früheren besseren Erfahrungen oder mit anderen Zeitgenossen, die auf diesem Weg viel schneller viel weiter gekommen sind. Statt den Stolz zu füttern, führt es hier zur Scham. 

Stolz und Scham, die Polarität des Egos

Das Ego sucht also in jeder Erfahrung, also auch in jeder meditativen Erfahrung, Anlässe für Stolz, wenn es die Erfahrung positiv bewertet, oder für Scham, wenn es sie negativ eingestuft. Das Ego richtet beständig jede Erfahrung nach seinen gewohnten Maßstäben. Damit verführt es in seine Gefilde, weg von der lebendigen Erfahrung, die in ein lebloses Objekt der Bewertung und Einordnung verwandelt wird. Es überlagert die aktuelle Wirklichkeitswahrnehmung mit seinen konstruierten und rekonstruierten Inhalten aus der Vergangenheit.  

Das Lebenselixier des Egos ist die Angst. Es ist aus Ängsten entstanden und hütet sie im Wunsch, vor ihnen zu bewahren. Es versucht, alle Erfahrungen, die wir machen, mit Angst zu verbinden und aufzuladen. Selbst wenn es sagt: Du brauchst keine Angst zu haben, weil du z.B. so gut meditierst, zeigt es sich als Agent der Ängste: Ich sage dir, wann du Angst haben sollst und wann nicht. Ich mache dich stolz und selbstsicher, aber ich kann dir deine Sicherheit jederzeit wegnehmen. Du verdankst deine Angstfreiheit meiner Umsicht und Wachsamkeit. 

Im Sinn des angstgetriebenen Vermeidens von Ängsten verkauft das Ego jeden Erfolg als eigene Leistung und jeden Misserfolg als persönliches Versagen. Erfolg heißt, dass eine Schonfrist vor der nächsten Angst gewonnen wurde. Misserfolg heißt, dass die Angst vorherrscht. Das demütige Annehmen dessen, was das Leben schenkt, ob es nun angenehm ist oder nicht, ist sein größter Feind oder das, was es am wenigsten verstehen kann. 

Das Erlernen der Distanz von Ego und Wirklichkeit

Meditieren bedeutet, dem Ego und seinen Spielchen zu begegnen und mehr und mehr Erfahrungen darüber zu sammeln, was es alles anstellt. Manchmal wird es ganz ruhig und zieht sich zurück, manchmal taucht es unvermutet hinter jedem Winkel auf: Eine Klientin meinte: „Ich habe mein Ego schon so satt!“ Und gleich drauf: „Sagt mein Ego.“  

Bei jeder Diskrepanz zwischen dem Selbst und der Realität ist das Ego aktiv. Es kritisiert und bejammert das, was gerade ist und sich nicht den eigenen Vorstellungen fügt. Beim Meditieren versuchen wir, anzunehmen, was gerade ist, ohne etwas daran zu bekritteln. Das Ego sperrt sich gegen diese Versuche und will immer wieder seine Agenda durchbringen: Die Realität soll sich gefälligst danach richten, was wir für richtig halten. 

Mit einiger Meditationspraxis und mit fortgeschrittener Fähigkeit im Durchschauen des Egos wird klar, dass es keine guten oder schlechten Meditationen, keine gelungenen oder misslungenen gibt, sondern nur verschiedenartige Erfahrungen. Jede Meditation, auf die wir uns einlassen, ist anders. Manchmal fällt es uns leichter, uns auf den Moment zu konzentrieren, manchmal geht es schwerer. Beide Erfahrungen sind gleich wertvoll. Es geht ja in der Meditation nicht darum, bestimmte Bewusstseinszustände zu erreichen, sondern eine Zeit darauf zu verwenden, die Aufmerksamkeit nur nach innen zu richten und dort alle, was auftaucht, anzunehmen. Es ist also eine Übung im Akzeptieren dessen, was ist.  Sind viele Gedanken da, so ist es das, was zu akzeptieren ist. Sind viele Gefühle da, so werden diese angenommen. Gelingt es leichter, das, was auftaucht, anzunehmen, ist das zu akzeptieren, ebenso, wenn das schwerer fällt. Was immer ist, sollte angenommen werden. Das ist der Königsweg zur Entmachtung des Egos.  

Denn das Ego will nichts in seinem Sosein annehmen, sondern an allem, was auftaucht, seinen Stempel aufdrücken, der es in etwas anderes verändert. Es ist konsequent im Kritisieren dessen, was ist, und reißt deshalb permanent aus dem Fließen von Erfahrung zu Erfahrung: Es kommt eine Erfahrung und dann eine Unterbrechung, ein Riss, in dem sich das Ego breit macht. 

Die Haltung beim Meditieren ist die gelassene Beobachtung, das Seinlassen dessen, was ist. Es kann der Atem beobachtet werden, aber auch Körperempfindungen, Energiephänomene oder die Atmosphäre in der Umgebung. Dabei ist immer auch und vor allem das eigene Ego Gegenstand des Beobachtens, des Wahrnehmens und Erkennens. Denn es bewirkt, ob die Aufmerksamkeit auf dem aktuellen Moment sein kann, auf der Erfahrung, die ins Bewusstsein tritt, oder auf Phänomenen, die vom Ego präsentiert werden, wie Gedanken und Bilder. Je mehr es gelingt, das Treiben des Egos zu identifizieren und dann die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zurücklenken, desto mehr bleiben wir mit der aktuellen Wirklichkeit verbunden und nicht mit jener synthetischen, die das Ego aufdrängt. Denn was aus dem Ego kommt, ist immer ein Stück Wirklichkeit fast ununterscheidbar mit einem Stück Fantasie kombiniert. 

Meditation ist demnach die Übung, der Wirklichkeit, die im momentanen Erleben zu finden ist, immer näher zu kommen, und dazu ist das Erlernen der Unterscheidung des Erlebens und der Ego-Produktionen notwendig.  Fast immer dominiert das Ego die Erfahrung, vor allem in unserem Alltag; manchmal besteht eine Distanz zwischen ihm und der Instanz, die es beobachtet, und in der Meditation bemühen wir uns methodisch, diese Distanz zu stärken. 

Zum Weiterlesen:
Störungen in der Meditation
Selbst- und Außenbeziehung in Therapie und Meditation
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