Freitag, 24. März 2023

Die Langsamkeit der Natur

Die Natur ist eine Lehrmeisterin der Langsamkeit. Die mentale Schnelligkeit, die die Menschen entwickelt haben, hat zur Erfindung von Maschinen geführt, die Geschwindigkeiten errreichen können, die alles übertreffen, was die Natur hervorbringen kann. Natürlich sind all diese Maschinen aus Naturstoffen zusammengebaut, in Kombinationen, die der menschliche Geist mit akkumuliertem Wissen und vielen Experimenten erschaffen hat. Die Illusion der Naturbeherrschung, also der Machtanspruch der Menschen über die Natur ist die Triebfeder hinter dem Geschwindigkeitsrausch, den der menschliche Erfindergeist entfesseln konnte. Die Naturbeherrschung dient letztlich der Todesbeherrschung, denn der Tod markiert jene Grenze, an der die Natur unerbittlich dem menschlichen Geist ein Ende setzt und den menschlichen Körper für immer zu sich zurückfordert. Eine naturgeschichtlich betrachtet winzige Zeitspanne ist jedem Menschen zugemessen, in der er sich in der Naturbeherrschung austoben kann, bevor diese sich die Macht zurückholt. 

Diese Grenze stellt ein Ärgernis für den menschlichen Geist dar, sie ist eine Kränkung für seinen Narzissmus. Der Tod macht alle gleich, nackt sind wir ins Leben gekommen, nackt verlassen wir es wieder. Als Naturwesen haben wir das Licht der Welt erblickt und zu Naturwesen werden wir, sobald wir unser Leben ausgehaucht haben. In der Zeit dazwischen haben wir uns von der Natur entfernt, indem wir unsere Herkunft verdrängt und vergessen haben. Ein Zeichen dafür ist das Genießen von Geschwindigkeit, das die kurzzeitige Überwindung des Fluches der Endlichkeit verspricht. Das Leiden folgt auf den Fuß, sobald der Geschwindigkeitsrausch zum Stress wird, sich chronifiziert und Folgeerscheinungen erzeugt. Jedes Leid erleben wir als störenden Einfluss der Natur auf unseren Geist, und wenn wir es nicht schaffen, das Leid anzunehmen, vergrößert sich unsere innere Distanz zur Natur und wir neigen noch mehr dazu, Handlungen zu setzen, die der Natur und damit langfristig uns selbst Schaden zufügen. Die Natur verkraftet alle menschlichen Eingriffe, nur die Menschheit schaufelt sich damit über kurz oder lang das eigene Grab. Das ist eine der Paradoxien des Menschseins: Im Entrinnen der Endlichkeit die Endlichkeit der gesamten Menschheit vorzubereiten. Das Unsterblichkeitsprojekt, das aus dem selbstbezogenen und zur Selbstüberschätzung neigenden menschlichen Geist entspringt, ist bestens dazu geneigt, die Selbstausrottung der Menschheit herbeizuführen.

Die Akzeptanz der Endlichkeit

Der Ausweg aus der Sackgasse, in die sich die Menschheit mit jedem Tag, an dem sie sich weiter von der Natur entfernt, noch mehr hineinmanövriert, ist eine radikale Zurückwendung zur Natur – zur eigenen Natürlichkeit und zu dem, was die Umgebung braucht, um heil zu werden. Es geht um die Einstimmung auf die Rhythmik der Natur, mit der wir nicht nur unsere Gesundheit optimal fördern. Japanische Ärzte schicken ihre Patienten in den Wald, damit sie durch die langsamen Schwingungen der Natur wieder zu sich finden. Wir können auf diesem Weg auch die Fehlentwicklung unserer industriellen, von Beschleunigung geprägten Lebensform korrigieren. Wir müssen langsamer werden, in unserem Denken und in unseren Erwartungen, wenn wir das kollektive Ende verhindern wollen. Wir müssen unsere individuelle Endlichkeit voll und ganz akzeptieren, um zur Bescheidenheit zu finden, mit der wir unsere Bestrebungen der Natur unterordnen und sie in das größere Netz des Seins einflechten. Nur in dieser Akzeptanz, in der wir die Illusion der Naturbeherrschung verabschieden, können wir die Position einnehmen, die uns zusteht, sodass wir sorgsam mit dieser Welt und den uns anvertrauten Gütern umgehen, um sie unseren Nachkommen in einem guten Zustand zu hinterlassen. In der Langsamkeit, wie schon mehrfach beschrieben, kommen wir leichter in Kontakt mit unserem tieferen Sein, das uns die Natur geschenkt hat. Dort schlummert all das Wissen, das wir brauchen, um die Wende zurück zur Zeitstruktur der Natur zu schaffen. Jeder Schritt, den wir in diese Richtung tun, kommt uns selber zugute. Denn wir sind ja selber auch Natur, durch und durch. Wir sollten überall, wo es nur geht, das Tempo rausnehmen, aus unserem Denken, Reden, Fortbewegen und Tun. Die Entspannung, die sich dadurch einstellt, kommt nicht nur uns selbst, sondern auch unseren Mitmenschen und der Natur um uns herum zugute.

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Dienstag, 21. März 2023

Langsamer ist schneller

Langsamer geht oft schneller.  Das ist ein paradoxer Satz. Und er mutet befremdlich an, weil wir an eine von Schnelligkeit geprägte Zeit gewöhnt sind. Doch sprechen viele Erfahrungen für diesen Satz:

Wenn wir hektisch werden, werden wir fehleranfälliger und brauchen dann mehr Zeit fürs Fehlerkorrigieren. In der Schnelligkeit übersehen wir leicht wichtige Details, unser Blick ist immer schon wo anders als bei dem, was gerade ist. Beim Sprechen verschlucken wir leicht sinngebende Partikel und wundern uns, wenn wir nicht verstanden werden. Beim Zuhören entgehen uns die Nuancen und Zwischentöne, manchmal auch ganze Sätze oder Satzteile, weil unser Kopf sich schon die Antwort nach den ersten gehörten Worten zurechtlegt. Unsere Fähigkeiten sind auf das Nötigste reduziert, weil der Schnelligkeitsmodus mit dem Notfallmodus gekoppelt ist.

Im langsamen Modus haben wir Zeit, uns zu überlegen, was wir wie sagen, statt gleich mit der Tür ins Haus zu fallen oder mit einem Schwall an Worten herauszuplatzen und den Gesprächspartner zu überschwemmen. Wir haben Zeit, uns auf die angesprochene Person einzustimmen und können uns besser in sie hineinversetzen. Wir hören nicht nur das Geredete, sondern auch das Gemeinte. Mit Langsamkeit sind wir bessere Kommunikatoren. Wir ersparen uns Missverständnisse und damit auch viele Konflikte, die aus unvollständigen Gesprächen entstehen. Wir nehmen uns Zeit, Probleme genauer zu betrachten, und entwickeln mit dieser Haltung oft nachhaltigere Lösungen.

Die Qualität der Langsamkeit

Die Langsamkeit verfügt über eine eigene Lebensqualität. Wir sind mehr mit uns selber verbunden und nehmen zugleich mehr im Außen wahr. Wir haben mehr Ideen und sehen mehr Möglichkeiten in der Wirklichkeit. Die Reichtümer und Schätze des Lebens fallen uns auf und erfreuen uns. Wir gehen durch Straßen, durch die wir sonst hasten, und bemerken Schönheiten und Besonderheiten, die uns völlig neu erscheinen. Wir spazieren durch einen Park, und winzige Blüten oder Blätter erquicken unsere Augen. In der Langsamkeit lernen wir den Augenblick und seine Fülle zu genießen. 

Auch die Meditation ist eine Schule der Langsamkeit. Wenn wir uns in uns versenken, verlangsamen die Sinne und die Gedanken. Vielleicht rasen zuerst die Gedanken, sobald wir die Augen schließen, aber bald wird es innerlich ruhiger und der Gedankenstrom bricht ab, alles wird einfacher und leichter. Die Komplexität, die unser Kopf produziert und die uns oft Stress bereitet, wird nebensächlich, die vielfältigen Probleme, die uns plagen, werden unwichtiger, statt dem Tun tritt das Sein in den Vordergrund, statt der Schnelligkeit die Langsamkeit.

Wie wir wissen, fördert das langsame Essen die Verdauung und das Sättigungsgefühl. Ein langer Kauprozess ist nicht nur gut für den Kiefer, sondern führt auch dazu, dass die Nahrung gut eingespeichelt und für den Magen und Darm vorbereitet wird. Wir essen weniger, aber haben mehr an Nährwert und Genuss davon, als wenn wir die Speisen hastig verschlingen. Alle unsere inneren Vorgänge im Bauch folgen im Normalfall einem langsamen Tempo und brauchen Ruhe, um gut abzulaufen.

Der Grundrhythmus der Langsamkeit

Und schließlich: Das langsame Atmen bildet die Grundlage der Langsamkeit überhaupt. Der Atemrhythmus ist der Grundtakt in unserem Inneren, der alle anderen Rhythmen mitbestimmen kann, wenn wir langsam atmen. Stress ist immer mit schnellem Atmen verbunden, und umgekehrt führt schnelles Atmen zum Stress. Mit der Verlangsamung der Atmung kommen wir herunter vom Stress. Langes Ausatmen aktiviert den Parasympathikus und verringert den Herzschlag. Der Puls wird ruhiger und die Herzratenvariabilität steigt.

In einem Experiment wurden Mäuse dazu gebracht, jeden Tag eine halbe Stunde langsam zu atmen. Nach vier Wochen wurde ein Stresstest gemacht, und die Gruppe der Mäuse, die langsam geatmet hatten, schnitten signifikant besser ab als die Vergleichsgruppe: Sie erholten sich wesentlich rascher vom Stress, ihre Stressresilienz war also bedeutend höher. 

Das Leben genießen

Es gibt auch den Genuss von Geschwindigkeit, er kann etwas Spielerisches und Abenteuerliches haben. Beispiele sind der Fahrtwind beim Radfahren oder das Sausen beim Ringelspiel. Der Geschwindigkeitsgenuss lebt davon, dass wir uns auf etwas Aufregendes einlassen, eine spannende Erfahrung machen und dann wieder in die Ruhe zurückfinden. Es ist ein Wechsel in den Rhythmen, der uns erfreut und den wir im Griff haben, indem wir festlegen, wie er abläuft. 

Das ist ein anderes Geschwindigkeitserleben als das des Getriebenseins, mit dem wir im modernen Alltag kämpfen. Da handelt es sich meistens um ein Hetzen und Gehetztsein. Wir stecken in einem Kampf- oder Fluchtmuster, nur gibt es keine äußeren Bedrohungen, vor denen wir uns fürchten müssen, sondern nur innere Fantasien, mit denen wir uns ausmalen, was passieren würde, wenn wir langsamer werden. 

Verfolgungsträume

Im Beschleunigungsmodus wirkt unser Leben wie in einem Alptraum: Eine Gefahr nähert sich in unserem Rücken, wir laufen schneller und schneller, und doch haben wir das Gefühl, dass uns die Bedrohung näher und näher kommt, bis wir schweißgebadet aufwachen. Der Alptraum ist oft nur eine drastischere Erfahrung wie in den Mustern, die schon Teil des Alltags geworden sind, ohne dass es uns noch auffällt.

Verlangsamung durch Krankheit

Manchmal tut unser Körper nicht mehr mit und verweigert seine Kooperation. Er wird krank, und mit einem Schlag wird alles langsamer. Plötzlich verschieben sich alle Werte und Perspektiven. Was uns unaufschiebbar erschienen ist, wird aufgeschoben, was sofort erledigt werden musste, kann nun warten, was unabwendbar für uns zu tun war, macht jetzt jemand anderer. Plötzlich sind die Erwartungen und Anforderungen, die von außen an uns gerichtet werden und denen wir in uns eine äußerste Dringlichkeit eingeräumt haben, nicht mehr die oberste Priorität, sondern wir selber, unser Wohlsein und unsere Bedürfnisse. Auch wenn wir mit unserem Schicksal hadern und die Krankheit schnell wieder loswerden wollen, sind wir gezwungen, uns zu fügen und unserem Organismus und seiner Zeitstruktur den Vortritt zu lassen. 

Die Lektion im Kranksein ist immer und immer wieder, dass wir nur mit einem gesunden Körper Leistung erbringen können und dass deshalb die Fürsorge für die körperlichen Bedürfnisse vor und über jeder Leistungsanforderung steht. Jede Krankheit zeigt uns, dass wir in irgendeiner Hinsicht gegen unseren Körper gelebt haben und dass wir diese Fehlentwicklung korrigieren müssen. 

Manchmal ist es die Seele, die nicht mehr will und den Widerstand gegen die Selbstausbeutung anführt. Wir merken vielleicht an einer Lustlosigkeit, an einer inneren Schwere, an beständiger Unruhe oder an Sinnzweifeln, dass unsere Seele im Ungleichgewicht ist. Oft suchen wir dann Rat bei Ärzten, weil wir meinen, irgendein körperlicher Mangel könnte die Quelle unserer Unlust sein. Erst wenn diese nichts finden können, schauen wir auf die seelische Ebene und beginnen wahrzunehmen, was da fehlt.

Die Lektion in jedem Seelenleiden, das durch die Beschleunigung entsteht, lautet, dass wir nur mit einer gesunden Seele ein gutes Leben führen können. Die Seele gedeiht in Entspanntheit und Muße, nicht unter Bedingungen, die von außen aufgedrängt werden und nicht der eigenen Gestaltungskraft unterliegen. Unter Druck wächst kein Seelenfrieden. Vielmehr hat die Seele ihre Eigenzeit und ihr Eigentempo, die wir in der Natur, aber nicht im Muster des mentalen Getriebenseins finden können. 

Die langsame Seele

Die Seele braucht im Vergleich zum Mentalen immer viel mehr Zeit. Die Beschleunigung ist in unserem Kopf zuhause, unsere Gedanken sind schon irgendwohin in die Zukunft abgedüst oder schweifen assoziativ in der Vergangenheit herum. Indem wir die Abläufe in unserem Körper verlangsamen, kommen wir unserer Seele näher und sie öffnet sich mit ihren Schätzen für uns. 

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Dienstag, 14. März 2023

Die Geschwindigkeitssucht

Wir wissen: Stress schwächt den Körper und steckt als Ursache hinter den meisten Erkrankungen und Todesfällen. Er behindert die Kreativität und hemmt die Potenziale. Er reduziert die kommunikativen Fähigkeiten und fördert sozialschädliches Verhalten. 

Dennoch unterliegen wir dem Rausch der Beschleunigung. Wir brauchen nur an die Anfänge der Personal Computer denken und an die Zeit, die sie für ihr Hochfahren und ihre Operationen benötigten. Wir brauchen nur an die Anfänge des Internets denken, wie langsam damals die einfachsten Seiten geladen wurden. Heute würden wir ausflippen, wenn wir mit dieser „Langsamkeit“ konfrontiert würden. Wenn wir noch weiter zurückgehen, kommen wir in eine Zeit, in der die ersten Autos mit 20 km/h unterwegs waren, während wir es heute als Zumutung empfinden, auf einer Autobahn nicht mehr als das Fünffache fahren zu dürfen. Noch weiter zurück konnten es sich einige leisten, mit Pferden die damals mögliche Höchstgeschwindigkeit zu erreichen; die meisten Menschen haben sich zu Fuß weiterbewegt und hatten einen Lebensradius von 20 oder 30 Kilometern im Umkreis, alles darüber hinaus war die unbekannte Fremde. 

Langsamkeit als Stressfaktor

Ein Kennzeichen der Moderne ist es, dass die Langsamkeit zum Stressfaktor wird. Der Mensch der Moderne ist getrieben, so, als stünde er im Bann eines permanenten Schneller-Sein-Müssens, wie z.B. Menschen auf dem Gehsteig, die dahinschlendern, während wir es eilig haben oder meinen, es eilig zu haben. Wir erleben sie als Hindernisse für unser Weiterkommen. Die Beschleunigung hat einen Sperrklinkeneffekt – es bewegt sich nur in eine Richtung weiter: Mehr und mehr Geschwindigkeit. Eine Rückwärtsbewegung würden wir nicht aushalten, weil sie uns sofort Angst bereitet. Sobald wir uns an eine bestimmte Geschwindigkeit gewöhnt haben, gibt es scheinbar kein Langsamer mehr. Oder wir vermeiden es um jeden Preis, die Geschwindigkeit zu drosseln, weil uns ein innerer Druck antreibt. Denn wir meinen, etwas zu versäumen oder irgendwohin zu spät zu kommen, wenn wir langsamer werden. Wir befürchten, dass das Leben an uns vorbeifließt und wir abgekoppelt von allem anderen an irgendeinem Rand übrigbleiben. Wir haben uns daran gewöhnt, dass unser Erleben mit dauernd wechselnden Reizen überfüllt wird, und sind irritiert, wenn die Flut weniger wird, wenn sich also dieser Strom verlangsamt oder verdünnt. Es entsteht ein Mangelgefühl, und daraus folgt ein Suchprozess nach neuen Reizen, um das empfundene Defizit wieder aufzufüllen. Dieser Vorgang ist von jeder Sucht bekannt: Fehlt der Gegenstand der Sucht, so fokussiert sich die gesamte Aufmerksamkeit darauf, ihn zu finden und damit die unangenehme Erregung, die mit dem Mangel verbunden ist, zu beruhigen. Sucht ist immer eine Bewältigung von Stress, die allerdings nur kurzfristig wirkt und anschließend das Stressniveau erhöht. Der Suchtkreislauf entsteht, der durch zunehmende Beschleunigung gekennzeichnet ist: Immer mehr, immer schneller.  

Jeder der vielen Reize, die auf uns einströmen, hat das Potenzial, Stress auszulösen, je nach der Bewertung, die das Nervensystem erstellt. Der Reizhunger ist ein zugleich ein Stresshunger, denn die chronische Stressbelastung führt dazu, dass bestimmte Nervenzellen im Gehirn die Stresshormone wie eine Nahrung einfordern. Damit wird die allgemeine Beschleunigung der Gesellschaft in den Individuen als Stress- und Geschwindigkeitssucht implantiert.  

Zeit ist Geld

Ein Merkmal der kapitalistischen Wirtschafsweise besteht darin, dass die Zeit mit Geld gleichgesetzt wird. Wer schneller ist, kriegt zuerst das Geschäft und verdient mehr Geld. Wer mehr Geld hat, kann mehr investieren und verdient dadurch noch mehr Geld. Die Warenproduktion wird angekurbelt, und die Individuen werden zu Konsumenten und sollen mehr und schneller konsumieren. Deshalb ist der Hunger nach Beschleunigung in den Menschen ein zentrales Interesse der Wirtschaft und zugleich das, was sie dauernd hervorrufen. 

Der Geschwindigkeitsrausch

Eine Errungenschaft der Moderne besteht darin, die Grenzen der menschlichen Macht über Raum und Zeit auszudehnen: Mit Hilfe von Maschinen gelingt es, die Grenzen des menschlichen Körpers zu überwinden, die Natur und die Schwerkraft zu bezwingen und damit ein Herrschafts- und Machtgefühl genießen. Fast jeder Bewohner eines weiter entwickelten Landes hat die Möglichkeit, sich in eine Maschine zu setzen, auf ein Pedal zu treten und sich mit einer Geschwindigkeit zu bewegen, die sonst kein Lebewesen auf diesem Planeten schafft. Das Auto ist für die meisten nicht einfach nur ein Mittel, um von A nach B zu kommen oder schwere Sachen zu transportieren, sondern wird in der Fantasie der von Geschwindigkeitssucht Betroffenen ein Kultobjekt mit magischer Bedeutung. Es verspricht die Macht über Raum und Zeit, jenseits der Grenzen, die die Natur gesetzt hat. Es symbolisiert den Sieg der Menschen über die Natur, an der jeder Autonutzer teilhaben kann.  

Die Beschleunigung wirkt wie ein Wettlauf auf den Tod hin. Sie ist angetrieben von der permanenten Vorwegnahme des Todes, indem in die verbleibende Zeit hineingestopft werden muss, was nur irgendwie Platz hat. Je mehr Termine und Erledigungen bewältigt werden können, desto weiter scheint sich das drohende Ende zu entfernen. Aber unausweichlich ist das Ende, bei dem alles immer langsamer werden wird, bis es schließlich zum Stillstand kommt. 

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Freitag, 3. März 2023

Ungeduld beim inneren Wachsen

Für immer mehr Menschen wird das innere Wachsen ein wichtiges Thema. Sie merken, dass sie ihre Potenziale nur mangelhaft ausnutzen können, sich innerlich leer fühlen oder eine Sehnsucht verspüren, über die bisherige Erfahrungsform hinauszustreben. Es geht nicht nur darum, im Äußeren erfolgreich zu sein und dort Abenteuer zu erleben, materiellen Wohlstand anzuhäufen und Unterhaltung zu genießen; es gibt auch die innere Dimension, in der vieles gefunden werden kann, was die Außenwelt nie bieten kann. Und es zeigt sich dann immer mehr, dass die Freilegung der Potenziale des Inneren den Umgang mit den Herausforderungen des Äußeren erleichtert. 

Wenn wir an unserem inneren Wachsen arbeiten, durch Therapie oder Meditation, durch Selbstreflexion und achtsame Bewusstheit, erleben wir oft unerwartete und überraschende Verbesserungen und Fortschritte. Manchmal erscheinen sie wie richtige Durchbrüche auf eine neue Ebene des Bewusstseins. Wir sehen die Welt mit neuen Augen, erfreuen uns an der Schönheit der Natur und erkennen das Strahlen in jedem Menschen. Wir fühlen uns am Gipfel angekommen. 

Rückfälle oder Umwege 

Dann passiert es aber immer wieder auch, dass wir auf alte, schon längst überwundene Muster zurückfallen. Wir versinken in Filmserien, die uns nicht wirklich interessieren, spielen Computerspiele, die uns abstumpfen, finden alle möglichen Ausflüchte, wenn wir etwas für unsere Fitness machen sollten, rasten wegen Kleinigkeiten aus und fühlen uns andauernd angespannt oder verstimmt. Wir sind wieder im alten Fahrwasser, als hätte sich nie etwas geändert. Schon sind die Selbstvorwürfe aktiv, mit denen wir unsere Stimmung noch mehr vermiesen. Wir denken uns, die ganzen Bemühungen haben alle nichts gebracht, all das Geld, das wir für Sitzungen und Selbsterfahrungsgruppen, für Meditationsretreats und Indienreisen ausgegeben haben, war für die Katz‘. All die Zeit, die wir für tägliches Meditieren, Yogamachen, Achtsamkeitsgehen und QiGong-Übungen aufgewendet haben, war vergeudete Liebesmüh‘. Es kommt uns vor, als ob wir im gleichen bekannten Sumpf stecken, in dem wir uns schon vor Jahren missmutig gesuhlt haben.  

In solchen Situationen haben wir vergessen, dass das innere Wachsen kein linearer Prozess ist. Wir haben vergessen, wie trickreich unser Ego ist, weil wir dachten, wir hätten es schon längst durchschaut und überwunden. Aber es wartet immer wieder hinter einer Ecke und ist dann plötzlich wie selbstverständlich wieder da, meistens gerade dann, wenn uns das Leben neue Herausforderungen präsentiert. Dadurch geraten wir in Stress und fallen aus der inneren Balance. Und schon ist das Ego zur Stelle und macht sich wichtig. Schließlich war es jahrzehntelang der Krisenmanager. Es reproduziert alten Stress und verbindet ihn mit der neuen Situation, es mobilisiert alte Bewältigungsmechanismus, die aus unserem Überlebensmodus stammen.  Schnell kommt es wieder in seine ursprüngliche Macht. Es lässt uns ungeduldig werden und aktiviert unsere Selbstzweifel: Was hat das alles gebracht, was wir zu unserer Selbstverbesserung und zur spirituellen Öffnung unternommen haben, wo wir doch schon wieder in einem alten Loch stecken? 

Das Ego weiß um seinen natürlichen Feind, das innere Wachsen. Deshalb macht es alles schlecht, was ihm gefährlich werden könnte.  Es versetzt uns in Unruhe und Unzufriedenheit und will uns weismachen, dass wir, wenn unsere Bemühungen sinnvoll gewesen wären, wir schon längst dauerhaft in Shangri-La wohnhaft sein müssten. Da das noch immer nicht der Fall ist, kann es sich stolz als Retter in der Not auf die Brust klopfen und den weiteren Fortschritt auf zweierlei Weise behindern: Entweder indem es den Narzissmus der spirituellen Sucherin nährt und suggeriert, welch außergewöhnliche und ausgewählte Person sie ist oder indem es der Ungeduld Raum gibt, die immer nachfragt, wie lange es noch dauert, bis endlich das Ziel erreicht ist. 

Immer also, wenn sich die Ungeduld in unsere Innenarbeit einmischt, sollten wir wissen, dass es das Ego ist, das uns den Genuss der Früchte unseres spirituellen Strebens verderben möchte. Die Ungeduld führt uns weg aus dem gegenwärtigen Moment und verbindet uns mit einer illusionären und fantasierten Zukunft. Sie macht uns schmerzlich bewusst, dass wir noch immer nicht dort sind, wo wir meinen, dass wir eigentlich schon längst sein sollten.  

Das Handtuch werfen 

Manche geben die Reise nach innen auf, wenn sie merken, dass sie schon wieder einem Rückfall im Wachstumsprozess unterlegen sind. Sie kehren zum „normalen“ Leben zurück, tauchen in die „sublime Mittelmäßigkeit“ frei nach Hanzi Freinacht ein und genießen die kleinen oder größeren Vorzüge des Alltags. Sie gewöhnen sich an das Auf und Ab der Stimmungen und richten es sich in den altbekannten Gewohnheiten wohnlich ein. Mit ein wenig Wehmut und viel Sarkasmus blicken sie vielleicht zurück auf die Zeiten der “Nabelbeschau” zurück und pflegen ein Stück heimliche Bewunderung und Verachtung für jene, die sich weiter auf diesem Weg abmühen. 

Widerstände werden zu Ressourcen 

Andere nehmen den verlorengegangenen Faden wieder auf und wandern ihm entlang weiter. Sie erkennen, dass Rückschritte zum Weg gehören, weil sie auf tiefere Widerstände aufmerksam machen. Sie erfahren, dass die Hemmungen beim Weitergehen ganz wichtige Lernerfahrungen beinhalten, wenn sie bewusst erforscht werden. Sie nehmen sich dieser Kräfte an, die gesehen, gespürt und überwunden werden können, bis sie sich in Ressourcen verwandeln und dem Wachsen dienen. 

Bald werden sie bei diesen Erkundungen merken, dass sie auf einem Fundament aufbauen, das sich durch die früheren Erfahrungen gebildet hat. Nichts, was je erworben wurde, ist umsonst geschehen. Jedes Lernen und Wachsen hat eine Spur hinterlassen und Neues erschlossen.  

Sie kommen leichter in die innere Stille als in ihren Anfängen, sie merken, dass ihnen die Disziplin im Üben und Reflektieren leichter fällt als früher und dass sie schneller zur Gelassenheit zurückfinden, wenn sie sich mal aufregen. Sie erkennen, dass kein Schritt, der sie jemals näher zu sich selber geführt hat, umsonst war, sondern dass all diese Erfahrungen ihren Sinn haben und zum Weitergehen beitragen.  

Das Rätsel der Ungeduld lichtet sich, indem es als ein Trick des Egos verstanden wird. Ein spiritueller Weg ist nie geradlinig und eben, er kennt viel rauf und runter, unerwartete und unübersichtliche Kurven tauchen auf, und manchmal stecken wir in einem Labyrinth fest und suchen verzweifelt den Ausweg. Hindernisse aller Art stellen sich entgegen, und eine davon ist die Ungeduld. Je mehr wir diese Hindernisse verstehen, desto besser können wir mit ihnen umgehen. Was uns zuerst als lästiger Gegner erscheint, wird dann zum vertrauten Bekannten, der uns ein Stück begleitet. Die Ungeduld, die wir zur Freundin gewinnen, verwandelt sich bald in eine entspannte Genießerin des Augenblicks.  

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Mittwoch, 1. März 2023

Alles zu seiner Zeit: Über die Ungeduld in der Therapie

Immer wieder hören wir von Klienten, dass sie sich schnellere Veränderungen bei ihren problematischen Verhaltensmustern und Gefühlsabläufen wünschen. Sie wären gerne nach ein paar Stunden frei von allen Zwängen und Störungen und beklagen die Langsamkeit der inneren Entwicklung. Wir kriegen dadurch manchmal als Therapeuten den Eindruck, dass sie mit uns und dem, was wir ihnen anbieten, unzufrieden sind und machen uns selbst dann einen Druck, um schneller bessere Resultate zu erzielen. 

Es ist verständlich, dass Menschen ihre Leidenszustände so schnell wie möglich loswerden wollen. Jede Form von Leiden belastet und macht unglücklich und erzeugt verständlicherweise die Ungeduld, das Schwierige und Bedrückende möglichst schnell wieder loszuwerden. Deshalb besteht die Erwartung an die Therapeuten oder andere, die Linderung und Heilung anbieten, zügig und sicher Abhilfe zu verschaffen. 

Seelenreparatur?

Oft steckt eine Einstellung dahinter, die die eigene Seele wie ein defekt gewordenes Gerät sieht, das man in eine Werkstatt bringt, wo es vom Experten repariert wird. Diese Einstellung, die die eigene Seele zum leblosen Objekt macht, ist selber Teil des Problems. Denn es zeigt, wie weit sich jemand von sich selbst und seinem Inneren entfernt hat. Es ist aber nicht weiter verwunderlich, dass sich solche Meinungen bilden, weil sie sehr weit verbreitet sind. Wer ein Problem hat, sucht sich einen Fachmann oder eine Fachfrau, und diese haben dann die Verantwortung, dass das Problem gelöst wird. 

Zurück zur Lebendigkeit

Die Aufgabe der Therapie liegt vor allem darin, die Natur der eigenen Seele kennenzulernen. Sie ist eben kein Ding, sondern etwas sehr Lebendiges. Sie hat ihre eigene Zeitstruktur, die sich von dem unterscheidet, was unser flottes oder hektisches Denken vorgeben möchte. Die seelischen Abläufe sind viel langsamer als die in unserem Kopf. Das ist der erste Grund, warum die Heilung auf der seelischen Ebene Zeit braucht, nämlich genau die Zeit, die es braucht, und nicht die, die unser ungeduldiges Denken einfordert. Der zweite Grund ist ebenso offensichtlich: Was sich über Jahre und Jahrzehnte in unsere Seele eingegraben hat, kann nicht von heute auf morgen einfach verschwinden. Unsere Seele muss umlernen, neue Sichtweisen erwerben, alte Gewohnheiten aufgeben usw. Und jedes neue Lernen erfordert Zeit; wir haben auch nicht sofort Rad fahren oder schwimmen können, sondern haben Zeit gebraucht, bis wir diese Tätigkeiten ohne nachzudenken ausführen konnten. Reaktionsmuster, die wir im Lauf unserer Kindheit erworben haben, haben sich fest in den Netzwerken unseres Gehirns etabliert, weil sie oft und oft in unserem Leben wiederholt und dadurch gefestigt wurden. Aus jeder Verletzung und Traumatisierung sind solche Bahnungen in unserem Gehirn entstanden, die eine so große Bedeutung erlangt haben, weil sie in extrem bedrohlichen Situationen gebildet wurden. 

Veränderung und Widerstand

Daraus folgt der dritte Grund: Es gibt gegen jede Änderung Widerstände. Schließlich hat alles, woran man sich gewohnt hat, so lästig und störend es sein mag, auch seine Vorteile. Die Themen, mit denen wir in der Therapie arbeiten, sind Überlebensstrategien, die wir in der Kindheit erworben haben, um unter emotional fragilen Umständen über die Runden zu kommen. Sie haben also einmal unser Überleben gesichert. Das weiß unser Unterbewusstsein und will sie deshalb nicht so mir nichts dir nichts hergeben. Unsere Seele verfügt über ausgesprochen konservative Seiten. Je mehr Ungemach in unserem Leben passiert ist, desto stärker sind diese Seiten ausgeprägt. Sie wollen das, was einmal funktioniert hat, nicht aufgeben und glauben, dass es auch für alle zukünftigen Herausforderungen geeignet ist. Jeder Widerstand gegen Veränderung bremst das Tempo der Heilung. Wie wir wissen, können Widerstände nicht einfach ignoriert oder durchbrochen werden. Vielmehr müssen sie beachtet und für ihren langjährigen Dienst anerkannt werden. Dann jedoch gilt es, sie zu überwinden und ihnen keine Bedeutung mehr zuzumessen. Erst dann ist es möglich, die Gefühle, die mit den ursprünglichen Prägesituationen verbunden sind, zuzulassen, durchzufühlen und auszudrücken. Dafür braucht die Seele viel Zeit, Qualitätszeit, die mit Bewusstheit und Achtsamkeit begleitet wird und die am besten mit jemandem verbracht wird, der eine bedingungslose Zuwendung und Präsenz anbieten kann und der auch die notwendige Geduld aufbringt. 

Der Bann der Schnelligkeit

Ein weiterer Aspekt, der bei der Ungeduld der Menschen in Bezug auf ihre therapeutischen Fortschritte mitspielt, ist die in unserer Gesellschaft wirksame Beschleunigung: Alles soll immer schneller und schneller gehen. Im Maß dieser Beschleunigung wächst unsere Ungeduld. Wir gehen nicht mehr ins Geschäft nebenan zum Einkaufen, weil das viel mehr Zeit braucht, als wenn wir mit ein paar Klicks online bestellen, und rechnen auch dann mit einer Lieferung innerhalb kürzester Frist. Wenn es mal länger dauert, wechseln wir gleich den Anbieter. Wie an anderem Ort ausgeführt, gelingt es in Österreich nicht, Tempo 100 auf Autobahnen einzuführen, weil die Entschleunigung so viele irrationale Ängste hervorruft. Das Immer-Schneller-Werden-Müssen hat etwas Zwanghaftes und Suchterzeugendes. Wir reden ja auch vom Rausch der Geschwindigkeit, ohne dabei zu erkennen, wie das Schnelle immer mehr das Langsame verdrängt, in unser aller Leben. 

Wir leben eben in einer Zeit, die von Ungeduld geprägt und durchdrungen ist. Zeit ist Geld, je schneller etwas geht, desto mehr Geld kann damit gemacht werden. Es ist eine ökonomische und maschinelle Zeit, die uns bis in unser Unterbewusstsein hinein beeinflusst und die der Seelenzeit entgegengesetzt ist. Es ist eine Zeit, die von vorgegebenen und anonymen Anforderungen bestimmt ist, und nichts mit der Natur und ihren Rhythmen, in die auch unsere Seelen eingebunden sind, zu tun hat. 

Entschleunigung

Diese Seele in ihrer Natürlichkeit wiederzufinden, ist das Ziel des therapeutischen Bestrebens. Als Therapeuten sind wir gefordert, diese Zielrichtung immer im Blick zu behalten. Selber können wir, so gut wir es vermögen, unsere eigene Seele in ihrer Zeitform einbringen und der Klientin dabei helfen, aus der Beschleunigung der Welt auszusteigen und sukzessive langsamer und damit bedächtiger zu werden. Achtsamkeit ist untrennbar mit Entschleunigung verbunden.  

Erwartungen der Therapeuten

Doch auch als Therapeuten sind wir nicht frei vom Bann des Beschleunigungs- und Geschwindigkeitswahns. Auch wir kennen die Ungeduld mit Klienten und ihren Widerständen. Wir vermeinen ja schon zu wissen, wohin sie kommen sollten und was es dafür braucht, dass sie dort hinkommen. Wir sehen sie in unserem geistigen Auge vor uns, ruhig und gelassen, reflektiert und einsichtig, ohne Jammern und Selbstanklagen, befreit von düsteren Stimmungen und Beziehungsproblemen. Und doch kommen sie jede Woche mit gleichen oder ähnlichen Klagen, mit gleichen oder ähnlichen Gemütszuständen. Wir merken zwar gewisse Fortschritte, aber sie gehen für unser Empfinden viel zu langsam vonstatten. Vielleicht zweifeln wir dabei an unseren eigenen Künsten, vielleicht spielt auch eine unterschwellige Abwertung der Klienten mit. 

Solche oder ähnliche Gedanken sind menschlich, allzu-menschlich. Sie spiegeln die mächtige Wirkung des sozialen Umfelds wider, der sich auch reflektierte und selbsterfahrene Menschen nicht vollständig entziehen können. Diese Gedanken und die damit verbundenen Gefühle gehören aber nicht zur professionellen Haltung, die wir für diesen Beruf brauchen. Deshalb ist es wichtig für das therapeutische Arbeiten, sich die Ängste bewusst zu machen, die hinter dem Impuls zum Antreiben der Heilarbeit stecken. Dann können wir solche regressiven Anteile durch die Haltung des Vertrauens ersetzen. Diese besagt, dass es nicht an unseren Egos liegt, den Verlauf und die Dauer des Heilungsprozesses zu bestimmen, sondern an dem, was da heilen soll, also an der Seele. Wir vertrauen ihr den Prozess der Gesundung an und nehmen unsere engen und selbstbezogenen Vorstellungen, die von unbewussten Ängsten und Schamgefühlen gelenkt werden, zurück. 

Wenn uns also als Therapeuten solche Gedanken und Gefühle bewusst werden, liegt es an uns, die Gelegenheit beim Schopf packen, und dann besinnen wir uns auf unsere Seele, auf ihr unendliches Potenzial und ihre unerschöpfliche Tiefe und auf ihre ganz eigene Entwicklungsgeschwindigkeit. Damit können wir der Klientin das Vertrauen zu ihrer eigenen Seele weitergeben und ihr damit zur Geduld mit sich selbst verhelfen. Das ist der Nährboden für seelisches Wachstum und für nachhaltige Heilungsprozesse: Alles zu seiner Zeit. 

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Geduld ist die Tugend der Glücklichen
Geduld: Sich dem Leben anvertrauen

Samstag, 25. Februar 2023

Geduld ist die Tugend der Glücklichen

Wenn wir ungeduldig sind, sind wir nicht einverstanden, wie die Zeitstruktur der Wirklichkeit gerade beschaffen ist. Wir hätten gerne, dass irgendetwas schneller abläuft, als es gerade abläuft. Der Zug, auf den wir warten, soll schneller da sein, die Person, mit der wir weggehen wollen, soll schneller fertig werden, der Stau, in dem wir stecken, soll sich schneller auflösen usw. Wir geraten in Stress und machen die Umwelt dafür verantwortlich. Da sie sich nicht unseren Erwartungen gemäß verhält, erzeugt sie einen Druck in uns, der uns unangenehm ist und den wir so schnell wie möglich wieder loswerden möchten. Wir geraten in eine Opferrolle der äußeren Wirklichkeit gegenüber, denn sie alleine kann und muss dafür sorgen, dass es uns wieder besser geht und wir aus dem Stress herausfinden. 

Soziale Ängste 

Hinter der Ungeduld steckt die Angst, etwas zu versäumen, etwas nicht zu schaffen, etwas zu verlieren usw. Die Angst entsteht, weil unsere Erwartung zerstört wird, also die Fantasie, die wir über die Zukunft entwickelt haben, z.B. die Vorstellung, pünktlich zu dem Geburtstagsfest einzutreffen. Wir geraten in Stress, weil die ausbleibende Straßenbahn oder der Stau auf der Zufahrtsstraße unsere Pläne durchkreuzt und bewirkt, dass wir unpünktlich sein werden. Wir sind gerne zuverlässig und befürchten, dass wir wegen dem Zuspätkommen unsere Gastgeber enttäuschen und sie uns dann für unzuverlässig halten. Im Grund plagt uns die Angst, weniger gemocht zu werden und in der Achtung unserer Mitmenschen zu sinken, die den Stress auslöst.

Ungeduld und Wut

Hinter der Ungeduld steckt auch eine Aggression. Sie ist der Gegenpart zur Ohnmacht, die mit Situationen verbunden ist, über die wir keine Kontrolle haben, die wir also nicht in unserem Sinn gestalten können. Wir sind der Langsamkeit anderer Menschen oder der Säumigkeit von anderen Abläufen ausgeliefert. Der Zorn gibt uns das Gefühl, Einfluss ausüben zu können und zu müssen. Wir erlangen also ein Stück der Kontrolle zurück. Selbst wenn wir nur schimpfen und hadern, bekommen wir den Eindruck, dass wir etwas Macht ausüben können. Wir fühlen uns handlungsfähig. Wir stellen der widrigen Wirklichkeit eine Energie von uns gegenüber und fordern sie heraus. Wir wollen sie mit unserer Kraft zwingen, dass sie sich unseren Vorstellungen gemäß verhält. Wir beschweren uns über das, was uns da zugemutet und auferlegt wird und wir klagen an, dass uns ein Stress bereitet wird. Die Wut suggeriert uns, dass wir der Opferrolle nicht ausgeliefert sind, sondern dass wir uns wehren können. 

Allerdings wird es in den meisten Fällen so sein, dass unsere Wut nichts ausrichtet. Der Zug kommt nicht schneller, auch wenn wir uns noch so ärgern. Der Stau reagiert nicht auf unseren Gemütszustand. Und der Mitmensch, dem wir unseren Zorn über seine Saumseligkeit entgegenschleudern, wird möglicherweise selbst zornig reagieren und damit auch nicht schneller unsere Erwartungen erfüllen. Mit der Wut können wir zwar ein wenig von unserem Stress loswerden, steigern aber unter Umständen den Stress in unserer Umgebung.

Ungeduld und Scham

Hinter der Ungeduld stecken auch Schamgefühle. Denn die Ungeduld nährt sich aus Erwartungen und sozialen Zusammenhängen. In den meisten Fällen geht es darum, dass wir fürchten, die Erwartungen anderer Menschen zu enttäuschen, was uns Schamgefühle beschert. Manchmal geht es auch um Erwartungen, die wir an uns selber haben, wenn wir z.B. ungeduldig sind, weil wir eine Arbeit nicht in der Zeit schaffen, die wir dafür vorgesehen haben. In diesen Situationen schämen wir uns vor uns selbst und werten uns ab, weil wir nicht unserem Ideal entsprechen. 

Das Üben der Geduld

Zunächst sollten wir einsehen, dass jeder Stress in uns selber entsteht. Wir verfügen nicht über einen Knopf, auf den andere Menschen oder Reize aus der Umwelt drücken, und dann spüren wir uns gestresst. Wir deuten bestimmte Ereignisse in unserer Umgebung so, dass sie uns bedrohen, und das löst dann die Stressreaktion aus. Meist erfolgt diese Interpretation unbewusst, aber sie erfolgt in uns. Wir sind es also, die den Stress produzieren, und wir sind dafür verantwortlich. Wir haben also auch die Verantwortung, den Stress wieder zu beruhigen, z.B. indem wir unsere Ausatmung entspannen und langsamer atmen. Wir können die unangenehme Wartezeit in eine Meditationszeit umwandeln. Wir können uns mit etwas beschäftigen, das uns entspannt und interessiert. Wir haben viele Möglichkeiten, um vom Stress herunterzukommen, die wir erst ergreifen können, sobald wir erkennen, dass unser Stress hausgemacht ist. 

Dann geht es auch darum, zu erkennen, dass wir uns in der Ungeduld und dem Ärger, der in ihr steckt, mit der Wirklichkeit zerstreiten. Wir stellen uns über sie drüber und wollen sie beherrschen. Doch ist das ein sinnloser Anspruch. Bekanntlich wachsen die Grashalme nicht schneller, wenn wir sie antreiben. Die Wirklichkeit ist immer mächtiger als wir selbst. Alles, was sie von uns einfordert, ist Akzeptanz: Das Annehmen dessen, was jetzt gerade ist. Das, was wir wollen, kommt immer erst hinter dem, was ist. Beim Streit mit der Wirklichkeit unterliegen wir immer. Sobald wir aber akzeptieren, was ist, öffnen sich unsere Handlungsräume. Wir gewinnen einen Überblick über die Möglichkeiten, die wir haben, z.B. eine andere Route zu wählen, die entstandene Wartezeit mit anderen Inhalten zu füllen usw. Auf diese Weise versöhnen wir uns mit der Wirklichkeit, und der Stress löst sich. Wir können das genießen, was gerade ist. In diesem Sinn meint Spinoza: „Geduld ist die Tugend der Glücklichen.“

Das Leben bereitet uns immer wieder Überraschungen, und zu den unangenehmen Überraschungen zählt alles, was uns ungeduldig macht. Wir fallen aus dem Fluss des Lebens heraus und auf uns selber und unser starrsinniges Ego zurück. Es will uns einreden, gegen das Leben zu kämpfen, um unsere Interessen und Vorstellungen durchzubringen. Doch ist dieser Kampf aussichtslos. Wir werden ihn nie gewinnen, sondern nur noch mehr Stress aufbauen.

Die Geduld zu erwerben und zu vergrößern, ist ein Prozess in der Vertiefung unserer Bewusstheit. Jede Regung der Ungeduld in uns ist eine Chance, mehr in die Akzeptanz der Wirklichkeit zu gehen und unser Ego zurückzustufen. Mehr Geduld bedeutet mehr Lebensqualität. Rainer Maria Rilke schreibt: „Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles!“

Zum Weiterlesen:
Geduld: Sich dem Leben anvertrauen
Der notorische Selbstzweifel
Akzeptiere was ist - einfach ist es nicht


Donnerstag, 23. Februar 2023

Rollen von Kindern narzisstischer Eltern

Wenn Kinder narzisstische Eltern oder Eltern mit narzisstischen Anteilen haben, tun sie sich schwer, ein intaktes Selbst aufzubauen. Je nach den Prägungen und Defiziten der Eltern neigen sie dazu, bestimmte Rollen einzunehmen. Solche Rollen dienen dann als unbewusste Leitlinien für das Erwachsenenleben und für die Beziehungsgestaltung. Sie prägen auch das Schamempfinden.  

Diese Rollen sind nicht scharf voneinander abgegrenzt, sondern können auch in Kombination oder in verschiedenen Situationen abwechselnd auftreten. So können goldene Kinder zugleich Helfer sein und einen Anteil an Gehirnwäsche mitnehmen. Schwarze Schafe sind oft auch Sündenböcke. Die Wahrheitsverkünder werden meist zu schwarzen Schafen. Bei Einzelkindern kann es sein, dass sie mehrere Rollen übernehmen müssen. 

Es ist in dem Artikel immer von den narzisstischen Eltern die Rede; oft ist es so, dass nur ein Elternteil starke narzisstische Züge ausgeprägt hat. Aber es wird immer auch einen komplementären narzisstischen Teil bei dem anderen Elternteil geben, sonst würde die Beziehung zwischen den Eltern nicht von Dauer sein. 

Im Folgenden werden einige der Rollen, die Kinder in einer Familie mit narzisstischen Eltern einnehmen, näher erläutert. Die Bezeichnungen habe ich aus dem Buch von Turid Müller übernommen: Verdeckter Narzissmus in Beziehungen. (Kailash-Verlag 2022) 

Das goldene Kind

Es wird von den Eltern idealisiert, die es unbewusst als Erweiterung ihres Selbst ansehen und es dazu nutzen, die inneren Defizite aufzufüllen. Solchen Kindern wird missbräuchlich die Erwartung in die Wiege gelegt, die Träume und Sehnsüchte der Eltern zu verwirklichen. Sie haben dann große Probleme, eigene Wünsche und Ziele zu entwickeln und umzusetzen. Alle Errungenschaften und Erfolge des Kindes vereinnahmen die Eltern für sich und erzählen dann: „Wir haben ein ausgezeichnetes Schulzeugnis bekommen!“ „Wir haben den Schönheitswettbewerb gewonnen.”   

Vergoldete Kinder brauchen andere Personen in ihrer Umgebung, um nicht selber zu Narzissten heranzuwachsen, da sie den Narzissmus ihrer Eltern widerspiegeln. Entweder schaffen sie es mit ihrer hohen Anspruchshaltung, erfolgreich zu werden und sich ein Leben voll von Statussymbolen aufzubauen, um von allen bewundert zu werden. Dabei sind Züge des grandiosen Narzissmus unvermeidlich. Oder sie geraten in die Schiene des Versagens, in die depressiv-narzisstische Variante. Sie erwarten, dass ihnen das Leben alles in den Schoß wirft, was sie sich wünschen, ohne sich anstrengen zu müssen. Geschieht das nicht, sind die äußeren Faktoren dafür verantwortlich. Es kann sein, dass sie oft bis weit ins Erwachsenenleben im Haushalt der Eltern verbleiben und an ihrer Erfolglosigkeit und Unselbständigkeit leiden, für die sie die Schuld bei anderen suchen, ohne die Bereitschaft zu entwickeln, sich mit eigener Verantwortung aus der Misere zu befreien. 

Goldene Kinder wissen nur Gutes über ihre Eltern und ihre Kindheit zu erzählen, die in ein verklärtes Licht getaucht wird. Makellos wie die Kindheit gewesen sein soll, so makellos wollen sie als Erwachsene erscheinen. 

Goldene Kinder entwickeln unbewusste Schuldgefühle gegenüber ihren Geschwistern, die benachteiligt worden sind und deshalb Eifersuchtsgefühle entwickelt haben, oder sie kompensieren das schlechte Gewissen damit, ihre Geschwister abzuwerten und zu missachten. Narzisstische Eltern haben oft die starke Neigung, Keile zwischen die Kinder zu treiben, indem die einen bevorzugt und die anderen benachteiligt werden, die einen zu Verbündeten und die anderen zu Sündenböcken oder Außenseitern erklärt werden.  

Für goldene Kinder ist es wichtig, von früh an zu lernen, die eigenen Schamgefühle zu verdrängen oder zu instrumentalisieren. An deren Stelle entstehen starke Neigungen zur Unverschämtheit und Arroganz (bei der grandiosen Variante) oder die Schamgefühle äußern sich in Anklagen gegen die Ungerechtigkeiten und im Vertiefen der Opferrolle, womit die Neigungen zu Selbstzweifeln und Selbstanklagen kaschiert werden. (bei der verdeckten Variante). 

Das gehirngewaschene Kind  

Auch das Schlimme, was ihnen widerfährt, interpretieren sie als Ausdruck elterlicher Liebe, oft initiiert von Eltern, die dem Kind suggerieren, es geschehe alles zu seinem Besten. Selbst missbrauchende Eltern werden idealisiert, es wird die gute Miene zum bösen Spiel von früh an erlernt. Oft sagen die Erwachsenen dann über ihre Kindheit: „Meine Eltern waren wunderbare Eltern, auch wenn sie nicht immer alles richtig gemacht haben. Aber sie hatten es selbst nicht leicht in ihrer Kindheit.“ 

Verdrängung ist einfacher als das Aufrechterhalten des Schmerzes, der Scham und der Sehnsucht nach der Heilung. Allerdings zehrt sie an der Substanz und verhindert den Aufbau eines stabilen Selbstwertes und einer klaren Ich-Identität. Sie verengt zusätzlich den Blick auf die Realität und führt häufig dazu, dass später Partnerschaften mit narzisstischen Menschen eingegangen werden, die die Eltern widerspiegeln.  

Die moralische Reinwaschung der Eltern dient der Unterdrückung der Schamgefühle in mehrfacher Hinsicht: Verdrängt werden muss die Scham über das eigene Schicksal sowie die Scham über die Eltern und deren Unfähigkeit zu lieben, und dazu noch die Scham, die mit jeder Form der Verletzung und des Missbrauchs verbunden ist. Gehirngewaschene Kinder bleiben oft ihr Leben lang mit der Herkunftsfamilie als Schicksalsgemeinschaft verstrickt, mit der heimlichen Hoffnung, dass sie dort endlich einmal die Harmonie schaffen können, die sie immer schon gebraucht hätten und die sie in ihrer Fantasie und ihren Träumen schon längst vorweggenommen haben. 

Im Erwachsenenleben suchen die von dieser Prägung betroffenen Menschen häufig Berufe, in denen sie wenig Verantwortung tragen müssen. Da sie in ihrer Wirklichkeitswahrnehmung verunsichert sind, ziehen sie es vor, klare Vorgaben zu bekommen, nach denen sie sich orientieren können. 

Der Sündenbock

Diese Kinder sind oft betroffen von einer Urscham. Ungewollt oder ganz früh schon abgelehnt, bleiben sie auch nach der Geburt die Projektionsfläche für alles Negative, das die Eltern belastet, und werden beschuldigt, das Unglück der Erwachsenen verursacht zu haben. Sie werden mit den Sünden der Eltern beladen, wie im alten Israel der Bock, dem die Verfehlungen der Gemeinde auf den Rücken geladen wurden und der dann in die Wüste gejagt wurde. Das Kind wird permanent mit der Scham der Eltern beladen und zieht daraus den Schluss, sich für seine Existenz zu schämen. Wenn es nicht da wäre, wäre alles besser. Diese Prägung kann später zum Suizid führen, zu suizidalen Tendenzen oder zu selbstgefährdendem Verhalten. Oft entsteht auch ein starker Impuls, der dann zum zentralen Lebensthema wird, eine Gegenleistung zu erbringen für das, was die eigene Existenz den verblendeten Eltern an Schaden und Leid verursacht hat und endlich Anerkennung zu bekommen.  

Es kann aber auch sein, dass der Sündenbock das Weite sucht und die Familie verlässt, sobald es ihm möglich ist. Denn in dem System kann er in dieser Rolle kaum überleben. Er geht dann den Weg des Rebellen, der Wege sucht, um sich in den verschiedensten Arenen des Lebens für die erlittenen Ungerechtigkeiten zu rächen. 

Das schwarze Schaf 

Es gibt in Familien immer wieder Kinder, die aus der Reihe fallen. Entweder sind sie durch eine Behinderung mit einem Makel behaftet oder sie erwerben Verhaltensauffälligkeiten oder chronische Krankheiten. Es sind Kinder, die es vermissen, um ihrer selbst geliebt zu werden und entwickeln alle möglichen Symptome, um auf diese Weise mehr Liebe zu bekommen. Zugleich leiden sie, weil alle Verhaltensweisen oder Charaktereigenschaften, die sie zum schwarzen Schaf machen, unweigerlich mit Scham verbunden sind. Es kommt auch vor, dass ein Kind einen Charakterzug seiner Eltern in besonderem Maß auslebt, der von ihnen verdrängt wurde, z.B. die Ängstlichkeit, die Aggressivität oder die Empfindlichkeit. Solche Eltern schämen sich dann für ihre Sprösslinge - sie projizieren also die eigene Scham auf es. Das Kind wiederum schämt sich gerade wegen dieser Eigenschaft, für die es kritisiert oder belächelt wird und die es nicht loswerden kann.  

Auch hier wirkt die Wucht einer Urscham. Außenseiter, Ablehnung, die Finger richten sich abwertend auf das Kind, das zum Sammelbecken von Projektionen wird und darunter leidet. Es entwickelt Neigungen zum Erfüllen der negativen Prophezeiungen, sodass das Unbewusste mitwirkt und Fehlleistungen oder Unfälle hervorruft, für die dann wiederum Schamgefühle entstehen. Kinder wollen auf einer Ebene immer, dass die Eltern Recht haben, auch wenn sie selber die Betroffenen sind. Sie sind von der Ausgeschlossenheitsscham betroffen und haben oft später im Leben Probleme damit, sich in eine Gemeinschaft einzufügen.  

Das Helferlein

Kinder, denen es an Liebe mangelt, die aber immer hören, wie lieb sie gehabt werden, ohne dass sie es spüren können, machen sich selbst für den Liebesmangel verantwortlich. Eine Möglichkeit, mit diesem Mangel zurechtzukommen, liegt darin, von früh an Kompetenzen zu entwickeln, mit denen sie den Eltern helfen können. Sie spüren deren Schwächen und wollen sie durch eigene Taten ausgleichen. Das kann so weit gehen, dass sie die ganze Familie managen, für die kleinen Geschwister sorgen oder die Eltern daran erinnern, wann der Müll ausgeleert oder die Stromrechnung bezahlt werden muss. Sie können aus dieser Rolle heraus in einen grandiosen Narzissmus verfallen, bis hin zur Überzeugung, die ganze Welt retten zu müssen.  

Das Helferlein will seine Daseinsberechtigung dadurch sichern, dass es sich nützlich macht und die Schwächen der Eltern ausgleicht. Da es diese Aufgabe nie zur Gänze erfüllen kann, bleibt die Scham über die eigene Unzulänglichkeit bestehen. Die Abhängigkeit von den Eltern und die Notwendigkeit, ihnen zu helfen, bleiben oft ein Leben lang bestehen. Denn die Scham treibt sie an, endlich den in sie gesetzten Erwartungen gerecht zu werden. Die Notlösung der Kindheit wird zur Lebenshaltung: Nur wenn man es schafft, genug für die Eltern zu tun, verdient man es geliebt zu werden.  Oft werden Berufe ergriffen, die mit dem Helfen zu tun haben, weil die Hoffnung besteht, auf diesem Weg endlich Liebe und Anerkennung zu bekommen. 

Die Wahrheitsverkünder

Sie erkennen früh, dass etwas im Familiengefüge nicht stimmt. Sie fallen durch viel Schreien im Babyalter, durch starken Trotz im Kleinkindalter und durch ausgedehnte Rückzüge in die Fantasiewelt in der späteren Kindheit auf. Je größer sie werden, desto deutlicher drücken sie ihr Unbehagen aus, stoßen aber auf die tauben Ohren oder die entrüstete Zurechtweisung der in sich befangenen Eltern. 

Folglich werden sie zu Außenseitern, fühlen sich oft einsam und ausgeschlossen, was wiederum zur Quelle für ihre Scham wird. Da sie sich in irgendeiner Weise anpassen müssen, um im Familiensystem überleben zu können, tun sie das, indem sie irgendeine Form der Verweigerung suchen: Sie reden wenig, werden mürrisch oder aufmüpfig und verhalten sich rebellisch.  

Sie haben eine hohe Sensibilität entwickelt, mit der sie über ein feines Gespür für Gefühle und Stimmungen verfügen. Damit haben sie ein Werkzeug, das ihnen überall dort hilft, wo es um Empathie geht. Es macht es ihnen allerdings auch schwierig macht, tragfähige Beziehungen einzugehen, weil sie jede Unstimmigkeit und jede emotionale Verwerfung sofort spüren und ansprechen müssen. Kleinigkeiten können dann den Anlass für tiefe Zerwürfnisse bilden. Sie haben gelernt, sich auf die eigene Intuition zu verlassen, doch ist diese gewissermaßen auf das eigene Familiensystem geeicht, in dem es zum Überleben gedient hat, und zielt häufig projektiv in die Irre, wenn es auf andere, familienfremde Personen angewendet wird. 

Die Wahrheitsverkünder widmen sich später oft engagiert der Wahrheitssuche und fühlen sich berufen, Therapeuten oder spirituelle Lehrer zu werden. 

Zum Weiterlesen:
Grandioser und verdeckter Narzissmus
Der elterliche Narzissmus und die Selbstfindung


Samstag, 18. Februar 2023

Grandioser und verdeckter Narzissmus

Die Alltagsdiagnose Narzissmus

Der Begriff des Narzissmus hat es in die Alltagspsychologie geschafft. Er gewinnt an Bekanntheit und wird über den Kreis der eingefleischten Psychologen und Therapeuten hinaus zu einer beliebten Fremddiagnose. Manch einer ist gerade einer narzisstischen Beziehung entronnen oder vermeldet, dass sein Vater ein Narzisst war. Dieser oder jener Schauspieler oder Entertainer ist doch ein typischer Narzisst. Und spätestens der Paradenarzisst als mächtigster Mann der Welt hat jedem psychologisch Interessierten klargemacht, was es mit dieser Störung auf sich hat und wovor wir uns dabei in Acht nehmen sollten.  

Offenbar hat dieser Begriff – über seine Wurzeln in der griechischen Mythologie hinaus – eine eindringlich beschreibende Kraft für diverse Erfahrungen der unliebsamen Art. Denn Begegnungen mit Narzissten fallen dadurch auf, dass sie einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen, von dem man nicht genau weiß, woher er eigentlich kommt. Schließlich war die Person, mit der man auf einer Party geplaudert hat, eloquent, gewinnend und interessant. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich allerdings, dass in dieser Begegnung eigentlich nur eine Person anwesend war und man selber mehr oder weniger als Staffage gedient hat. Das ist der offensichtliche und offensive Narzissmus.  

Offener und versteckter Narzissmus

Daneben gibt es auch die weniger sichtbare Form. Das Bild des selbstverliebten und selbstbezogenen Narzissten, der andere nur als Mittel zum Zweck sieht und dauernd die eigene Grandiosität vor sich herträgt, wurde inzwischen ergänzt durch eine hintergründige und unauffällige Form. Sie heißt verdeckter oder vulnerabler Narzissmus. 

Narzissten sind selbstbezogen, d.h. die Rücksichtnahme auf andere und die Empathie mit ihnen steht an zweiter Stelle oder ist überhaupt nur zugänglich, wenn sie eigenen Zwecken dienlich ist. Der Überlebensmechanismus, der sich früh in der Kindheit ausgebildet hat, besteht in der Abspaltung von negativen Seiten, die verdrängt wurden. Nach außen hin wird ein makelloses und strahlenden Bild vor sich hergetragen (grandioser Narzissmus) oder ein sozial angepasstes Image präsentiert (verdeckter Narzissmus).  

Dieser Typ wirkt nach außen nett und verbindlich, zeigt seine Schattenseiten vor allem im privaten Umgang. Da in diesen Bereichen die Angst vor dem Aufdecken der eigenen Schwächen besonders stark ausgeprägt ist, schützt er sich hier durch Abwertungen, Kritik, Zynismus und Sarkasmus. Wird er darauf angesprochen, fühlt er sich ungerecht angegriffen und setzt sich sofort beleidigt zur Wehr. Der Spieß wird schnell umgedreht, der Täter verwandelt sich flugs ins Opfer. Der verdeckte Narzisst trachtet danach, die Menschen für sich einzunehmen, damit sie ihm nicht gefährlich werden. Er tut sich leicht, Beziehungen zu knüpfen, findet aber aufgrund seiner hohen Empfindlichkeit rasch ein Haar in der Suppe, an dem er seine Kritik aufhängt. Denn er befürchtet, allzu leicht Opfer der Schwächen seiner Mitmenschen zu werden und hofft, mit vorauseilender abwertender Kritik den Schaden abzuwenden. 

Narzissten neigen zum Verwischen von Grenzen; sie dehnen ihr Selbst auf ihre Mitmenschen aus, mit der heimlichen Hoffnung, dass diese so werden wie sie selber und ihnen dann kein Ungemach mehr bereiten. Alle müssten nach der eigenen Fasson ticken, alle müssen sich der eigenen Meinung anschließen, alle müssen verstehen, dass es nur eine richtige Meinung geben kann, nämlich die eigene. Das Mitgefühl ist ihnen schwer zugänglich, weil sie aus ihrer Selbstbezogenheit nicht herausfinden. 

Bisher war die Rede von zwei Typen des Narzissmus, doch die Sachlage ist komplizierter, weil sich der offene und der verdeckte Narzissmus nicht klar abgrenzen lassen. Es kommt häufig vor, dass Narzissten mal in den einen Typ und dann wieder in den anderen wechseln. Zum Beispiel können grandiose Narzissten nach einem Misserfolg zu selbstmitleidigen vulnerablen Narzissten werden. Oder verdeckte Narzissten schwelgen in Fantasien von Grandiosität. Es gibt also Mischformen oder ein Überwiegen der einen oder der anderen Spielart.

Die Scham im Zentrum des Narzissmus

Die großspurige Variante wehrt die Scham durch Arroganz und Größenwahn ab. Hier wird so getan, als gäbe es keine Scham: die Schamlosigkeit gilt als Stärke. Bei der zurückgezogenen Variante ist die Scham hingegen das immer wieder wahrgenommene Gefühl, das immer wieder kompensiert werden muss. Narzissten jedweder Spielart sind Virtuosen beim Austricksen des Schamgefühls. Sie schaffen es, Lügengebäude aufzubauen und ihre Mitmenschen zu verwirren, nur damit ihre eigenen Schwächen, für die sie sich schämen, nicht offenbar werden. Sie nutzen z.B. die Projektion, die ihnen hilft, die Schwächen der anderen überscharf wahrzunehmen. Sie können diese dann für die eigenen Zwecke nutzen, indem sie immer einen Schritt voraus sind im Beschämen, bevor sie die eigene Scham spüren müssen. 

Empfindlichkeit und Empathiemangel

Die feine, immer nach außen gerichtete Wahrnehmung der Narzissten ist die Quelle für Sicherheit. Da sie im Inneren fehlt, muss die Umgebung beobachtet werden, und die Beobachtungsgabe, die sich durch die andauernde Wachsamkeit herausgebildet hat, verhindert einerseits das Sich-selbst-Spüren im Inneren und ermöglicht andererseits abwertende bis hinterhältige Präventivangriffe gegen die Menschen, die bedrohlich werden könnten. Sie merken dabei nicht, dass sie Täter sind, denn sie haben keine Gefühle für ihre Opfer.

Die mangelhafte Empathiefähigkeit ist die Folge einer empathiearmen Atmosphäre in der Kindheit. Empathie kann nur durch erfahrene Empathie gelernt werden. Das fremde Leid zu spüren, ist dem Narzissten versperrt, weil es an das eigene Leid und an die eigene Zerbrechlichkeit erinnern würde. Auch Personen mit der vulnerablen Form des Narzissmus müssen sich vor ihrer wirklichen Verletzlichkeit schützen. Deshalb kultivieren sie eine Art des Scheinleidens, das als Ersatz für das Selbsterleben genommen wird.

Der Verlust des Selbst und die mühsame Suche

Alle Menschen wollen um ihrer selbst willen geliebt werden, und Kinder brauchen diese Erfahrung ganz besonders. Hat sie von Früh an gefehlt, so können sie keinen primären Narzissmus entwickeln, keine intakte Selbstbeziehung. Der sekundäre Narzissmus, der sich als Ausgleich für diesen grundlegenden Mangel ausbilden kann, hat kein Fundament, sondern „erfindet“ gewissermaßen ein Selbst, das sich aus den von den Eltern aufgeschnappten Erwartungen zusammensetzt. Deshalb spricht man von einem falschen Selbst, obwohl es vielleicht besser als Not-Selbst benannt wäre. Denn Narzissten leiden unter besonders großer innerer Not, die im Verlust des authentischen Selbst besteht. Ihr ganzes Bemühen, ihre angestrengte Fassadenbewahrung und ihr verzweifelter Kampf gegen all die vermeintlichen Feinde dienen der vergeblichen Suche nach diesem Selbst, weil es in der Außenwelt nie gefunden werden kann.

Den Ausweg aus der Falle des Narzissmus können die Betroffenen nur finden, wenn ihre Fassade, ihre Maske zerbröckelt und es ihnen gelingt, sich nicht die nächste Maske aufzusetzen, z.B. die verletzliche nach der grandiosen. Wie die anonymen Alkoholiker nur Leute aufnehmen, die sich selber eingestehen können, dass sie selber nicht mehr vom Alkohol loskommen können, gibt es für den Narzissten nur dann eine Hilfe, wenn er versteht, dass er Hilfe braucht, wenn er versteht, dass er alleine sein verlorenes Selbst nie finden wird. 

Zum Weiterlesen:
Der elterliche Narzissmus und die Selbstfindung
Rollen von Kindern mit narzisstischen Eltern



Mittwoch, 15. Februar 2023

Die Kälte als Freundin gewinnen

Das kalte Wasser hat es in sich. Es jagt manchen schon einen Schauer durch den Körper, nur daran zu denken, in ein kaltes Wasser einzutauchen. Dennoch ist es ein Trend geworden, den vor allem der „Ice Man“ Wim Hof aus Holland initiiert hat. Wer vor etwa 35 Jahren Rebirthing kennengelernt hat, ist schnell auf das Kaltwasseratmen gestoßen, bei dem sich gezeigt hat, wie die Kraft des Atems helfen kann, um Schwellen zu überschreiten, die in unser Vorstellung als unüberwindlich erscheinen, und sich nachher zu wundern, wie gut es sich anfühlt. Bei dieser Methode lernen wir auch, langsam und behutsam in Kontakt mit der Kälte zu gehen und uns schrittweise tiefer hinein zu versenken.

In diesem Artikel geht es um die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die es zum Thema Kälteexposition gibt. Ich verdanke die Informationen Andrew Huberman und seinem interessanten Podcast. Hier finden sich auch zahlreiche Quellenhinweise.

Zunächst ist klar, dass die Temperatur ein wichtiger Stimulus für unser Nervensystem und für jedes Organ und System unseres Körpers ist. Denn der Körper braucht eine bestimmte Temperatur, um sich gut regulieren zu können. Die Temperatur bildet deshalb einen starken Reiz für den Körper und das Gehirn. 

In einer Studie tauchten die Versuchsteilnehmer in ein Wasser mit 15,5 Grad bis zum Hals  ein, also nicht sehr kalt, und dennoch kam es entsprechend der Dauer der freiwilligen Kälteaussetzung zu einem enormer Schub an Neurotransmittern, die mit einer Steigerung der Konzentration und der Stimmung verbunden sind. Die Studie wurde durch weitere Studien bestätigt. 

Der Temperaturrhythmus

Unsere Körpertemperatur unterliegt einem 24-Stundenrhythmus, über die sich jede bewusste Kälteerfahrung darübergelegt und diesen Rhythmus moderiert.

Ca. 2 Stunden vor dem Aufwachen befinden wir uns auf einem Temperaturminimum. Dann langsamer Anstieg. Dann nach dem Aufwachen schnellerer Anstieg bis in den Nachmittag. Am späteren Nachmittag und Abend sinkt die Temperatur wieder ab. Beim Einschlafen geht die Körpertemperatur noch um ein paar Grade runter, was wichtig ist, um in den Tiefschlaf zu kommen. Wenn wir uns in der Früh einer Kälteexposition unterziehen, dann geschieht die Erwärmung schneller und wir spüren mehr Wachheit und Aufmerksamkeit. Gehen wir später am Abend unter die kalte Dusche, so kann es das Einschlafen oder Durchschlafen behindern, denn durch die Kälteerfahrung steigt die Körpertemperatur, die aber beim Einschlafen niedrig sein sollte.

Effektive Abkühlung

Angenommen, wir leiden unter Hitze, z.B. nach einem Lauf im Sommer. Die Körpertemperatur ist unangenehm hoch. Vielleicht nehmen wir dann ein nasses Handtuch und legen es auf den Kopf oder Oberkörper. Damit erzielen wir allerdings den gegenteiligen Effekt: Die Körpertemperatur geht weiter nach oben! Denn unser Thermostat im Gehirn, das sich im medialen präoptischen Bereich des Hypothalamus befindet, erhält Informationen über die plötzliche Kälte von der Haut und schaltet sogleich auf Aufwärmung. Wenn es kalt wird, wird also verständlicherweise die Körpertemperatur erhöht. Kühlen sollte man die obere Gesichtshälfte, die Handflächen und die Fußsohlen, denn dort befindet sich eine glatte haarlose Haut, in der die Kühlung sofort übernommen wird und damit die Körpertemperatur reduziert.

Eu-Stress und Di-Stress

Die positiven Auswirkungen der Kälteerfahrung gibt es nur dann, wenn wir uns ihr freiwillig unterziehen. Wir entschließen uns, uns einer selbstgewählten Stressbelastung auszusetzen, und wissen auch, dass wir jederzeit aussteigen können, wann immer wir wollen. In jeder Stresssituation schüttet der Körper (Nebennierenrinde und Gehirn) Adrenalin und Noradrenalin aus. Diese Botenstoffe steigern den Grad an Agitation, Konzentration und Bewegungsfreude. Im Falle dass der Stress selbstbestimmt ist und der eigenen Kontrolle unterliegt, kommt Dopamin dazu, der Botenstoff für Belohnungserwartung, Motivation und Strebung. Dadurch verbessert sich unsere Stimmung und bleibt auch noch nach der Stresserfahrung erhalten. Hier sprechen wir nach dem Begründer der Stressforschung, Hans Selye, von Eu-Stress. 

Der Stress, den wir als unangenehm und belastend erleben, heißt Di-Stress. Auch er wird durch die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin über die Stressachse (Hypophyse, Hypothalamus und Nebennierenrinden) in Gang gesetzt, es kommt aber kein Dopamin dazu, vielmehr wird nach einiger Zeit Cortisol freigesetzt, das dann den Stress chronifiziert. Es geht also um den „mindset“, um die innere Haltung, ob Stress für uns gut ist oder uns schadet:  Wenn wir etwas tun und glauben, dass es uns guttut, dann führt das zu unterschiedlichen physiologischen Effekten, als wenn etwas gegen unseren Willen oder ohne unsere Kontrolle geschieht.

Stoffwechsel und Kälteexposition

In zahlreichen Studien wurden die Auswirkungen von freiwilligen Kälteerfahrungen auf den Stoffwechsel untersucht. Es zeigte sich dabei, dass die weißen Fettzellen, in denen nur Energie gespeichert wird, zu beigem oder braunem Fett umgewandelt werden, das ist thermogenetisches Fett, das heißt, es kann die Kerntemperatur im Körper erhöhen und wirkt als Ofen, durch den wir unseren Kernstoffwechsel erhöhen können. Wenn wir abnehmen wollen, brauchen wir weniger weißes und mehr braunes Fett. Die beigen und braunen Fettzellen bauen ein Reservoir auf für Situationen, in denen man einer Kälteherausforderung ausgesetzt ist.

Eine weitere Studie untersuchte die Auswirkungen von 11 Minuten Kälteexposition/Woche. Es kam zu einer Steigerung in der Braunfett-Thermogenese, zur Zunahme der Körpertemperatur und des Kernstoffwechsels im Körper. Langfristige Änderungen wirken sich auf den Typ des Fettes aus, den wir im Körper speichern und beeinflussen die Weise, wie dieses Fett zu anderen Zeiten auf unseren Stoffwechsel wirkt. Die allgemeine Kälteempfindung wird herabgesetzt. Die weißen Fettzellen sind Zellen mit sehr niedrigem Stoffwechseloutput, sie sind vor allem Speicherplätze für Energie im Körper. Die beigen oder braunen Fettzellen (braun, weil sie viele Mitochondrien enthalten) sind stoffwechselmäßig und thermogenetisch aktiv. 

Weiße Zellen dienen als Speicher für Zeiten von Energiemangel. Beige und braune Zellen wirken dagegen wie Öfen, die die Körpertemperatur erhöhen können. Sie steigern den Stoffwechsel und helfen, das weiße Fett zu verbrennen. Noradrenalin, das bei Kälteerfahrung freigesetzt wird, bindet an Rezeptoren an der Oberfläche von weißen Fettzellen und aktiviert auf den nach unten gehenden Pfaden Proteine wie UCP1, die sich auf den mitochondrialen Stoffwechsel in den  Zellen auswirken und deren Leistung und Dichte steigern. Die Mitochondrien werden vergrößert. Es wird auch die Genexpression in den weißen Zellen verändert, sodass sie sich in beige und braune Fettzellen verwandeln.  

Die Fettzellen bekommen Signale von Neuronen. Es gibt Neuronen, die die Kälte spüren und die das Noradrenalin direkt in die Fettzellen einschleusen. Dadurch wird die Genexpression verändert, sodass sich die weißen Fettzellen in beige und braune Zellen verwandeln. 

Während Babys viel braunes Fett haben, das sie warm hält, verlieren Erwachsene immer mehr beige und braune Fettzellen. Aber es gibt den Mechanismus, durch den weiße in braune und beige Fettzellen verwandelt werden können. Es sind langanhaltende Veränderungen im Stoffwechsel, die durch Kälteexposition hervorgerufen werden.

Formen der Kälteexposition

Als effektivste Kühlungsmethode im Sinn der Auswirkungen auf Botenstoffe und Stoffwechsel gilt es,  bis zum Hals ins Wasser einzutauchen, dann folgt gleich die kalte Dusche. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, mit minimaler Kleidung nach außen zu gehen, bis zum Punkt, wo der Körper zu zittern beginnt. Die Hitzeübertragung ist im Wasser viermal so hoch wie in der Luft. 

Stressresilienz

Wenn wir uns der Kälte aussetzen, erleben wir einen unmittelbaren Anstieg von Noradrenalin und Adrenalin. Das ist der unvermeidliche unangenehme Effekt, der sofort auftritt, sobald wir mit Kälte in Kontakt kommen. Er wird durch die Kälterezeptoren an der Körperoberfläche erzeugt. Doch da wir mit einer bewussten Entscheidung in diese Situation hineingehen, bauen wir unsere Resilienz gegen Stress auf. Wir können die mentale Klarheit und Ruhe behalten, während unser Körper in Stress gerät. Und diese Fähigkeit kann immens nützlich sein, wenn wir Stress in anderen Situationen erleben. Wir stärken unsere Fähigkeit, Herausforderungen auszuhalten oder zu tolerieren. 

Der Stress kann schon vorher entstehen, wenn wir uns vorstellen, wie schlimm die Kälte sein wird. Das ist eine Mauer, über die wir drüber müssen. Wir setzen uns also auch einem Willenstraining aus. Obwohl wir wissen, dass der Kontakt mit der Kälte im ersten Moment schlimm ist, entscheiden wir uns für diese Erfahrung. 

Wir wissen, dass es durch die Schockerfahrung zu einer 30 – 80% Reduktion bei den kognitiven Funktionen kommt, insbesondere im frontalen Kortex. Um dem entgegenzuwirken, können wir die Kälteerfahrung mit mentalen Übungen verbinden, z.B. indem wir während der kalten Dusche mathematische Aufgaben lösen oder alle Gedanken zu Sätzen ausformen etc. Das Denkhirn arbeitet weiter, obwohl der Reflex darin besteht, es herunterzufahren. Wieder bauen wir eine Kompetenz auf, die uns dabei helfen kann, in plötzlichen Stresssituationen klar im Kopf zu bleiben.

Bewegung im kalten Wasser

Wenn wir uns in kaltem Wasser befinden, erzeugt der Körper Wärme, die als eine thermale Schicht den Körper umgibt. Deshalb fühlt man sich in der Kälte wärmer, wenn man still bleibt. Wenn man sich bewegt, wird die thermale Schicht aufgebrochen und es fühlt sich kälter an. Wir können also, wenn wir den Effekt der Kälteexposition erhöhen wollen, im kalten Wasser die Arme ausbreiten und unsere Körperposition verändern. Wir können auch nach einer kalten Dusche noch in der Kälteempfindung bleiben, statt dass wir uns gleich schnell abtrocknen.

Wie wir schon erwähnt haben, hat die willentliche Kälteerfahrung dramatische Auswirkungen auf die Freisetzung von Dopamin im Gehirn und Körper. Wir fühlen uns gut, auch nachdem wir aus dem Wasser herausgekommen sind. Solche Erfahrungen haben Menschen schon geholfen, aus der Drogensucht herauszukommen. 

Es gibt eine Studie, bei der die Teilnehmer eine Stunde im Wasser verbracht haben: eine Gruppe bei 32 Grad, eine Gruppe  bei 20 Grad, und eine Gruppe bei 14 Grad.  Die Ergebnisse:

  • Bei 32 Grad: Keine Änderung im Stoffwechsel oder bei Dopamin, Adrenalin und Noradrenalin. 
  • Bei 20 Grad: 98% Zunahme im Stoffwechsel 
  • Bei 14 Grad: 350% Zunahme im Stoffwechsel, bei Noradrenalin 530% und bei Dopamin 250%, wobei diese Änderungen andauerten und auch zwei Stunden nachher noch nachweisbar waren. Die Teilnehmer berichteten von Wohlgefühl, gemessen werden konnte eine verbesserte Konzentrationsfähigkeit und mentale Schärfe. Es kam zu keiner Zunahme an Cortisol.

Kälte und Immunsystem 

Gut erforscht ist die Wirkung von Kälteexposition auf das Immunsystem. Es werden dabei entzündungsförderliche Zytokine wie IL-6 eliminiert, und entzündungshemmende Zytokine gefördert, wie z.B. IL-10.

Nichts wie Vorteile, die das Eintauchen ins kalte Wasser oder das kalte Duschen hat, und alles was es braucht, ist das Überwinden des inneren Widerstandes, der vor dem Erstkontakt mit der Kälte besteht. Ist dieser Moment einmal überwunden, geht es zunehmend leichter, bis es sich ganz normal oder sogar angenehm anfühlt. Erstaunlicherweise schwindet das Kältegefühl, je öfter wir uns der Erfahrung aussetzen und je länger wir in ihr verweilen. Die Kälte wird damit von etwas Feindlichem und Bedrohlichem zu einer vielleicht manchmal ruppigen Freundin.

Allerdings sollten gesundheitliche Risiken, etwa in Zusammenhang mit dem Herz-Kreislaufsystem vor der bewussten Kälteerfahrung abgeklärt werden. Zu rasches Eintauchen kann zu Problemen führen. Ratsam ist es deshalb, sich kälteerfahrenen TrainerInnen anzuvertrauen, wenn man Anfänger auf diesem Weg ist.


Dienstag, 7. Februar 2023

Dankbarkeit: Das universale Heilmittel.

Die Dankbarkeit ist ein Universalheilmittel. Sie befreit von Sorgen und Problemen. Sie bringt uns sofort in den Moment und in die Verbundenheit mit dem Ganzen. Wenn wir auf unser Leben als Ganzes schauen, müssen wir zugeben: Wir haben so viele Geschenke erhalten, seit wir auf der Welt sind, ganz abgesehen von dem unermesslichen Geschenk des Lebens überhaupt. Was wir zurückgeben können, ist im Grund nicht viel mehr als unsere Dankbarkeit.

Im Gefühl der Dankbarkeit schwinden die Unterschiede zwischen Innen und Außen. Es vollzieht sich ein permanentes Geben und Nehmen, ein Fließen des Austausches. Das eigene Ich tritt zurück und wird unwichtig. Das Leben fühlt sich leicht an und ausgerichtet auf das, was von selber geschehen will. Dankbar zu sein befreit von übermäßigem Verlangen, Habenmüssen, Tunmüssen, befreit von Selbstwertproblemen und Selbstzweifeln. In der Dankbarkeit erfahren wir, dass es immer ein Größeres gibt als die kleinen Themen, mit denen wir gerade identifiziert sind.

Wenn wir uns bei jemandem bedanken, fühlen wir uns mit ihm verbunden und er mit uns. Wenn wir uns bei dem großen Ganzen, bei der Natur, bei unserem Körper, bei unseren Begabungen bedanken, sind wir mit dem verbunden, dem unsere Dankbarkeit gilt, und dieses verbindet sich mit uns. Jede Verbindung enthebt uns der Verstricktheiten in unsere Alltagsgeschichten und webt uns ein in die umfassende Geschichte, von der wir nur ein winziger Teil sind.

Werden wie die Kinder

Im Zustand der Dankbarkeit erkennen wir, dass wir wie Kinder sind. Kinder bekommen alles, was sie brauchen, ohne dass sie all das jemals zurückgeben können. Alles, was sie zu geben haben, ist ihre Liebe und Dankbarkeit. In der Dankbarkeit werden wir zu Kindern dieser Erde und gewinnen die kindliche Unschuld zurück.

Ähnlich geht es uns im Erwachsensein, in dem wir so viel kriegen und im Grunde vergleichsweise so wenig zurückgeben. Allein die Luft, die wir in jedem Moment zum Atmen brauchen, ist für uns da, ohne dass sie etwas von uns verlangt. Was wir zurückgeben, die Ausatemluft, dient uns zur Entlastung und den Pflanzen als Energielieferant. Die Nahrung, die wir zu uns nehmen, wurde von der Erde, der Sonne und von der Arbeit von anderen Menschen erzeugt. Die Bildung, die wir erworben haben, verdanken wir denen, die sie uns vermittelt haben. Ein Buch, das wir lesen, kostet seinen Preis, aber sein Inhalt ist unermesslich.

Mit der Dankbarkeit bringen wir ins Gleichgewicht, was sich sonst in einem Überhang nach unserer Seite neigt: Das Übermaß dessen, was wir bekommen im Vergleich zu dem, was wir geben. Mit dem Größeren, das uns im Geben immer voraus ist, können wir nur mit Dankbarkeit in Balance kommen. Dadurch gleicht sich das Verhältnis mit dem Außen aus und zugleich findet unser Inneres zu sich selbst. Wir kommen in einen tiefen Frieden mit uns und mit der Welt um uns.

Das Böse in dieser Welt

Wie aber können wir angesichts des Schlimmen in der Welt dankbar sein? Das Schlimme ist schlimm, daran lässt sich nichts rütteln. Das menschliche Leid, das durch Unbewusstheiten und Bosheiten angerichtet wird, verdient unser Mitgefühl. Jede Dankbarkeit für Übeltaten wäre zynisch und fehl am Platz. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, das Schlechte zum Guten zu wenden, soweit es in unserer Macht liegt. Unsere Aufgabe ist es also, Raum für Dankbarkeit zu schaffen. Wo Schlimmes dem Guten weicht, wo etwas in der Welt wieder ins Lot kommt, sollten wir dankbar sein.

Selbst für die Fähigkeit, etwas zu verbessern, über die wir oder andere verfügen, ist unsere Dankbarkeit angesagt. Denn diese Fähigkeit ist nicht unsere Errungenschaft, sie ist uns oder anderen gegeben. Außerdem bietet alles, was wir „aus uns heraus“ erschaffen, Anlass für Dankbarkeit, denn selbst das ist nur zum geringeren Teil unsere aus uns erzeugte Leistung, sondern der Ertrag einer Leistungsfähigkeit, die wir geschenkt bekommen oder mit der Hilfe anderer erworben haben.

Wir sollten nie übersehen, dass in jedem Schlechten etwas Gutes steckt, in jedem Bösen etwas Menschliches. Es gibt das Böse nicht in Reinkultur, unvermischt, sondern nur in einer Gemengelage mit den verschiedensten Motiven und Strebungen. Wenn wir uns bemühen, das Schlechte und Böse zu verstehen, werden wir entdecken, wie vielschichtig diese Phänomene sind. Da gibt es Schichten im Bösen, die gut sind und für die wir dankbar sein können, ohne die anderen Schichten, die sich oft darüber gelagert haben, zu übersehen oder zu bagatellisieren. Wir werden das Böse, wenn wir es erforschen, nicht mehr als Feind und Widersacher sehen, sondern als einen komplexen Teil der Wirklichkeit. Damit verliert es seine dämonische Macht.

Alle Formen von Bosheit weisen auf etwas hin, was nicht in Ordnung ist. Ein Mensch, der stiehlt, macht das, weil er meint, benachteiligt zu sein. Er macht uns auf soziale Ungleichheiten aufmerksam, die verändert werden sollten. Dazu kommt, dass jede böse Tat einen Widerstand hervorbringt, der das Böse nicht zulassen will und nach neuen Formen des Guten sucht. Es gibt nichts Böses, das unwidersprochen bleibt. Alles Schlimme, das geschieht, erzeugt neue Anreize für das Lernen. Deshalb folgen auf schwierige Epochen der Geschichte, in denen die Gewalt vorherrschte, solche mit neuen ethischen Errungenschaften.

Dankbarkeit für körperliches Leiden?

Wie schaut es mit der Dankbarkeit aus, wenn wir unter Schmerzen stöhnen oder unter einem hartnäckigen Gebrechen leiden? Sollen wir dafür dankbar sein? Körperliches Leiden zieht all unsere Aufmerksamkeit auf sich, sodass wir oft an gar nichts anderes denken können. Erst wenn wir wieder genesen, wissen wir es zu schätzen, frei von Schmerzen zu sein. Unsere Gesundheit gewinnt einen ganz anderen Wert, und wir nehmen uns vor, sie nicht für selbstverständlich zu halten, sondern für etwas, das unsere Fürsorge und Vorsorge benötigt. Wir erkennen, wie wichtig es ist, in der Achtsamkeit auf unseren Körper und seine Bedürfnisse beständiger zu sein. Dazu hilft uns die Übung der Dankbarkeit, bei der wir uns bei unserem Körper für sein permanentes Bewirken bedanken und den verschiedenen Teilen, Organen und Geweben unseres Körpers unsere Wertschätzung geben. Auf diese Weise stellen wir einen Einklang zwischen unserem Körper und unserem Geist her, die beiden Seiten Gutes tut. Wir setzen uns mit unserer Dankbarkeit aktiv dafür ein, unsere Gesundheit auf eine nachhaltige Basis zu stellen.

Krankheiten stellen besondere Aufgaben des Lernens für uns dar. Sie bringen uns in Kontakt mit unserer Verletzbarkeit, Bedürftigkeit und Schwäche. Sie fördern unsere Selbstachtsamkeit. Letztlich erinnern sie uns an unsere Endlichkeit. Und sie weisen uns darauf hin, wie kostbar das Geschenk unseres Lebens ist.

Zum Weiterlesen:
Dankbarkeit - die hohe Schule der Lebenskunst
Wertschätzung für unseren Körper
Die Welt der Wunder