Schrittweise lösen sich diese Abhängigkeiten, in dem Maß, in dem wir lernen, Verantwortung für uns selbst und für unsere Bedürfnisse zu übernehmen. Wir wachsen an Autonomie. Dabei entfaltet sich unser Selbst mehr und mehr, in Weite, Tiefe und Komplexität.
Doch kann diese Entwicklung durch einschränkende und schädigende Einflüsse von außen, vor allem von den Menschen, die die Verantwortung für uns tragen, behindert werden. Eine sehr verbreitete Spielart dieser Problematik besteht darin, dass die Erwachsenen ihre unerfüllten und ungelebten Bedürfnisse und Potenziale auf das Kind übertragen und sich von diesem dann die Befriedigung dieser Ansprüche erwarten. Damit kehrt sich die Dynamik der Verantwortung um: Kinder sollen von früh an die Verantwortung für die Bedürfnisse der Eltern übernehmen. Die Folge ist, wie auch schon in früheren Blogbeiträgen (s. „Zum Weiterlesen“ unten!) skizziert, emotionale Überforderung verbunden mit Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen, den gestellten Erwartungen nicht zu entsprechen.
Die eigenständige Entwicklung des Selbst des Kindes ist unter solchen Umständen behindert und belastet. Die Erziehungspersonen nehmen in einem unbewussten Akt der Okkupation einen Teil des Selbst des Kindes ein, sodass sich dort nichts Eigenes entfalten kann. Dieser Teil kann sich wie ein fremdes Implantat anfühlen, obwohl das den Kindern meist nicht bewusst wird, weil sie die Umstände, in denen sie aufwachsen, und die Menschen, die dabei die Schlüsselrolle spielen, als selbstverständlich so nehmen, wie sie sind.
Die aggressive Entwendung
Es wird wohl kaum Eltern auf dieser Welt geben, die niemals ihre Kinder abgewertet und aggressiv kritisiert haben. Wenn aber aus stressbedingten Ausrutschern, die dann entschuldigt und bedauert werden, regelmäßige Rituale des Heruntermachens und Entwürdigens werden, dann kann die innere Selbstachtung des Kindes nur zu bröckeln beginnen, bis sie irgendwann in quälenden Selbstzweifeln untergeht. Mit dem Gefühl, wenig oder nichts wert zu sein in den Augen der Menschen, die am meisten geliebt sind, kann sich kein Selbstwertgefühl entwickeln und stabilisieren. Die Unsicherheiten führen dann fast notwendigerweise dazu, dass die Erfolge und Bewährungen in der Außenwelt ausbleiben oder sogar dann noch, wenn sie doch gelingen, im eigenen Inneren abgewertet und relativiert werden.
Fortgesetzte Erniedrigungen und Entwürdigungen, die viele Kinder erleben müssen, können nicht zur Bildung eines konsistenten und kreativen Selbst führen. Jeder Teil, der nicht mit Wertschätzung gefüttert und genährt wird, verkümmert, sodass manchmal sogar die eigene Begabung zur Perfektionierung der Selbstabwertung verwendet wird, so stark kann die Einverleibung der elterlichen Angriffe wirken. Die von außen erlebte Aggression wird in Selbstgeißelungen im Sinn einer konsequenten Selbstverleugnung umgewandelt, aus unbewusster Loyalität zu den aggressiven Seiten der eigenen Eltern.
Freundschaftsbeziehungen und Partnerschaften werden zu Spielwiesen für die verunsicherten Gefühle und Erwartungen. Notgedrungen wird versucht, die entleerten Selbstanteile bei Partnern einzufordern, die sich dann oft unverstanden und missbraucht fühlen. Ohne gefestigtes Selbstgefühl können Beziehungen nur mit Schwierigkeiten aufrechterhalten werden und zerbrechen leicht an Kleinigkeiten.
Die unbewussten Programme sind meist so mächtig, dass sie weiter wirken, auch wenn die rationale Einsicht schon lange erkannt hat, wie selbstbeschädigend sie wirken. Deshalb braucht es Hilfe von außen, um zunächst die Kraft der verinnerlichten Aggression zur Sicherung der ramponierten Grenzen des Selbst verwenden zu können. Dann gilt es, sich in sorgfältiger Arbeit die entrissenen Teile des Selbst wieder anzueignen und mit konstruktiver wachstumsorientierter Energie auszustatten.
Die subtile Entwendung
Neben der aggressiven Selbst-Entwendung gibt es auch subtil-manipulative Formen des Selbst-Raubs in vielerlei Gestalten. Es kann etwa die Mutter zum Kind sagen (oder auch nur nonverbal kommunizieren): Du hast so schöne Augen, die hätte ich auch gerne. Sie meint vielleicht, dass sie das Kind damit in seiner besonderen Schönheit anerkennt und seinen Selbstwert unterstützt. Tatsächlich aber möchte sie das haben, was das Kind hat, weil sie mit dem, was sie selber hat, nicht zufrieden ist. Sie neidet also dem Kind ein Stück Leben, das ihr selber fehlt.
Das Kind wird ab diesem Moment eine andere Beziehung zu seinen Augen haben. Sie werden ihm ein Stück entfremdet, denn die Mutter hat sie mit ihrem Neid ein Stück an sich gezogen. Ein Teil des eigenen Selbst ist verloren gegangen, auf subtile Weise erobert und besetzt von der Person, die die meiste Liebe bekommt und gibt. Um diese Liebe nicht zu verlieren, im Geben wie im Bekommen, opfert das Kind den unbefangenen Bezug zu seinen schönen Augen, und ein Schleier zieht sich über die Seele, denn das Selbst kann in diesem Bereich nicht weiter wachsen.
Die Beziehung zu sich selbst ist im Kind unterbrochen. Es hat keine klare und eindeutige Verbindung mehr zu dem inneren Teil, der von der Elternperson in Beschlag genommen wurde. Wenn sich solche Botschaften wiederholen oder in Variationen immer wieder auftauchen, entstehen weitere Unterbrechungen, die das Selbstgefühl immer mehr verwirren. Es schwindet das Gefühl von spontaner Lebendigkeit und von Verbundenheit mit der Außenwelt. An die Stelle dessen tritt ein ängstliches Funktionieren und zauderndes Herumtasten in der Welt. Schließlich kann der Mensch keine überzeugende Antwort mehr auf die Frage finden: Wer bin ich denn eigentlich?
Die Rückgewinnung des Selbst
Erst wenn bewusst wird, was geschehen ist, wenn also der Schleier des Selbstverständlichen gelüftet und der aus der Liebe entstandene Schutz der Eltern vor Anklagen obsolet geworden ist, beginnt die Wieder-In-Besitznahme des eigenen Selbst, die eine gute therapeutische Begleitung bitter braucht. Sie beginnt beim Körper, in dem all die Entwendungen als leere Stellen oder Löcher spürbar sind. Durch liebevolles Hinspüren füllen sich langsam diese Bereiche im Körper, die immer auch Bereiche in der Seele sind, mit Eigenem. Sie werden wieder in Besitz genommen und spontanes Leben kann hinein fließen, indem die lebendige Aufmerksamkeit die Verbindung, die unterbrochen wurde, wieder herstellt.
Es ist ein längerer und mühsamer Weg, aber er lohnt sich, weil nichts schlimmer ist, als nicht mehr spüren zu können, wer man selber ist. Selbstzweifel können in einer Weise quälen wie starke körperliche Beschwerden. Im Heilungsprozess ist es, als ob Schritt für Schritt inneres verödetes Land wieder urbar gemacht wird, damit dort neues Leben sprießen kann.
Eins mit sich
Mit sich selber eins zu sein, sich als sich selber spüren zu können, ist für viele betroffene Menschen keine Selbstverständlichkeit, sondern etwas, das sie bitter missen und das ihr Leben in vielerlei Hinsichten erschwert. Vielleicht ist es genau das, was viele andere Menschen, die gar nicht auf die Idee kommen, von sich selber getrennt zu sein, mit ihrem Leben und seinen Umständen hadern lässt. Vielleicht sind es gerade besonders sensible, aber auch wache Personen, die diese Ungereimtheit im eigenen Wesen schmerzhaft erleben; ein Schmerz, der sie nach Abhilfe suchen lässt, während andere, denen die Selbstentfremdung zur zweiten Natur geworden ist, den Rest der Welt für ihre Leiden und Probleme verantwortlich machen.
Mit sich selber körperlich und seelisch in Übereinstimmung zu kommen, also psychisch zur Kongruenz und physisch zur Kohärenz zu gelangen, ist ein lebenslanges Ziel jedes menschlichen Wesens und zugleich die Voraussetzung für kreatives Wachstum und schöpferische Lebensfreude. Je mehr Menschen sich diesem Ziel annähern, gleich über welche Ausgangsbedingungen sie verfügen, desto menschlicher wird diese Welt. Besondere Anerkennung verdienen jene, die sich trotz eines schwierigen Kindheitsschicksals auf den Weg machen.
Nachbemerkung:
Der Titel dieses Beitrags suggeriert, dass es um „Verbrechen“ geht, die absichtlich begangen werden. Der „Raub des Selbst“ kann aus subjektiver Sicht von Betroffenen als ein Verbrechen erlebt werden; das heißt aber nicht, dass Eltern mit bösem Willen ihre Kinder um ihr Selbst bringen. Eltern handeln dann lieblos, wenn sie selber nicht genug Liebe bekommen haben, wie schon in anderen Artikeln auf dieser Seite angemerkt wurde. Dennoch enthebt sie die unbewusste Dynamik, der sie unterliegen, nicht der Verantwortung, die sie allerdings erst tragen können, wenn sie zur Einsicht gelangt sind, was sie ihren Kindern angetan haben.
Zum Weiterlesen:
Das Kind in uns
Die Täter-Opfer-Umkehr als Wurzel für Schuldgefühle
Die innere Geschichte der Täter-Opfer-Umkehr
Am Anfang brauchen wir ein Willkommen
Der Verlust und die Wiedergewinnung der Lebendigkeit
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