Mittwoch, 22. November 2023

Scham und Krankheit

Scham spielt bei Krankheiten eine große Rolle. Krankheiten bringen uns in besorgniserregende Zustände und reißen uns aus der Alltagsroutine heraus. Neben den Beschwernissen, die mit den Symptomen verbunden sind, z.B. Fieber und Schmerzen, kommen auch Lebensumstellungen und psychische Belastungen. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf den eigenen Zustand, während die Mitmenschen als Helfer gebraucht werden. Es ist meist nicht möglich, mehr zu geben außer Dankbarkeit, und es ist notwendig, im Zustand der Hilflosigkeit die Unterstützung anzunehmen. Das ist für Menschen, die von der Bedürfnisscham geprägt sind, eine unangenehme Herausforderung. Sie fühlen sich schnell wertlos, wenn sie nicht für sich selber sorgen können und wollen möglichst alles verhindern, um in sie hineingezwungen zu werden. Oft leugnen und verharmlosen sie ihre Erkrankungen, bis es so schlimm ist, dass sie nicht mehr alleine damit zurechtkommen. Wenn sie einmal in die bedürftige Rolle geraten sind, wollen sie wieder herauskommen, so rasch es nur geht.

Im kranken Zustand ist die eigene Leistungsfähigkeit reduziert oder nicht mehr vorhanden. Menschen, die sich über Arbeit und Leistung definieren, reagieren mit Schamgefühlen, sobald sie aus dem Leistungsgefüge herausfallen. Sie leiden darunter, dass sie die Erwartungen der anderen nicht erfüllen und fühlen sich unwert und nutzlos. Der Anspruch an sich selbst, durch Leistung die Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu verdienen, kann nicht eingelöst werden – eine Schande.

Die individuellen Schamreaktionen unterscheiden sich nach Krankheitsart und sind von den vorherrschenden gesellschaftlichen Bewertungen beeinflusst. Es gibt Krankheiten, die als “normal” gelten, weil sie fast alle zu bestimmten Zeiten bekommen, wie Erkältungserkrankungen und grippale Infekte. Bei ihnen ist die Schambelastung gering. Dauern Krankheiten länger als gemeinhin angenommen wird, dann steigen die Schamgefühle. Jemand, der eine Covid-Erkrankung mit geringen Symptomen hatte, wird sich weniger schämen als jemand, der an Long-Covid leidet.

Niemand will kränker oder krankheitsanfälliger als alle anderen sein; jeder mit solchen Dispositionen fühlt sich schnell im Eck der Scham gefangen. Manche brüsten sich mit ihrem scheinbar unüberwindlichen Immunsystem, leiden dann aber doppelt, wenn sie doch eine schlimme Infektion erwischt. Neben der Krankheit müssen sie unter Umständen mit der Häme ihrer Mitmenschen leben und auch schamvoll von ihrer Selbstüberschätzung Abschied nehmen.

Es gibt Krankheiten, die mit sehr viel Angst verbunden sind, z.B. Krebs. Krebsdiagnosen lösen meist starken Stress und Überlebensängste aus. Obwohl es bei vielen Krebsarten inzwischen gute Heilungsaussichten gibt, ist das Wort Krebs nach wie vor von vielen Ängsten besetzt. Wo die Angst herrscht, ist die Scham nicht weit. Es fällt nicht leicht, über diese Krankheit zu reden, denn es ist ein schambesetztes Tabuthema, gerade weil es um eine so gefürchtete Krankheit geht. Das Stigma der Todesdrohung ist schon im Wort enthalten. Krebsdiagnosen konfrontieren mit der Endlichkeit, ob wir es wollen oder nicht. 

Es gibt Krankheiten, die mit einem starken Verlust an Selbstkontrolle verbunden sind, z.B. Parkinson, Demenz oder Inkontinenz. Die Scham steht gewissermaßen im Zentrum dieser Störungen. Denn sie werden von einem selber und von den Mitmenschen erkannt, und die Betroffenen merken, dass den anderen die Störung unangenehm auffällt. Sie fühlen sich in ihrer Inkompetenz bloßgestellt. Sie sind unfähig, die Symptome willentlich abzustellen, die Hilflosigkeit und der Kontrollverlust sind auffällig und peinlich. Auf den Körper ist kein Verlass mehr, er verweigert den Gehorsam und tut, was er will. Die Muskeln und das Gehirn sind mächtiger als das Selbst, das beschämt und ohnmächtig daneben steht. Es ist eine Hilflosigkeit sich selbst gegenüber, die neben dem Angewiesensein auf Hilfe die Schambelastung bewirkt. Die aktuelle Unfähigkeit wird mit der früheren Fähigkeit verglichen, und der Vergleich endet immer in einer Beschämung. Was doch früher alles so selbstverständlich gut gelaufen ist und funktioniert hat, geht jetzt überhaupt nicht mehr.

Schwere und chronische Krankheiten erfordern eine Änderung der eigenen Identität, die in ihrer Fragilität, und manchmal sogar in ihrer Endlichkeit anerkannt werden muss. Die Identität als gesunde Person muss ersetzt werden durch die Identität einer kranken oder behinderten Person. Es sind wiederum Schamgefühle, die die Anpassung des eigenen Selbstempfindens an die Krankheitssituation erschweren. Wie soll ich weiterleben, wenn ich bisher ein funktionstüchtiges Mitglied der Gesellschaft war und mich über meine Leistungsfähigkeit und zuverlässige Pflichterfüllung definiert habe? Bin ich noch wer, wenn ich hauptsächlich ein kranker Mensch bin? 

Chronisch kranken Menschen bleibt nichts anderes übrig, als sich in ihr missliches Schicksal zu fügen. Häufig gehen sie durch verschiedene Gefühlsstadien. Von Frustration, Ärger und Angst über Verzweiflung und Resignation gelangen sie manchmal zu einer gleichmütigen Annahme der Lage und finden vielleicht sogar zurück zum Humor. Wenn dieser Schritt gelingt, steht ein wirksames Mittel gegen die Scham zur Verfügung, das das schwere Los erleichtert.

Ein anderes Beispiel für die Aktivierung von Scham bei Krankheiten bieten äußerlich sichtbare Krankheiten, wie Hautkrankheiten. Sie können bei den Betroffenen unangenehme Gefühle auslösen, von den anderen scheel oder abfällig betrachtet zu werden und sich wie ein Außenseiter zu fühlen. Mit solchen Krankheiten sind fast automatisch Ekelgefühle verbunden, die das Gefühl des Ausgegrenztseins verstärken. Zur Krankheitsscham kommt noch eine Körperscham, eine abwertende Reaktion auf den eigenen Körper. In früheren Zeiten wurden bekanntlich die Aussätzigen wegen der Ansteckungsgefahr streng abgesondert und auch sozial stigmatisiert. Deshalb melden sich auch heute noch uralte kollektive Ängste, an etwas zu leiden, das zu sozialer Ausgrenzung führt. 

Psychisches Leiden

Jede Krankheit verändert den Körper und das Selbsterleben. Es gehen Möglichkeiten der Lebensgestaltung verloren. Die reduzierte Leistungsfähigkeit ist häufig von Schamgefühlen begleitet. Besonders psychische Leiden sind schambesetzt. Sie gelten als ein persönlicher Makel, den die betroffene Person zu verantworten hat. Körperliche Leiden gelten bei vielen als Schicksal, während psychisches Leid häufig als selbstverursacht angesehen wird. Psychisch Kranke wären unfähig oder unwillig, „sich am Riemen zu reißen“. Sie seien nicht von einem unwägbaren Schicksal betroffen, sondern von einem Mangel an Willenskraft, für den sie selber verantwortlich sind, so eine noch immer wirksame Auffassung. Deshalb tun sich viele Menschen schwer, über ihre psychische Krankheit zu reden, weil sie sich dafür schämen und weil sie befürchten, dafür beschämt zu werden.

Die Scham, einem psychischen Leiden ausgesetzt zu sein, wird durch die Übernahme solcher Vorurteile zum Teil der Krankheit. Die Unfähigkeit, Verhaltensweisen oder Stimmungen in den Griff zu bekommen, was anderen scheinbar so leicht fällt, verstärkt die Scham und verschlimmert die Krankheit. Die Hilflosigkeit, trotz besseren Wissens und trotz Einsicht die eigene Innenwelt nicht zu beherrschen, sondern von ihr beherrscht zu werden, legt die nächste Schicht der Scham über das jeweilige Symptom und macht es noch mächtiger. 

Der Ausdruck „Geisteskrankheit“ trägt die Scham schon begrifflich in sich. Es ist nicht die Rede von Störungen des Gehirnstoffwechsels oder der hormonellen Abläufe, die die psychischen Störungen bewirken, sondern von einer Erkrankung des Geistes. Da gemeinhin unter dem Geist das Höchste und Wertvollste im Menschen verstanden wird, bedeutet eine Krankheit dieser Instanz die Gefährdung und Einschränkung dessen, was den Menschen zum Menschen macht. Die Bezeichnung „geisteskrank“ enthält einen Würdeverlust, und die Integrität der Person wird in Frage gestellt. Niemand würde annehmen, dass jemand, der an einer Blinddarmentzündung erkrankt, deshalb in seiner Würde geschmälert wäre; ist aber jemand in einem „geistig“ abnormen Zustand, so wird er von vielen nur mehr in einem eingeschränkten Sinn als Mensch geachtet. Das ist auch ein Grund, warum sich die Nationalsozialisten angemaßt haben, Menschen mit psychischen Störungen als „lebensunwertes Leben“ zu brandmarken und sie deshalb in den Tod zu schicken. 

Psychologisiertes Krankwerden

Ein moderner Zusammenhang zwischen Scham und Krankheit eröffnet sich durch die Psychologisierung von Krankheiten, also durch die Zuschreibungen von psychischen Ursachen und Charakterschwächen für jede Form von Leiden, körperlichen wie seelischen. Es gibt alle möglichen populären Ratgeber, die jede erdenkliche Krankheit mit bestimmten psychologischen Schwächen in Verbindung bringen. Sie wollen den Menschen helfen, die seelischen Hintergründe ihrer Krankheiten zu verstehen und verbreiten den Glauben, dass durch die Auflösung der psychischen Konflikte die Krankheit geheilt werden kann. Das Wissen um die Psychosomatik, also um die Zusammenhänge zwischen körperlichen und seelischen Störungen, ist in die Alltagspsychologie eingedrungen und hat dort nicht nur Gutes bewirkt, sondern auch in mancherlei Hinsicht zu mehr Schambelastung geführt. Denn die Auffassung von Krankheit als Los wurde ergänzt oder ersetzt durch die Eigenverantwortung für die Gesundheit und deren Versagen im Fall von Krankheit. Wer krank ist, hat versagt, so die Kurzformel. 

Im Zug dieser Entwicklung hat sich das Gewicht vom Schicksal auf die Verantwortung verschoben: Gesundheit ist keine Gnade und Krankheit kein Schicksal, gesund sind wir als Ergebnis von Bemühungen und Einsatz; wer krank ist, hat in dieser Hinsicht versagt und trägt dafür die Verantwortung. Er kann sich nicht mehr ausreden – auf einen ungnädigen Gott, auf die Gene oder die stressigen Lebensumstände. Eine Flut von Ratgebern füllt die Buchläden, die Zeitschriften bersten von unterschiedlichen Gesundheitstipps, der Markt an alternativen Heilmethoden boomt. So viele Möglichkeiten gibt es, für die Gesundheit vorzusorgen, und wer dennoch krank wird, muss etwas falsch gemacht haben und muss mit dem Vorwurf rechnen, sich nicht genügend um sich selbst gekümmert zu haben. Er entkommt der Scham nicht, die mit der mangelnden Verantwortungsübernahme verbunden ist.

Häufig versteckt sich hinter den scheinbar fürsorglichen psychologischen Erklärungen für die Krankheitsursachen die Angst vor der Ungewissheit des Schicksals, das jeden einmal treffen kann. Wenn eine Erklärung für das Unerklärliche gefunden wird, mindert das die Angst und holt ein Stück Macht über das Schicksal zurück. Zugleich erspart das Psychologisieren die Empathie mit dem Leiden und das Eingehen auf die leidende Person. Sie wird zum Fall für eine Diagnose.


Freitag, 3. November 2023

Die zweigeteilte Welt und der Nahostkonflikt

Die unterschiedlichen, quer durch die Welt und die Gesellschaften gehenden Parteinahmen in der aktuellen Phase des Israel-Palästina-Konflikts spiegeln die Teilung der Menschheit in zwei Welten wieder. In der einen Welt leben die Menschen in ziemlichem Wohlstand und Luxus, in der anderen Welt am Subsistenzminimum, in einer Spannbreite zwischen Elend und Hunger einerseits und prekärem Wohlstand andererseits. Die eine Welt, geografisch ungenau, der Westen, die andere, ebenso ungenau, der Süden. Diese Ungenauigkeit stammt aus einer nach wie vor dominanten eurozentrischen Sichtweise, so, als gäbe es einen archimedischen Punkt, von dem aus die Sicht auf die Welt erfolgt und von dem aus die Regionen eingeteilt werden, und dieser Angelpunkt befindet sich in der Mitte des angehäuften materiellen Reichtums.

In dem Konflikt identifizieren sich die einen mit der Wohlstandsnation Israel, der sie ihre Solidarität gegen Überfälle und Terror zusichern. Sie geben ihre Hilfe, damit die Grenzen der Wohlstandsoasen an der vordersten Front gegen Grenzüberschreitungen verteidigt werden. Aggressionen von außen müssen mit massiver Gegenaggressivität bekämpft werden, damit sie nie wieder zu einer Gefährdung der Privilegien, die sich im Lauf der Zeit angehäuft haben, werden können.

Die anderen fühlen sich solidarisch mit den Armen und Unterdrückten, weil sie ihre eigene missliche Lage darin wiedererkennen und weil ihre Wut auf die Reichen und Satten ein Objekt bekommt, an dem sie sich entladen kann. Sie soll die Ohnmacht und Aussichtslosigkeit kompensieren, die die Lebenssituation auf dieser Seite der Welt prägt. 

Auch in den wohlhabenden Ländern gibt es Menschen, die sich in Ohnmachtspositionen befinden, und deshalb kommt es auch dort zu aggressiven Demonstrationen gegen Israel. Das Land wird gewissermaßen als Repräsentant der Ungleichverteilung von Chancen und Ressourcen angesehen.

Außerdem wird Israel in vielen Ländern des armen Weltteils als Apartheid-Regime angesehen, das wie eine Kolonialmacht die autochthone Bevölkerung unterdrückt, deklassiert und verachtet. Aus dieser Sicht erscheint die Hamas wie eine Befreiungsbewegung gegen eine ungerechtfertigte Herrschaft. Das Konzept des Genozids ergibt sich aus dieser Betrachtungsweise, unterstützt von der Rhetorik radikaler Siedlerparteien in Israel, die eine Ausrottung der Araber fordern – und die jetzt in der israelischen Regierung sitzen. Andererseits enthält das Programm der Hamas die Auslöschung des jüdischen Staates.

Die Nebenrolle des Antisemitismus

Der Antisemitismus spielt in dieser Perspektive nur eine Nebenrolle, allerdings eine ziemlich einflussreiche, weil diese perfide Ideologie zusätzlich Emotionen mobilisiert und mit Hass auflädt. Ebenso aber lenkt die Antisemitismuskritik von der globalen Bruchlinie ab, durch die sich die Lebenschancen der Menschen grundlegend unterscheiden. Wenn die Kritik oder das Entsetzen über die israelischen Aggressions- und Zerstörungsaktionen schon als antisemitisch bezeichnet werden, wird der Grundkonflikt zwischen arm und reich ausgeblendet und damit gerechtfertigt. Diese Haltung ist genauso ideologiegetränkt wie die Einmischung des Antisemitismus in Solidaritätskundgebungen mit den palästinensischen Opfern.

Für die einen wirkt der Angriff auf die Wohlstandsinseln traumatisierend – eine Rave-Party wird brutal überfallen –, die anderen schockieren die Bilder von zerbombten Häusern und Babyleichen in den Elendsvierteln von Gaza. Die Angst auf der einen Seite, dass das Böse und Unmenschliche von außen in die Sicherheitszonen eindringen kann, kontrastiert mit der Angst auf der anderen Seite, selber Opfer der Übermacht einer Unterdrückungsmaschinerie zu werden oder für immer bleiben zu müssen.

Die zweigeteilte Welt

Es handelt sich um eine reale Zweiteilung der Welt, die jetzt überdeutlich als Spaltung sichtbar wird. Es gibt allerdings keine messerscharfe Trennlinie zwischen Armut und Reichtum, sondern viele Übergangsfelder. Maßgeblich sind die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen, aus denen die jeweilige Mentalität entsteht (Subjektive Befindlichkeiten, die von kollektiven Bewusstseinsfeldern bestimmt sind). Armut ist also nicht nur die Folge von niedrigem Einkommen, sondern auch von unsicheren und zerbrechlichen Strukturen ringsum, oft verbunden mit repressiven politischen Systemen.

Das Skandalon ist die massive soziale Ungerechtigkeit in der Menschheit. Es ist eine Trennlinie, die irgendwo zwischen Tel Aviv und Gaza City verläuft. Es ist ein Gebiet, in dem die zwei Welten hart aneinander aufeinander prallen, der Reichtum auf der israelischen Seite und die Armut auf der palästinensischen. Jeder Gewaltausbruch seitens der Palästinenser enthält auch einen Schrei nach mehr ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit.

Es gibt verschiedene Narrative, die das Wohlstandsgefälle rechtfertigen. Die meisten kommen aus der liberalen und neoliberalen Richtung und gehen von der (empirisch nicht haltbaren) zynischen Annahme aus, dass Reichtum durch Leistung geschaffen wird und Armut durch zu wenig Leistung entsteht. Wird dieses Konzept auf den Nahostkrieg angelegt, so werden die Araber als rückständig und arbeitsscheu beschrieben, die sich deshalb ihr Los selber zuzuschreiben hätten.  Solche Stereotypisierungen sind immer ideologisch aufgeladen und weisen das gleiche Strickmuster auf wie die antisemitistischen Vorurteile. Sie dienen nicht nur der Entlastung von der kollektiven Scham als Folge der skandalösen Armut, sondern auch der Rechtfertigung von Aggressivität und Zerstörungswut, die sich bei Gelegenheit destruktiv entlädt, z.B. bei gewaltsamen Übergriffen israelischer Siedler auf Palästinenser. 

Die Logik der Gewalt

Die Logik der Gewalt ist aus archaischen menschlichen Antrieben, die aus massiven Ängsten stammen, zu verstehen: Zahn um Zahn, Auge um Auge. Wenn ich keine Rache übe, stehe ich als Schwächling da und das Böse wird nur noch stärker. Vielmehr muss meine Rache massiver und zerstörerischer ausfallen, damit das Böse nie wieder auftaucht.

Diese Logik und damit ihre Akteure zu verstehen heißt nicht, sie gutzuheißen, im Gegenteil: Das Verständnis zeigt auf, dass die Eskalationsspirale nur durchbrochen werden kann, wenn eine Seite aussteigt – und das kann in diesem Fall nur die mächtigere Partei tun. Denn die schwächere ist immer wieder aus der Gewaltlogik ausgestiegen und hat versucht, gewaltfreie Wege zu gehen, z.B. beim „Marsch für die Rückkehr“ 2018, und hatte hunderte Tote und tausende Verletzte als Folge der israelischen Gewalt zu beklagen.

Das Verständnis für die Logik der Gewalt befreit vom Impuls der Parteinahme. Neben der Parteilichkeit für die Opfer brauchen wir die Parteilichkeit für den Ausstieg aus der Gewalteskalation und aus den Rachezyklen. Als Menschheit sollten wir im 21. Jahrhundert schon weiter sein, und es ist kollektiv beschämend, dass wir es nicht sind.

Zum Weiterlesen:
Über die Notwendigkeit und die Grenzen der Parteinahme
Parteilichkeit verstärkt die Gewalt