Mittwoch, 28. Dezember 2022

Die pädagogische Neugier

Die Neugier ist der beste Antrieb für das Lernen und für das Lehren. Eine besondere Begabung im Lehren liegt darin, die Neugier in den Herzen der Schüler entfachen zu können. Die „Gier“ nach dem Neuen ist ein Bewusstseinszustand, in dem wir in Aufregung geraten und Begeisterung spüren. Es ist der Drang, aus Gewohnheiten auszubrechen und Abenteuer zu erleben – Abenteuer im Außen durch neue Umgebungen oder neue Tätigkeiten oder Abenteuer im Inneren durch neue Erkenntnisse und Wissensinhalte. Wir suchen diese angenehme Spannung und genießen die Erwartung und Vorfreude, die schon vorher auftritt. Auch das Gehirn gerät in Aufregung und schüttet dabei viel Dopamin aus. Es handelt sich um die Impulse zum Wachsen, zum Eindringen in die Realität, zum Durchbrechen von Widerständen, zum Erobern von Neuland, die die leuchtenden Augen der Neugier hervorrufen. 

Neugierige Schüler sind ein Vergnügen und eine Freude für jede Pädagogin, sie sind dankbar für alles, was sie aus ihrem Überschuss an Kenntnissen anbietet und greifen es bereitwillig auf, um etwas Eigenes daraus zu machen. Es ist die Freude am Lernen, die die größte Freude im Lehren darstellt.

Lehren mit Neugier

Die Neugier ist deshalb nicht nur das optimale Milieu für Lernen, sondern auch für das Lehren. Was die Lehre lohnend macht, ist die Freude am Neuen, das im Inneren der Schüler eingepflanzt wird und zu sprießen beginnt. Gewissermaßen erschafft das erfolgreiche Lehren eine neue Schülerperson. Die größte Freude sollte es sein, wenn der Endzweck der Lehre erreicht ist, wenn also der Schüler aufhört, Schüler zu sein, weil er alles weiß, was es in dieser Lehre zu wissen gibt. Der Endzweck der Lehrer-Schüler-Beziehung ist ihre Auflösung, aus der Komplementarität der Rollen wird eine symmetrische Begegnung auf Augenhöhe.

Jede Lehrsituation ist neu und beinhaltet eine neue Lektion für die Lehrperson. Jeder Mensch ist anders, und deshalb ist auch jedes Lernen anders. Den pädagogischen Eros in jeder neuen Schülerin zu entfachen, stellt eine beständige Herausforderung dar, die das Lehren zu einem kreativen Prozess macht. Es muss also für jede Schülerin oder für jede Schülergruppe eine neue Lehre, eine neue Form des Unterrichts erfunden werden, die auf die Voraussetzungen und Bedürfnisse der Schülerinnen möglichst genau eingeht, sie also dort abholt, wo sie gerade sind.

Kommunikation auf der unbewussten Ebene

Das Geheimnis des Lehrens liegt demnach darin, einen Resonanzraum zu erschaffen, in dem die Lehrerin auf einer unbewussten Ebene mitbekommt, was die Schülerin braucht, damit sie in ihrem Lernprozess weiterkommt. Ein guter Tanzlehrer sieht, auf welche Weise sich die Schülerin blockiert und was sie braucht, damit sie diese Hemmung überwinden kann. Eine gute Klavierlehrerin erkennt, welches Musikstück den Schüler begeistert und zum Üben motiviert. 

In dieser Hinsicht gleicht die Pädagogik der Psychotherapie. Der Therapeut spricht gewissermaßen das aus, was ihm das Unterbewusste des Klienten mitteilt. Die Erfahrungen und Gefühle, die verdrängt sind, weil sie irgendwann nicht verarbeitet werden konnten, werden in dem vertrauensvollen Raum, der in der Therapie entsteht, auf den Therapeuten übertragen, der sie dann spüren und ausdrücken kann. Dadurch fühlt sich der Klient tiefer verstanden und kann einen Schritt in der inneren Entwicklung weitergehen. Auch in der Pädagogik geht es darum, sich auf die Schüler einzuschwingen und die für das Fortschreiten des Lernprozesses wichtigen Informationen aus dem pädagogischen Feld, aus dem Resonanzraum zu gewinnen. Der unterschwellige Kommunikationsprozess, der auf dieser Ebene wirkt, macht den Zauber jeder gelungenen Therapie und jedes Lehr- und Unterrichtsvorgangs aus.

Wichtig zu betonen in diesem Zusammenhang ist, dass dieser geheimnisvolle Kanal nur offen ist, wenn die Atmosphäre zwischen Lehrerin und Schülerin entspannt und vertrauensvoll ist. Die gegenseitige Wertschätzung ist die Voraussetzung, dass sich das Unterbewusste der Schülerin zu Wort meldet und die Informationen preisgibt, die es erlauben, den Lernprozess fortzusetzen und zu vertiefen. Sobald sich Ängste oder Schamgefühle einmischen, versiegt dieser Informationsfluss.

Im Fluidum einer zugewandten und wertschätzenden pädagogischen Beziehung vollzieht sich das Lernen mit großer Leichtigkeit. Die Neugier wandelt sich nach ihrer Befriedigung in die Freude über das Gelernte um und meldet sich wieder für den nächsten Lernschritt. 

Jedes gelungene Lehren ist ein Erneuern, ein Neuerschaffen. Die Neugier setzt den Anfang, die Begeisterung liefert den Treibstoff und die Disziplin trägt durch den Prozess der Aneignung durch.

Man könnte auch sagen, dass die Lehrerin mit jedem Lehren, das auf fruchtbaren Boden gefallen ist, jünger wird, weil sie sich mit dem Neuen, Jungen, Aufbruchsbereiten und Abenteuerlustigen in den Schülern verbindet und daran teilhat. In dieser Verbindung entzündet sich das Feuer des pädagogischen Eros, das im günstigen Fall beide gleichermaßen erhellt und begeistert, die Lehrerin und die Schülerin. 

Zum Weiterlesen:
Die Neugier und die Kreativität
Gier und Neugier


Dienstag, 27. Dezember 2022

Die Neugier und die Kreativität

Die Neugier ist ein von jeder Scham befreiter Zustand. Sie führt uns in einen Zustand der Unschuld, der uns an unsere Anfänge auf dieser Welt erinnert – diese faszinierende Welt, die wir einst mit staunenden Augen und Ohren erschlossen haben. Und wir erschließen noch immer, solange die Neugier in uns waltet. Es ist der Kontakt mit einer Welt voll von Wundern und Rätseln, voll von Mysterien und Schönheiten. 

Die Neugier ist der Schlüssel zur Kreativität, die sich ja nur entfalten kann, wenn die Scham überwunden ist. Sie bricht aus Gewohnheiten des Erlebens und Denkens aus und überwindet die Schranken, die mit jeder Gewohnheit errichtet werden.

Das Korsett der Gewohnheiten

Das erwachsene Leben besteht zu großen Teilen aus einer Aneinanderreihung von Gewohnheiten, die nur selten von angenehmen oder unangenehmen Überraschungen unterbrochen werden und auf die wir meist mit der Errichtung neuer Gewohnheiten reagieren. Sobald eine Lücke im Netz der Sicherheiten, die wir um uns errichtet haben, auftaucht, wollen wir es stopfen. Auf diese Weise streben wir nach der Absicherung unserer Sicherheit, sobald uns etwas verunsichert. 

Die Kehrseite der Ritualisierung des Lebens bildet die Langeweile, die uns befällt, wenn wir merken, dass wir in einem Korsett der Gewohnheiten gefangen sind und uns nicht mehr wohl fühlen. Wo bleibt die Abwechslung, wo bleibt das Neue? Wie kommen wir heraus aus der Eintönigkeit der Gewohnheiten? 

Viele Möglichkeiten bietet die Welt des Konsums, die realen und virtuellen Schaufenster in ihrer Pracht und Üppigkeit, die uns zum Einkaufen verlocken wollen. Sie versprechen uns das Neue, das wir noch nicht kennen und dessen Reize wir noch nicht ausgekostet haben. Wir kaufen uns die Kreativität anderer Menschen oder künstlicher Intelligenzen, um der Langeweile für kurze Zeit zu entfliehen. Schnell gewöhnen wir uns an die neuen Güter, sie werden eingereiht in das Inventar unserer Absicherungsgewohnheiten. 

Die nächsten Möglichkeiten gibt es in den weiten Feldern der Unterhaltungsindustrie, die uns wiederum mit Produkten fremder Kreativität zum Konsumieren verleiten möchte. Der nächste Blockbuster verspricht einige Zeit Spannung und Nervenkitzel, die nächste Serie will uns mit ihren Beziehungsdramen fesseln, das nächste Kurzvideo soll uns zu kurzzeitiger Heiterkeit bringen. Auch in diesen Bereichen wirkt die Macht der Gewohnheit und die Langeweile kommt verlässlich zurück. 

Schule der Neugier

Wie entrinnen wir der Pendelbewegung zwischen Gewohnheit und Reizsuche? Die Frage lautet auch: Wie finden wir unsere eigene Kreativität? Wie kommen wir in den Zustand schöpferischen Fließens, der uns in eine Welt jenseits der Gewohnheiten führt?

Ein verlässlicher Weg besteht darin, dass wir unsere Neugier aktiv halten, kultivieren und selbst zu einer Gewohnheit machen. Statt uns im Trott von Alltagsgedanken und Verhaltensgewohnheiten zu verlieren, können wir unsere achtsame Wahrnehmung nutzen, um in unserer Umwelt Neues zu entdecken. Selbst Wege, die wir täglich beschreiten, enthalten Elemente, die wir noch nie gesehen haben. Musikstücke, die wir immer wieder hören, können neue Stimmungen wecken, wenn wir aus darauf einstellen, sie auf eine neue Weise zu hören. Formen der Bewegung, die wir uns angewohnt haben, können wir erneuern, indem wir sie anders machen. Wir können z.B. anders gehen als wir es üblicherweise tun. Selbst jeden Atemzug können wir in seiner Neuheit entdecken. Wir können die Idee des Tanzes, also der freien Bewegung, in viele Abläufe unseres Lebens hineinbringen und dadurch in jedem Moment eine Abwechslung erschaffen. 

Die Neugier ist bei all diesen kreativen Impulsen beteiligt und wird durch sie gefördert. Wir steigern unsere Lebenslust, sobald wir das Fließen der Energie wahrnehmen, die mit dem beständigen Neuerfinden unseres Lebens verbunden ist.

Wir können davon ausgehen, dass solche achtsamen Flexibilitätsübungen unsere Neugier fördern und unser Gehirn motivieren, neue Ideen zu produzieren. In der Psychologie wird dieser Vorgang als divergierendes Denken bezeichnet, also ein Denken, das nicht irgendwelchen bekannten Bahnen folgt, sondern völlig neue Assoziationen und Kombinationen hervorbringt. Es kommt zustande, wenn wir gut gelaunt, entspannt und in einem dopaminreichen Zustand sind. Diesen Zustand können wir mit verschiedenen Pillen oder Drogen herbeiführen, die immer auch Nebenwirkungen haben. Natürlicher und risikofrei ist es, wenn wir uns immer wieder einer offenen Beobachtungsmeditation (open monitoring meditation, im Yoga auch als Yoga Nidra bekannt) widmen. 

Eine Studie konnte nachweisen, dass diese Meditationsform den Dopaminlevel um 65 % steigern kann. Damit wird ein optimaler Zustand hergestellt, in dem dann das divergierende Denken stattfinden kann. Die Meditationsübung besteht darin, im Liegen möglichst ohne Bewegung einfach kommen und gehen lassen, was aufsteigt. Die Übung kann man 10 – 60 Minuten lang machen. Da sich der Körper nicht bewegt, produziert das Gehirn vermehrt Bilder, die aus der visuellen Erinnerung kommen. Zugleich wird das autobiografische Gedächtnis, das Erinnerungen untereinander vergleicht, reduziert und es entsteht ein Bewusstseinszustand, der für das divergierende Denken optimal ist. 

Zum Weiterlesen:
Gier und Neugier
Dopamin und unsere Anfälligkeit für Verführung

 

Mittwoch, 21. Dezember 2022

Überlegungen zur Sinnfrage

Was ist der Sinn des Lebens? Zu Festtagen oder zum Jahreswechsel besinnen wir uns manchmal auf diese ehrwürdige Frage, die uns als Schlüsselfrage für unser Dasein erscheint. Denn ohne Sinn können wir doch nicht leben.

Wir wollen ein sinnvolles und kein sinnloses Leben führen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir uns mit dem Sinn des Lebens beschäftigen. Woran können wir also sinnloses und sinnvolles Tun unterscheiden?

Die Sinnfrage bei Viktor Frankl 

Lassen wir zunächst Viktor Frankl, den berühmten Experten für die Sinnfrage, zu Wort kommen:

„Der Sinn des Augenblicks motiviert den Einzelnen zu seiner individuellen Stellungnahme gegenüber einer Anfrage des Lebens. Indem er den Sinn in einer Lebenslage wahrnimmt, sich für eine bestimmte Sinnmöglichkeit entscheidet und dann den konkreten Sinn in der Situation in der Verwirklichung eines Wertes herausarbeitet, erlebt oder in eine Haltung gegenüber der Lage umsetzt, aktualisiert er seine Verantwortlichkeit. Die gelingt, wenn Sinn traditionsunabhängig und bedingungslos in jeder Lebenslage gegeben ist.“ (Der Wille zum Sinn, S. 25)

Frankl trifft in diesem Text ein paar Annahmen. Nach ihm enthalten Augenblicke oder Lebenslagen einen Sinn, der ihnen entnommen werden kann. Weiters nimmt er an, dass wir uns fortlaufend für einen bestimmten Sinn entscheiden und diesen Sinn dann in unserem Tun verwirklichen. Diese Allgegenwärtigkeit des Sinns zeigt sich auch in diesem Zitat: „Wovon der Mensch zutiefst und zuletzt durchdrungen ist, ist weder der Wille zur Macht, noch ein Wille zur Lust, sondern ein Wille zum Sinn.“ (Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, S. 101)

Könnte es sein, dass „der Sinn“ nach Frankl einfach dem, was wir tun oder nicht tun, eine Nullstelle hinzufügt und auf diese Weise nur scheinbar Bedeutendes sagt? Menschen handeln nach ihrem Gutdünken, d.h. nach dem, was ihnen im gegebenen Moment am nächsten liegt. Jemand nimmt sich vor, einen Tag gesund zu leben. Er kommt bei einem Eissalon vorbei und kauft sich ein Eis, wissend, dass es nicht zu seinen Vorstellungen von gesunder Ernährung passt. Im Moment des Anblicks des angebotenen Eises hat sich das Motiv des Genusses vorgedrängt und die vorher getroffene Absicht überlagert. Nach der Sinntheorie ist das Eisessen das Sinnvollste, was getan werden konnte. Vielleicht war es nach der Auffassung der betreffenden Person auch unsinnig, vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich hat er das Eis genossen, ohne sich den Kopf über die Sinnfrage zu zerbrechen. Vielleicht war er unglücklich über die Vernachlässigung des Vorsatzes, was ihm den Genuss geschmälert haben könnte. Was auch immer im Inneren des Eisessers abgelaufen ist, es scheint die Annahme berechtigt, dass die Sinnfrage dabei keine oder höchstens eine ganz untergeordnete Rolle gespielt hat.

Hat alles seinen Sinn?

Wir kommen damit zur oft gehörten Aussage, dass alles, was geschieht, einen Sinn hat. Diese Aussage benötigt allerdings für die Praxis eine Einschränkung: Alles, was wir erleben, hat einen Sinn. Und sie braucht auch eine Erweiterung: Alles, was wir erleben, hat einen Sinn, weil oder wenn wir ihm einen geben. Zunächst sind Ereignisse einfach nur Ereignisse (der Regen fällt). Aber wir sind bedeutungsgebende Wesen, die alles, was in unserem Erleben geschieht und was wir bewusst wahrnehmen, mit einer Bedeutung versehen, z.B. die Bedeutung, dass uns der Regen abkühlt oder dass er uns an einer Freizeitaktivität hindert, oder, um auf das vorige Beispiel zurückzukommen, die Bedeutung, zum Genuss ein Eis zu essen oder aus Gesundheitsbewusstsein darauf zu verzichten. Wir können nichts erleben, ohne dass wir dem Erlebten eine Bedeutung geben. In dieser Hinsicht laufen wir als bedeutungs- und, wenn wir so wollen, sinngebende Wesen durch die Welt und können gar nicht anders. Selbst Psychotiker tun das, nur auf ungewöhnliche Weise.

Man könnte natürlich behaupten, dass die Abläufe und Dinge der Realität „in sich“ einen Sinn tragen. Doch kommen wir damit ins Reich der Spekulation. Die Frage, ob es einen Sinn „an sich“, also nicht nur „für uns“ gibt, führt zu Glaubensthemen, weil die Annahme, dass die Welt von Sinn erfüllt ist, eine Instanz benötigt, die diesen Sinn stiftet. Das kann eben keine Instanz sein, die Teil dieser Welt ist und die deshalb in der Erfahrung nicht auftaucht, sondern nur im Zusammenhang mit einer Glaubensentscheidung zugänglich wird.

Sinn und Bedeutung

Vielleicht liegt der Hauptunterschied zwischen Sinn und Bedeutung darin, dass „Sinn“ „bedeutungsvoller“ klingt als „Bedeutung“. Bei dem, was in unserer Erfahrung geschieht, dürfte es keinen Unterschied machen. Noch abstrakter und unspektakulärer ausgedrückt, kontextualisieren wir unsere Erfahrungen und nutzen dafür zumeist Bewertungsmaßstäbe, z.B. gefällt/gefällt nicht, sicher/unsicher usw. Wir hängen also an alles, was wir erleben, sinnstiftende Markierungen an und navigieren auf diese Weise durch unser Leben. So mannigfaltig, wie unsere Erfahrungen sind, so unterschiedlich sind auch unsere Bedeutungs- oder Sinngebungen und sie wechseln von Moment zu Moment.

Gefühle der Sinnlosigkeit

Wir haben Gefühle der Sinnlosigkeit bei versäumten Gelegenheiten, z.B. wenn ein Gespräch nicht zum erwarteten Ziel geführt hat, oder wenn wir ein Geschäft aufgesucht haben und den Artikel, den wir wollten, nicht bekommen haben, wenn wir einen sonnigen Urlaub gebucht haben und in einem Regenloch gelandet sind, erleben wir diese Frustrationen als sinnlose Aktionen, vergeudete Zeiten und Gelegenheiten. Aber wir verzweifeln nicht gleich am Ganzen unseres Lebens. Wir akzeptieren nur das nicht, was passiert ist und hätten es uns anders gewünscht. Dass wir solche Handlungen als sinnlos beschreiben, hat damit zu tun, dass wir gerade keinen Sinn in ihnen finden können. Falls wir später daran denken, fällt uns manchmal zu solchen Situationen noch ein Sinn ein.

Sinngebung und Werte

Hinter der Sinnfrage stecken die Werte, die uns wichtig sind und nach denen wir unser Leben ausrichten wollen. Wenn wir mit diesen Werten im Einklang sind, haben wir den Eindruck, dass unser Leben auf eine besondere Weise sinnvoll ist. Wir nehmen wahr, dass wir einen besonderen Beitrag zur Welt leisten, der zur Verbesserung der Zustände beiträgt. Werden wir diesen Werten untreu, so meldet sich die Scham. Als Idealitätsscham gibt sie uns Aufschluss darüber, inwieweit wir unseren eigenen Vorstellungen vom Leben gerecht werden. Wenn wir sie erkennen und annehmen, führt sie uns zurück auf unseren Weg. In dieser Hinsicht finden wir unseren Lebenssinn in der Übereinstimmung zwischen unseren Werten und dem, was wir tun, denken und fühlen.

Der Sinn des ganzen Lebens

Was nun, wenn wir von den Details des Lebens zu seiner Ganzheit gehen und nach dem Sinn des ganzen Lebens fragen? Können wir auf diese Frage andere Antworten geben als Gemeinplätze? Wenn der Sinn von Augenblick zu Augenblick ein anderer wird, lässt sich daraus ein übergeordneter Sinn ableiten?

Klar ist, dass es den Sinn des Lebens nicht wie ein Ding gibt, klar ist deshalb auch, dass wir ihn nicht wie ein Ding besitzen können. Was heißt aber das, was wir immer wieder hören: Da es den Sinn nicht einfach gibt, müssen wir ihn finden. Also fangen wir an zu suchen. Es gibt viele Bücher, die sich diesem Thema widmen und zu verschiedenen Schlüssen kommen. Z.B schreibt der Dalai Lama: Der Sinn des Lebens besteht darin, glücklich zu sein. Heißt das also, dass ein Leben, das nicht glücklich verläuft, sinnlos ist? Und ist das Glück etwas, das wir so einfach gewinnen können, etwas, worauf es eine Garantie gibt? 

Sicher nicht, das Glück ist volatiler als der Kurs einer Kryptowährung, es erfüllt uns manchmal, um dann ganz schnell wieder zu verschwinden. Es gibt zwar Praktiken, die uns dabei helfen können, unseren Glückszuständen mehr Beständigkeit zu verleihen. Aber auch bei der besten Meditationsform oder mit dem besten Meister gibt es keine Sicherheit, zu den ersehnten inneren Zuständen zu gelangen. Wäre dann das ganze Meditieren sinnlos, wenn wir nicht zur Erleuchtung oder in ihre Nähe gelangen? Meditation ist immer gut und führt uns näher zu unserem inneren Wesen.

Der Sinn des ganzen Lebens ist nicht zu fassen, denn es gibt keinen Zeitpunkt, an dem wir ein stimmiges Resümee ziehen könnten. Manche meinen, die Zeit kurz vor dem Tod würde uns eine derartige Zusammenfassung bieten, doch kennen wir viele Sterbeprozesse, in denen es solche profunde Einsichten nicht gibt, sondern ein schweres Leiden im Vordergrund steht. Außerdem ist es fraglich, worin der Wert einer Summe des eigenen Lebens bestehen könnte, die ja auch nur Highlights oder Marksteine umfassen kann und vieles auslassen muss, was es sonst noch an Erfahrungen gegeben hat.

Man könnte deshalb sagen, dass der Sinn des Lebens ein Mysterium ist, das wir bestaunen und bewundern, aber letztlich nicht verstehen können und auch nicht verstehen müssen. Wir wissen nicht, wie wir in dieses Leben gekommen sind, und wir wissen nicht, wie wir es verlassen werden. Dazwischen wissen wir einiges über die Abläufe und Zusammenhänge in diesem Leben, ohne jemals einen Einblick in seine Gesamtheit zu gewinnen. Wofür auch sollte uns das weiterhelfen? 

Zum Weiterlesen:
Du musst dein Leben nicht verstehen
Vom Anfang und Ende der Sinnfrage
Geschehenlassen und Funktionieren
Die Krisen und der Sinn


Sonntag, 18. Dezember 2022

Du musst dein Leben nicht verstehen

„Du musst dein Leben nicht verstehen“, schreibt Rainer Maria Rilke in einem Gedicht, und setzt fort: „dann wird es werden wie ein Fest“.

Wenn wir nicht verstehen, was abläuft, fühlen wir uns verunsichert und irritiert. Wir haben keinen Plan und können auch mit dem Plan, den unser Leben mit uns vorhat, nichts anfangen. Wir fühlen uns ohnmächtig einem Geschehen ausgeliefert, das wir nicht kontrollieren können. Wir wollen also verstehen, was unser Leben ausmacht. 

Was meint jedoch der Dichter mit diesem Satz? Er erinnert daran, dass Kinder ihr Leben nicht verstehen, sondern leben wollen: „Und lass dir jeden Tag geschehen, so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen sich viele Blüten schenken lässt.“ Er regt an, dass wir die kindliche Unbefangenheit und Spontaneität zurückholen, die wir im Lauf des Erwachsenwerdens so gründlich verloren haben. Der „Ernst des Lebens“, vor dem wir als Kinder immer wieder gewarnt wurden, wäre das „eigentliche“ Leben, auf das wir hinstreben sollten. Die ganze Kindheit ist dann nur eine Vorbereitung auf diesen Lebensmodus. Alles Kindliche müsse so rasch wie möglich überwunden werden, damit wir uns in diesem ernsten Leben bewähren und behaupten können.

Spaß und Ernst

Der Gegensatz zwischen Spiel und Ernst kennzeichnet in dieser Auffassung die Grenze zwischen der Kinder- und der Erwachsenenwelt. Wenn Erwachsene spielen, dann machen sie das mit schlechtem Gewissen und fühlen sich kindisch. Unschwer erkennen wir in dieser Haltung die Prägung durch die kapitalistische Ideologie. Jede Tätigkeit, die nichts mit Produktion „im Schweiße des Angesichts“ zu tun hat, ist nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich, weil sie unseren Status und unsere Sicherheit in diesem System gefährden könnte. Wir dürfen uns keine Schwäche leisten und müssen immer am Ball bleiben. Wir brauchen also die maximale Kontrolle über unsere Lebensumstände und über unsere Handlungen. Jeder Kontrollmangel oder Kontrollverlust führt dann schnell zur Panik. Wir müssen so viel wie möglich von den Zusammenhängen verstehen, in denen wir tätig sind, einschließlich der Zusammenhänge in uns selber, die für unsere Leistungsmotivation zuständig sind.

Da erscheinen uns die Worte des Dichters als weltfremd, wenn nicht gar bedrohlich. Andererseits wecken sie auch die Sehnsucht, aus dem Treiben und Getriebensein des Wirtschaftsmolochs auszusteigen und ein anderes Leben zu beginnen. Wir hören von Menschen, die den Brokerjob hinschmeißen und Schafhirten werden. Wir spüren die unmenschlichen Züge des Systems, in das wir eingespannt sind und suchen eine Form des Menschseins, in der wir uns entspannen können. 

Die Logik der Produkion

Eine Klientin beklagt sich, dass sie mitten in der Woche krank wird und nicht am Wochenende. Sie befürchtet, dass sie ihren Job verlieren könnte, wenn sie zu oft krank wird – obwohl sie nur selten krank wird. Sobald das Optimum an Leistung, das vom System erwartet wird, nicht erbracht werden kann, meldet sich die Existenzangst.

Wir tun so, als ob wir das Leben verstehen würden, indem wir der Logik unserer Überlebensprogramme folgen. Diese Programme sind aus Traumatisierungen gespeichert, individuelle und kollektive. Das kapitalistische Szenario hat sich mit der Macht von kollektiven Traumen in den Seelen der Menschen eingenistet, sodass es wie eine zweite Natur geworden ist, die von Angst beherrscht wird und zum Kontrollzwang führt. Wir merken gar nicht, dass wir einem Lebensverständnis folgen, das von einem Bewusstsein geleitet ist, das am weitesten von dem entfernt ist, was unsere menschliche Natur ausmacht. 

Gerade deshalb erscheint die Vorstellung, das Leben als kontinuierliches Fest zu feiern statt es zu verstehen, so lebensfremd und absurd. Doch indem wir meinen, das Leben zu verstehen, merken wir nicht, dass wir nur vorgeprägte Angststrukturen wiederkäuen.

Bruchstückhaftes Verstehen

Ein Charakteristikum von Traumaerfahrungen besteht darin, dass im Traumamoment die bestehenden Lebenszusammenhänge zerfallen und zu Fragmenten werden, die nur als Bruchstücke Sinn ergeben. Kollektive Traumen wie das Kapitalismustrauma können deshalb nur einen bruchstückhaften Sinn vermitteln, der aus einem Überlebenswissen stammt. Sinn macht das, was das Überleben in diesem System möglich macht. Wenn wir uns im Bann des Traumas befinden, erkennen wir die Relativität nicht, sondern erleben diesen Sinn als umfassend und zwingend. Wir merken nicht, dass es sich um eine Ideologie handelt, die wir für wahr halten. Vielmehr glauben wir, dass die Welt so funktioniert und dass alle anderen Menschen das gleiche Verständnis haben. Vor diesem Hintergrund meinen wir, dass es um uns geschehen ist, wenn wir wieder, wie es im Evangelium heißt, wie die Kinder werden. Ja, es ist schon um uns geschehen, wenn wir ein wenig Schwäche zeigen wie es bei einer Krankheit der Fall ist.

Die Freiheit vom Verstehen

Der Zwang zum Verstehen ist das, was in dem Gedicht von Rilke bewusst gemacht wird. „Das Leben verstehen“ ist in unserem Verstand immer fragmentarisch, vorläufig und relativ. Es sind Konzepte, die wir unseren Lebensabläufen anheften, von denen wir annehmen, dass sie uns die Orientierung erleichtern. Meist stammen diese Konzepte aus traumatischen Erfahrungen, sodass ihr Wert auf diese Erfahrungen beschränkt ist. Deshalb ist es wichtig, die Wurzeln unserer Lebenskonzepte zu kennen, sodass wir die Spreu vom Weizen trennen können. Auf alle Konzepte, in denen Angst enthalten ist, können wir getrost verzichten. Sie sind nicht nützlich und erklären auch nichts von der aktuellen Welt. 

Das Leben verläuft, wie es verläuft. Wir erleben ruhigere und heftigere Zeiten, haben angenehmere und unangenehmere Erlebnisse, verstehen manchmal mehr, manchmal weniger davon. Nehmen wir uns die Anregung des Dichters zu Herzen, so finden wir in jedem Moment einen prächtigen Anlass zum Feiern.

Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.


Samstag, 17. Dezember 2022

Die Freudenscham

Es gibt sie, obwohl das Wort sehr seltsam klingt: Die Freudenscham. Freude und Scham haben ja so gar nichts miteinander zu tun: Wenn wir uns schämen, sind wir weit weg von der Freude; wenn wir uns freuen, plagt uns keine Scham. Dennoch gibt es das Phänomen, dass auf das Erleben von Freude die Scham folgt. Eine Klientin berichtet: „Neulich habe ich ohne jeden Grund Freude empfunden. Da habe ich mir gleich gedacht, mit mir stimmt etwas nicht.“ Die Annahme ist, dass Freude nur dann normal und berechtigt ist, wenn es einen Anlass gibt. Wir dürfen uns freuen, wenn wir einen Grund für unsere Freude benennen können, sonst könnte es sein, dass wir nicht ganz richtig sind im Kopf. 

Ein anderes Beispiel: Freude empfinden, wenn es anderen schlecht geht. Natürlich ist es eine unsoziale Reaktion, wenn wir uns über das Leid anderer Menschen freuen. Aber müssen wir selber leiden, wenn andere leiden? Müssen wir mitleiden, um als liebevolle Mitmenschen zu gelten? Sind wir unsolidarisch, wenn wir nicht ins Leid der Mitmenschen hineinkippen? Das Leid von anderen Menschen sollte uns nicht egal sein, aber wir müssen es nicht übernehmen, im Gegenteil, wir können besser für eine leidende Person da sein, wenn es uns selber gut geht. Wir müssen unseren Zustand nicht für den Zustand anderer Menschen opfern, sondern haben uns selber gegenüber das Recht und sogar die Pflicht, in guter Energie zu bleiben, wenn sie uns gerade geschenkt wurde, gleich, wie es jemand anderen geht.  

Der Zwang zum Verzicht auf die eigene Freude ist erlernt. Es kommt immer wieder vor, dass trübsinnige oder schwer belastete Eltern ihren Kindern die Freude austreiben. Entweder verbieten sie den Kindern, ihrer Lebensfreude Ausdruck zu verleihen, oder sie reagieren nicht oder missmutig auf Freudenkundgebungen der Kinder. So oder so verlieren die Kinder den Spaß an ihrer Freude und entwickeln ein schlechtes Gewissen, wenn es ihnen gut geht. Sie erlernen, mit den leidenden Eltern zu leiden und die eigenen Wohlgefühle zu unterdrücken. Freude darf es nur geben, wenn sich auch die Eltern freuen, sonst ist sie eine Fehlreaktion, die unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen kann. In diesem unbewusst ablaufenden Lernprozess wird die Scham der Freude vorgeordnet, sodass sie sich sogleich meldet, wenn ein Impuls zur Freude hochkommt. 

Es ist also die Scham, die uns unsere Freude verleidet und uns zum Mitleiden drängt. Wir glauben, dass wir der leidenden Person unser eigenes schlechtes Gefühl schulden. Also kippen wir ins Leid dieses Menschen. Die Identifikation mit dem Leid von Mitmenschen bedeutet, dass wir uns selber untreu werden, was wiederum eine Schamreaktion zur Folge hat. Wir haben uns also selber in eine Schamfalle manövriert. Lassen wir es uns gut gehen, obwohl es jemand anderen schlecht geht, schämen wir uns. Leiden wir mit der anderen Person mit, schämen wir uns auch. 

Der Ausweg aus der Falle zeigt sich, sobald wir unser Augenmerk auf die Ursprünge des Anspruchs, mitleiden zu müssen, richten. Es handelt sich dabei nicht um eine spontane, sondern um eine erlernte oder konditionierte Reaktion. In unserem Umfeld als Kind waren Leidenszustände besonders präsent, von einem Elternteil, einem Geschwister oder einem nahen Verwandten; manchmal handelt es sich um ein Leid, das in einer noch früheren Generation entstanden ist und wie ein schwerer Schatten über der Familie liegt. In solchen Fällen geschieht das Aufwachsen in einer gedrückten Atmosphäre, in der die Freude verpönt ist. Wer sich freut, vergisst oder ignoriert das Leid, das so zentral beachtet werden muss und gewissermaßen den Kitt der Familie ausmacht.  

Die Präsenz des Leidens kann sich in zweierlei Weise zeigen: entweder daran, dass dauernd darüber geredet wird oder dass es völlig verschwiegen wird und aus dem Unterbewussten heraus wirksam ist. Kleine Kinder sind sensibel für alles, was es an unbewussten Abläufen in der Familie gibt, und sie reagieren darauf, indem sie sich anpassen. Die Freudenscham ist eine solche Anpassungsstrategie, mit der die eigene Lebensfreude in ihrer Spontaneität verschwindet und zu einem ambivalenten Gefühl wird.  

Die Freude über und am Leben ist ein natürlicher Zustand, der uns auf allen Ebenen unseres Seins guttut, körperlich, seelisch, geistig. Dass wir uns das Geburtsrecht auf unsere Fröhlichkeit, Leichtigkeit und auf unseren unbeschwerten Lebensgenuss zurückholen, ist das Beste, was wir uns selber gönnen können und sollten. Dazu müssen wir uns lossagen von den Schamfallen, die um diese Gefühle herum entstanden sind und uns unser Geburtsrecht auf die unbeschwerte Lebensfreude zurückholen. 

Zum Weiterlesen:
Mitgefühl und Mitleid: Eine wichtige Unterscheidung
Das Mitgefühl zwischen Helfersyndrom und Gleichgültigkeit 
Gibt es Grenzen des Mitgefühls?
Mitgefühl hat keine Grenzen
Mitgefühl mit uns selbst
Das Mitgefühl und das schlechte Gewissen


Donnerstag, 8. Dezember 2022

Mitgefühl und Mitleid: Eine wichtige Unterscheidung

Das Mitleid gilt herkömmlich als Tugend, die der Selbstsucht und Selbstzentriertheit entgegenwirken soll. Als Menschen sind wir grundsätzlich auf soziale Verständigung und sozialen Ausgleich gepolt. Wir sind Gruppenwesen, die ohne die feine Abstimmung und das emotionale Aufeinander-Eingehen nicht überleben könnten. Mitleiden hieße, das Leid einer anderen Person mit ihr zu teilen und ihr damit das Gefühl zu geben, dass sie nicht alleine mit ihrem schlechten Gefühl ist. 

Genauer betrachtet, passiert beim Mitleiden nicht die beabsichtigte Grenzüberschreitung ins Leidensland der anderen Person, sondern eine Distanzierung zu ihr. Denn in dem Maß, in dem das Mit-Leiden wächst, wandert die Aufmerksamkeit zum eigenen Leid, das aus der Geschichte aufsteigt. Das Leid, mit dem wir konfrontiert sind, erinnert an eigenes Leid aus der Vergangenheit, und diese reproduzierten Gefühle werden von der Seele wichtiger genommen als das fremde Leid. Ohne es zu merken, schneidet sich die mitleidende Person vom anderen ab und versinkt in der eigenen Leidensgeschichte. Mitleid wird zu Selbstmitleid. Dabei schwinden die Fähigkeiten zu trösten, zu helfen und zu unterstützen, weil sie für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leid gebraucht werden. 

Hilfreichen Beistand können wir nur leisten, wenn wir zum Leiden, das vor uns auftaucht, einen angemessenen Abstand haben. Lassen wir das Leid zu nahe an uns ran, dann wächst die Gefahr, dass das eigene Leid aktiviert wird und sich vordrängt, sodass wir erst wieder nur auf uns selbst bezogen sind. Mitleid ist deshalb immer ich-bezogen, obwohl wir meinen, es wäre ein sozialer Akt. 

Halten wir andererseits zu viel Distanz, so schotten wir uns ab: Nach außen und nach Innen. Wir kappen die Verbindung zu den anderen Menschen und zu unseren Gefühlen. Folglich fühlt sich die andere Person im Regen stehen gelassen und wir fühlen uns leer, bitter oder hart. Die Verschlossenheit vor dem Leid von anderen wird eben vor allem durch die Angst aufrechterhalten, ins eigene Leid zu kippen, und nicht durch die Sorge, vom Leid des anderen Menschen überwältigt zu werden.  

Das weite Feld des Mitgefühls 

Zwischen emotionalem Rückzug und Leidensversenkung gibt es allerdings ein breites Feld, auf dem sich das Mitgefühl aufhält. Das Mitgefühl hält die Waage zwischen dem Selbst und dem Anderen, es speist sich aus der eigenen Leidenserfahrung, ohne aber in der eigenen Lebensgeschichte zu regredieren. Es ist umso stärker zugänglich, je mehr Leidensthemen aus der eigenen Lebensgeschichte aufgearbeitet wurden. 

Die Fähigkeit, Mitleid und Mitgefühl unterscheiden zu können, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für jede Form von heilender Arbeit mit Menschen. Es kommt hierbei immer zu einer Auseinandersetzung mit Leidenszuständen. Heilung kann aber nur entstehen, wenn die Offenheit und das Empfangen des Leides gegeben werden können, während andererseits das Leid aus der eigenen Geschichte beiseite gestellt wird. Das Mitgefühl erwächst aus einem ressourcenvollen Zustand, nicht aus einem Leidenszustand.

Auch für das Leben und Arbeiten mit Kindern ist die Unterscheidungsfähigkeit zentral, sei es in der Eltern-, in der Kindergärtnerinnen- oder in der Lehrerinnenrolle. Kinder brauchen kein Mitleiden, sondern ein fürsorgliches Mitgefühl.  Werden sie zu stark mit Mitleid konfrontiert, so entwickeln sie Schuldgefühle. Sie brauchen Eltern und Erzieher, die mit ihrem Leid soweit im Reinen sind, dass sie es von den Kindern fernhalten können.  

Das Wegnehmen des Leids 

Eine verbreitete Form, Mitleid zu bekunden, besteht darin, zu erzählen, dass man das Problem, an dem die andere Person leidet, aus der eigenen Erfahrung kennt. Damit soll signalisiert werden, dass diese Form des Leids bekannt ist und dass sich die leidende Person in Gesellschaft Gleichbetroffener befindet, also nicht allein mit ihrem Problem ist. Wenn man sich aber dann in der Schilderung der eigenen Geschichte ergeht, mit der heimlichen und unbewussten Intention, dafür Verständnis und Trost zu bekommen, bleiben Trost und Zuwendung auf der Strecke. Ohne es zu merken, wird der Person deren Leid weggenommen und das eigene in den Mittelpunkt gestellt. Statt Verständnis und Mitgefühl zu zeigen, wird der anderen Person signalisiert, dass ihr Leid weniger wichtiger ist als das eigene. 

Solche Strategien entwickeln sich vor allem dann, wenn Eltern ihre Kinder als Empfänger für ihre eigenen Sorgen und Nöte auserkoren haben. Diese Form des emotionalen Missbrauchs wird dann später kompensiert, indem versucht wird, endlich jemanden zu finden, bei dem das eigene Leid verstanden wird. 

Die Mitleidskultur 

In einem Land, in dem Leiden allgegenwärtig mit dem gekreuzigten Jesus repräsentiert wird, ist es nicht verwunderlich, dass das Mitleiden einen derart breiten Raum einnimmt. Die Darstellung des leidenden Christi soll in das Mysterium um Tod und Auferstehung hineinführen, bleibt aber auf der Stufe des Leids stehen. Der Auferstandene, der den Tod überwunden hat, kommt demgegenüber in der Öffentlichkeit kaum vor. Die Omnipräsenz des Crucifixus, des ans Kreuz Genagelten, suggeriert die Allmacht des Leidens, des Opferseins und der Ohnmacht und fixiert damit ein eindimensionales Menschenbild. Die frohe Botschaft von der Befreiung von allem Leid und aller Sündhaftigkeit wird dagegen einmal jährlich im Ostergottesdienst vor spärlichen Gläubigen verkündet. Suggeriert wird zudem die Mahnung, dass es sich niemand zu gut gehen lassen sollte angesichts des Leidens des Erlösers, an das permanent erinnert wird. Niemand soll auf sein Leid vergessen, auch wenn es immer geringer ist als das des Erlösers. Suggeriert wird schließlich auch die Notwendigkeit des Mit-Leidens mit dem Jesus, der mit schmerzverzerrtem Gesicht dargestellt wird und damit Menschen mit ihrem Leid konfrontiert, außer jene, die sich an den Anblick gewohnt haben oder ihn nicht genau betrachten.  

Der Rückgang der Gläubigkeit und der Religionszugehörigkeit in der Gesellschaft kann auch damit zu tun haben, dass diese Suggestion des Leides und der Appell an das Mitleid immer weniger verfängt. Der Einfluss der Aufklärung, der Wissenschaften und der modernen Lebensweise mit ihren vielfältigen Absicherungen hat viele Quellen des Leides stillgelegt. Es gibt noch immer genug Leid auch in den hochentwickelten Gesellschaften, aber der Mitleidskult hat bei vielen Menschen ausgedient. Sie wollen sich nicht vorschreiben lassen, woran sie leiden oder wofür sie Mitleid spüren sollen. Sie suchen sich ihre eigenen Wege zur Sinnfindung und kehren den Kirchen ihren Rücken zu. 

Die christliche Tradition enthält auch den Zugang zum Mitgefühl im Sinn der Nächstenliebe und kennt dessen Praxis. Doch werden die Grenzen zwischen Mitgefühl und Mitleid oft schwimmend präsentiert und spiegeln auf diese Weise die gängige Erziehungspraxis wieder, die in vielen Familien vorherrscht. Die klare Unterscheidung zwischen diesen beiden Richtungen hilft auch dabei, das Christentum von Einstellungen zu befreien, die nichts mit der ursprünglichen Botschaft zu tun haben. 

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