Freitag, 20. August 2021

Aufklärung in Zeiten einer Pandemie

Bringt die aktuelle Krisensituation der Pandemie Fortschritte oder Rückschritte in Bezug auf das Projekt der Aufklärung? Die Befunde sind ambivalent, da sich neue Allianzen gebildet haben – Interessensgruppen, in denen sich politisch links und politisch rechts denkende Menschen zusammenfinden, in denen sich progressive und konservative Denkweisen überschneiden, in denen liberale und gegenaufklärerische Argumenten gleichermaßen vertreten werden. Damit die aus meiner Sicht für eine gedeihliche Weiterentwicklung der Menschheit Schlüsselrolle der Aufklärung vor manipulativen Zweckentfremdungen, Verzerrungen und Irreführungen frei bleibt, ist es wichtig, klar unterscheiden zu können, wo die Aufklärung an ihre Grenzen stößt und auf manipulative Weise Partikularinteressen für Allgemeininteressen ausgegeben werden.

Das Vermächtnis der Aufklärung  

Unter der Aufklärung verstehe ich das Unterfangen, die zwischenmenschlichen Angelegenheiten mit Hilfe der Vernunft zu regeln. Die Aufklärung ist im 18. Jahrhundert angetreten, allgemeine Freiheitsrechte, kritisches Denken und autonome Handlungsräume durchzusetzen. Die Menschen sollten ihr Leben nach selbstgewählten Grundsätzen und Werten ausrichten und gegenseitig respektieren. Außerdem sollten sie zu einem Diskurs fähig sein, in dem sich die besseren Argumente durchsetzen, wobei besser hier heißt, dass sie mehrheitsfähiger sind, also von möglichst vielen Menschen akzeptiert werden können. Dazu dient der konstante Bezug auf die Fakten, auf das, was der Fall ist, sprich auf die Wirklichkeit, die unabhängig von den Menschen besteht oder die sich in ihrem eigenen Innenleben befindet. Die Aufklärung ist untrennbar mit den Wissenschaften verbunden, die eine Form des Wissens zur Verfügung stellen, das prinzipiell von jedem Menschen nachgeprüft werden kann und damit der individuellen Willkür entzogen ist. Dieses Wissen soll mit Hilfe der wissenschaftlichen Selbstkontrolle, soweit es geht, vor dem Zugriff der Macht geschützt bleiben und allen gleichermaßen zur Verfügung stehen. Aber nicht nur das Wissen unterliegt einer intersubjektiven Reflexion, also einer kritische Überprüfung, sondern das ganze Programm der Aufklärung braucht immer wieder die selbstreflexive Infragestellung der eigenen Positionen, um sie an die Erfordernisse der jeweiligen historischen Situation anzupassen. Was Aufklärung heißt und ist, muss fortlaufend aktualisiert werden.

Die Vernunft ist, wie aus dem Vorigen folgt, das Vermögen, nicht aus der beschränkten Eigenperspektive, sondern aus der Perspektive möglichst vieler anderer Menschen zu denken, zu argumentieren und zu handeln. Sie erfordert die Fähigkeit, die eigenen Überlebensmuster zu überschreiten und die damit verbundenen Ängste und Egoismen zu distanzieren, sodass sie sich nicht in das Denken, Urteilen und Handeln einmischen. Vom Standpunkt der Vernunft aus können wir zu Einsichten kommen, wie die Geschicke der Menschheit so gestaltet werden können, dass sie mehr dem Menschsein entsprechen, also dem, was die Menschen in ihrem Inneresten ausmacht und was sie aus diesem Inneren heraus wollen und anstreben.

Immanuel Kant hat darauf verwiesen, dass die Aufklärung den Mut benötigt, um praktisch werden zu können, um also in die Gesellschaft eingreifen zu können. Wir können darunter die Fähigkeit verstehen, die eigenen Ängste zu kennen, zu verstehen und sich davon frei zu machen. Mutige Menschen handeln geleitet von ihren Werten und Zielen, ohne sich von ihren Ängsten einschränken und bremsen zu lassen. Der Mut umfasst auch die Fähigkeit zur fortlaufenden Überprüfung und selbstreflexiven Kritik der eigenen Werte und Normen.

Vernunft in Krisenzeiten

Jede Krisensituation fordert dazu heraus, praktische Lösungen umzusetzen. Bei einem Feuer müssen zuerst die Menschen gerettet werden. Sodann muss das Feuer eingedämmt und gelöscht werden. Es sind aber auch Vernunftsgesichtspunkte notwendig, wie aus der Krise gelernt werden kann, damit sie sich nicht wiederholt, zum Beispiel: Wie ist ein vernünftiger Brandschutz machbar?

Wir leben in einer nun schon länger andauernden Krisensituation infolge der Corona-Pandemie. Sie hat vor allem in unseren Ländern mit ihren hohen Sicherheitsstandards und ausgeklügelten Mechanismen der Risikominimierung zu großen Verunsicherungen geführt. Für andere Weltteile, in denen die Grundunsicherheiten von vorn herein wesentlich höher sind, ist die Bedrohung durch den Virus nur eine von vielen anderen Herausforderungen, die tagtäglich bewältigt werden müssen.

Wissenschaften und Laien

Wir hingegen können uns auf dem relativ hohen Niveau des Krisenmanagements eine verzweigte Vernunftdebatte leisten. Die kritische Funktion der Vernunft wird genutzt, um die Maßnahmen, die die Behörden zur Eindämmung der Seuche unternehmen, zu überprüfen. Es gibt viele Infragestellungen, die die Wissenschaftlichkeit der Virusforschung und der Impfstoffforschung in Zweifel ziehen. Diese Diskussionen müssen im Rahmen der Wissenschaften ausgefochten und erledigt werden, was auch fortwährend geschieht.

Die Einmischung von Laien, die nur die Ansichten bestimmter Wissenschaftler, die aus dem wissenschaftlichen Mainstream ausscheren, oder verkürzte Interpretationen von wissenschaftlichen Ergebnissen wiedergeben und propagieren, ist hier nicht hilfreich und kippt schnell in emotionalisierte Debatten voll von ideologischen Einschüben. Ideologien entstehen häufig aus absolut gesetzten relativen wissenschaftlichen Erkenntnissen – aus vereinzelten Forschungsergebnissen werden ohne genaue Prüfung Wahrheiten geschmiedet, die keinen Widerspruch zulassen. Damit wird augenscheinlich die Orientierung an den Idealen der Aufklärung verlassen und die Basis für gleichrangige und konstruktive Diskussionen zerstört.

Grund- und Freiheitsrechte

Eine andere Richtung der Kritik zielt auf die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte durch die Maßnahmen in der Pandemie-Bekämpfung. Sie beziehen sich auf die Individualfreiheiten, die durch die Aufklärung verankert wurden und ins allgemeine Selbstverständnis westlicher Bürger übergegangen sind. So viel Freiheit wie möglich, so wenig Einschränkungen wie notwendig, das ist die liberale Freiheitsnorm, die der menschlichen Selbstentfaltung möglichst viel Raum garantieren will. Jede Einmischung des Staates in diese Freiheitsrechte muss hieb- und stichfest sein, ansonsten drohen diktatorische Zustände.

Und hier scheiden sich die Geister: Darf der Staat vorschreiben, dass seine Bürger bei bestimmten Gelegenheiten Masken tragen müssen? Den verantwortlichen Vertreter der Staatsmacht obliegt es in diesem Zusammenhang, die Rechtsgüter abzuwägen – der Schutz der Menschen vor Ansteckung und Krankheit gegen die Beschränkung der Freiheit. Solche Entscheidungen können in einer Demokratie auf ihre Verfassungsgemäßheit geprüft werden, bzw. können die Entscheidungsträger bei einer Wahl ihre Posten verlieren. Der Disput über die Sachgemäßheit von solchen Abwägungsentscheidungen ist wichtig, und abweichende Meinungen müssen gehört und besprochen werden. Allerdings ist es auch vernünftig und notwendig, zu akzeptieren, wie die Regeln sind, auch wenn die eigene Meinung nicht durchgesetzt werden konnte. Sonst manövriert man sich an den Rand der Gesellschaft – und fühlt sich ausgegrenzt, obwohl die Verantwortung dabei bei einem selbst liegt. Manche geraten aus diesem Grund in eine radikale und aggressive Verweigerungshaltung dem Staat gegenüber.

Freiheit und Zwang

Darf der Staat bestimmte Personengruppen oder alle dazu zwingen, sich impfen zu lassen? Allerdings darf und muss der demokratische Staat das, was an Gesetzen von der Mehrheit des Parlaments beschlossen wird, durchsetzen, solange es verfassungskonform ist. Nicht alle müssen zustimmen, aber alle müssen sich an die Regeln halten, oder sie nehmen bewusst Sanktionen in Kauf. Rebellen gegen Gesetze hat es immer gegeben, sie machen darauf aufmerksam, dass es eine Minderheit gibt, die mit bestimmten Maßnahmen nicht einverstanden ist. Aber sie haben mit ihrer Haltung nicht automatisch recht, bloß weil ihre Sichtweisen von der Mehrheit nicht geteilt werden. Ihre Argumente und ihre Kommunikationsmöglichkeiten waren nicht stark genug, um im Konzert der Meinungen erfolgreich zu sein.

Es gibt keine Gesellschaft, die ohne Zwang auskommt. Jedes Zusammenleben erfordert die Einschränkung der eigenen Bedürfnisse und Interesse zugunsten des Gemeinsamen. Komplexere Gesellschaften brauchen komplexere Regeln, und deren Einhaltung muss erzwungen werden, wenn sie nicht freiwillig vollzogen wird. Sonst überwältigen die Einzelinteressen das Gemeinsame, und ein chaotisches Jeder-gegen-jeden bricht aus.

Allerdings ist es weder klug noch vernünftig, wenn eine demokratisch gewählte Regierung den Bogen überspannt und zu viel Zwang ausübt. Es geht immer auch um die Verhältnismäßigkeit zwischen dem Ausmaß an Freiheitseinschränkung und dem dadurch erhofften allgemeinen Gewinn für das Gemeinwohl. Die kritischen Stimmen der Betroffenen dienen als wichtige Rückmeldungen für den schwierigen Kurs des Regierens und Verwaltens in Krisenzeiten.

Der Wirklichkeitsbezug

Über Richtigkeit oder Falschheit von Behauptungen entscheidet deren Wirklichkeitsbezug: Wieweit beruht er auf allgemeinen, von allen nachvollziehbaren Erkenntnisbedingungen, oder wieweit sind diese subjektiv begründet und gefühlsgesteuert?

Die Pandemie-Gegner treten gerne mit dem Pathos der Aufklärung auf, manchmal sogar mit dem der Weltrettung vor dem Bösen. Sie verlassen das Terrain der Aufklärung aber dort, wo sie ihre Botschaften nicht auf abgesichertes Wissen stützen, sondern auf Einzelmeinungen, die dann mit dem eigenen „Gefühl“ als wahr erklärt werden. Gefühle sind keine Basis für die Aufklärung, sondern für die Verdunkelung. Denn Gefühle lassen keine Argumentation zu, sondern sind einfach, wie sie sind. Sie haben nicht die Aufgabe, komplexe Themen zu klären. Sie sind nicht dafür da, allgemeine, für alle Menschen gültige Prinzipien zu finden. Gefühle haben ihre eigene Komplexität, die mit ihrer engen Anbindung an die eigene Lebensgeschichte stammt. Deshalb sind sie immer nur subjektiv gültig und real. Ihr Dasein und ihr Wahrheitsanspruch ist auf das erlebende Subjekt beschränkt.

Die Wahrheit, um die es der Aufklärung geht, soll gerade nicht subjektiv sein, sondern eine über die Individuen hinausgehende Gültigkeit haben. Der Anspruch der Aufklärung erstreckt sich auf alle Menschen, oder, wie Kant es ausgedrückt hat, auf alle vernunftbegabte Wesen. Sie beruht deshalb auf einem rationalen Fundament, also auf sprachlich formulierbaren Gedanken, die im herrschafts- und gewaltfreien Diskurs eine intersubjektive Verständlichkeit anstreben.

Gefühle in der Politik

Gefühle spielen eine wichtige Rolle in der Politik, und die Aufgabe der Aufklärung liegt gerade darin, diese Rolle zu analysieren und zu thematisieren. Denn sie werden häufig zum Zweck der Durchsetzung von Machtinteressen instrumentalisiert. Das ist eine der klassischen Strategien von Demagogen und Populisten, also von Leuten, die nicht mit Hilfe der Aufklärung, sondern gegen sie Politik unter Verwendung von Manipulation betreiben wollen.

Wo also auch in den aktuellen Debatten um die Pandemie Gefühlsimpulse für rationale Argumente ausgegeben werden oder hinter diesen verborgen bleiben, gilt es, das aufklärerische Denken einzusetzen. Mit seiner Hilfe können wir zuordnen, was im Rahmen der Rationalität geredet, argumentiert und geschrieben wird und was in die Bereiche der Gefühlsökonomie, also der inneren Auseinandersetzung eines Menschen mit sich selbst gehört. Auf diese Weise bleibt das Anliegen der Aufklärung gewahrt und wird nicht mit anderen Argumentationsebenen oder Behauptungsszenarien vermischt.

Die Bewahrung der Aufklärung

Wir sollen und können unsere unterschiedlichen Ansichten und Meinungen haben und können uns sollen sie auch äußern. Die Meinungsfreiheit ist ein wichtiges Anliegen der Aufklärung. Um aber unser Zusammenleben zu erleichtern und die öffentlichen Diskurse in einem konstruktiven Rahmen ablaufen zu lassen, ist es notwendig, die Quellen und Hintergründe unserer Standpunkte zu berücksichtigen und Fakten (empirische Daten), wissenschaftlich gewonnenes Wissen und subjektive Schlussfolgerungen und Extrapolationen voneinander zu unterscheiden. Wir brauchen das Verständnis für die subjektiven Anteile, die in unser Verständnis von Objektivität einfließen und die Bereitschaft, unsere Subjektivität beiseite zu stellen, wenn wir in die Diskurse einsteigen.

Feindbilder und Vorurteile tragen wir alle in uns, aber wenn wir deren Ursprünge mit dem Verständnis der früh gebildeten Prägung unserer Gefühlsmuster entdeckt haben, können wir sie auflösen oder zumindest abschwächen, sodass sie sich dann nicht mehr in die Verzerrung faktischer Erkenntnisse und in unsere Gespräche mit unseren Mitmenschen sowie in alle anderen öffentlichen Äußerungen einmischen. Die Selbstreflexion beinhaltet die Fähigkeit, uns selber ein Stück zurückzunehmen. Das kommt uns zu Hilfe, wenn wir uns bemühen, die gemeinsamen Anliegen weiterzuentwickeln.

Zum Weiterlesen:

Krisenängste und ihr Jenseits
Zwischen Wissenschaft und Lügenproduktion
Von der Angst zur Ethik
Angstkonditionierung und Corona-Reaktion