Dienstag, 27. November 2012

Einfachheit und Komplexität


Die Natur hat eine innere Richtung, die von der Einfachheit zur Komplexität führt. Ein Einzeller funktioniert einfacher als ein Vielzeller, Lebewesen mit einem Nervensystem komplexer als solche ohne. Menschen haben einen Komplexitätsgrad erreicht, der ihnen selber manchmal Komplexe macht. 

Auch in der kulturellen Entwicklung der Menschheit erkennen wir diesen Trend von der Einfachheit zur Komplexität: Stammesgesellschaften brauchen wesentlich weniger Regeln und Kompetenzen, um überleben zu können als eine moderne Großstadtgesellschaft. In meiner Jugend gab es Telefone mit Wählscheiben und Fernsehgeräte mit einem Programm, jetzt muss man das Tippen mit dem Daumen beherrschen, um Nachrichten übermitteln zu können und muss hunderte Fernsehsender unterscheiden können. Immer mehr Fertigkeiten, immer mehr Wissen wird benötigt, um die Orientierung in der Welt zu schaffen und um einen sinnvollen Beitrag zu dieser Welt leisten zu können.

Die Systemtheorie hat erkannt, dass es keine wirkliche Alternative zum Wachsen in der Komplexität gibt. Überall, wo diese Entwicklung stagniert, kommt es früher oder später zum Verkümmern und zum Absterben dieser Lebensformen. Stillstand ist gleichbedeutend mit dem Tod, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die Zellen ihre komplexen Abläufe einstellen und sich in einfache anorganische Materie verwandeln. Daneben wächst das Leben weiter, unbesehen von Sackgassen und erfolglosen Versuchen der Entwicklung. Was sich bewährt in der Evolution, wird bewahrt und bildet die Grundlage für weitere Umgestaltung. Was weniger Überlebenswahrscheinlichkeiten ermöglicht, wird mehr und mehr an den Rand bedrängt, bis es verschwindet. Vielleicht sind deshalb die Neandertaler verschwunden, ist das römische Reich untergegangen und endeten Hitlers Größenwahnideen von einem Tausendjährigen Reich nach kurzer Zeit in der Katastrophe.

Wir müssen also wachsen, wenn wir leben wollen. In den frühen Jahren unseres Lebens spüren wir diesen Zug zum Wachsen in unserem Körper, der erwachsen werden will. Ab einem gewissen Zeitpunkt wachsen nur mehr die Haare und Nägel, und doch muss sich unser Nervensystem, und insbesondere unser Gehirn weiter entwickeln. Dieses Müssen ist ein Nicht-Anders-Können-Als. Die zunehmend komplexer werdende Umwelt fordert unsere inneren Systeme zur Differenzierung und Spezialisierung, also zum Weiterwachsen heraus.

Natürlich haben wir die Wahl, uns dem Zwang zur Komplexität zu entziehen.  Es packt uns der Wunsch, dem ganzen Wahn zu entfliehen und ein einfaches Leben zu wählen, ohne Handy und Computer, ohne High Tech und Auto. Was aber suchen wir in der Einöde? Ein tieferes Einlassen auf die Natur – und deren Komplexität? Ein ernsthafter Blick nach innen und die Entdeckung der inneren Komplexität? Jede Einfachheit, die wir uns erwerben oder gönnen, konfrontiert uns mit neuer Komplexität. 

Wenn wir nicht nicht wachsen können, heißt das auch, dass wir nicht nicht kreativ sein können. Jeder neue Moment gibt uns die Gelegenheit für eine neue Idee, eine neue Sichtweise, eine neue Erkenntnis. Kreativität ist keine auf Genies beschränkte Sondereigenschaft, sondern ist die Lebenskraft selber, die sich in jedem Wesen, und in besonderer Weise in jedem Menschenwesen äußert. Was unsere Kreativität und damit unser Wachstum zu mehr Komplexität einschränkt, sind Ängste und die damit verbundenen unbewältigten inneren Themen. Wenn uns eine Angst beherrscht, erstarren wir, und wir werden bewegungsunfähig. In solchen Zuständen stagnieren wir und bleiben an dem Punkt stecken, an dem wir uns gerade befinden. Wir drehen uns im Kreis, vor allem, wenn uns die Ängste in den Kopf gestiegen sind und zwanghafte Denkformationen auslösen, die immer nur mehr vom Gleichen produzieren. 

Lösen sich jedoch solche Angstmuster, dann erleben wir die Welt gleich anders und neu, und freuen uns am Wachsen und an der Flexibilität. Dann wollen wir mehr vom Anderen, Überraschenden, Unvorhersehbaren. Dann tauchen wir ein in das Fließen des Lebens, das uns vor immer wieder neue Situationen stellt, uns immer wieder neue Fragen stellt und uns zu immer wieder neuen Antworten anregt. Und überraschender Weise können wir aus solchen flow-Erfahrungen zu einer neuen Einfachheit finden.

Wenn wir auf einer bestimmten Stufe unserer inneren und äußeren Entwicklung einen Zusammenhang von Komplexität gemeistert haben, wenn wir also gelernt haben, souverän damit umzugehen, gewinnen wir ein neues Niveau von Einfachheit, das uns wieder motiviert, neue Situationen der Komplexität aufzusuchen. So wirken wir der Gefahr entgegen, von der Komplexität erstickt und erdrückt zu werden. Der Fluss des Lebens führt uns weiter von ruhigeren zu turbulenteren Strömungen, und wieder weiter zu Phasen des Ausruhens und Integrierens. Wir brauchen uns nur ihm anzuvertrauen, sprich von unseren Ängsten frei zu werden. Dann finden wir die Freude an der Komplexität wieder, die wir als Kinder hatten, als wir unseren Zugang zum Faszinosum dieser Welt mit Begeisterung beschritten haben.

Es lohnt sich, den Mut zu wachsen wirken zu lassen. 

Dienstag, 20. November 2012

Ist der Mensch von Natur aus egoistisch oder sozial?



Eine Variante der Frage nach dem Guten und dem Bösen (vgl. Blogeintrag vom 14.10.2012) ist die, ob der Eigensinn dem Menschen angeboren und innewohnend ist oder ob die eigentlichen Anlagen des Menschen auf Kooperation und Verständigung mit den Mitmenschen angelegt sind.

Manche Menschen vertreten die eine Ansicht, manche die andere – und wieder anderen ist es egal. Ist es von Belang, ob wir „den Menschen“ als selbstsüchtig oder als altruistisch bestimmen oder nur eine rein akademische philosophische Frage? Ist es eine persönliche Grundentscheidung, die wir treffen, wenn wir uns auf das eine oder auf das andere festlegen? Oder hat es damit zu tun, ob wir eher pessimistisch oder optimistisch eingestellt sind? Oder hat es zu tun mit der Art, wie wir unser eigenes Leben wahrnehmen, ob wir uns auf unsere Erfahrungen als Opfer von Egoismen fokussieren oder auf wohltuende soziale Erfahrungen? Prägt es uns in unseren Handlungen, indem wir skrupelloser sind, wenn wir annehmen, dass alle anderen im Grund auch so sind?

Ich denke, dass das Menschenbild, das wir in uns pflegen, Auswirkungen hat auf unsere Einstellungen, unser Handeln und unser Weiterkommen im Leben, vor allem wenn wir das innere Wachstum auch als spirituelle Entwicklung verstehen. Sehen wir uns selber primär als Egoisten, hat das zur Folge, dass jede mitmenschliche Handlung eine Überwindung dieser primären Anlage darstellt. Wir brauchen die Willenskraft, um uns aus den Fesseln dieser Naturanlage zu befreien und schweben immer in der Gefahr, zurückzufallen. Wir müssen uns zum Guten zwingen, während uns das egoistische Handeln ohne Anstrengung und Rücksicht von der Hand geht.

Ich gehe davon aus, dass der Mensch, wie die anderen höheren Säugetiere, von seiner Grundanlage ein soziales Wesen ist, das von vornherein auf das Zusammen- und Überleben in der Gemeinschaft angelegt ist. Dazu brauchen wir dominante soziale Motive, die unser Erleben und Handeln steuern und mit den Menschen um uns herum abstimmen. Viele davon laufen unbewusst ab, wie z.B. das Ablesen der Körpersprache von anderen Menschen. Wir verfügen über Spiegelneurone, die uns laufend mit Informationen versorgen, was in den Menschen um uns herum vorgeht, sodass wir unser Handeln danach ausrichten können.
Unsere Vorfahren, die über Hundertausende von Jahren in einfach aufgebauten Stämmen das Leben weitergegeben haben, hatten überhaupt nicht die Wahl zu überlegen: Na geh ich in einen Stamm und bin da nett zu den Leuten, weil es mir Vorteile bringt, oder bleibe ich lieber für mich. Singlewohnungen waren nicht vorhanden. 

 

Egoismus ist eine Stressreaktion

Diese soziale Grundorientierung wird nur außer Kraft gesetzt, wenn wir in Bedrohungssituationen geraten und mit Angst konfrontiert sind. Dann werden die Fähigkeiten zum "guten Handeln" stillgelegt, wie wir aus der Polyvagaltheorie wissen. Der Stressmodus bedient sich des Sympathicus, und dieser kennt nur die Alternative von Kampf oder Flucht, weil er sich für die Sicherung des Überlebens zuständig fühlt. In diesen Zuständen erleben wir andere Menschen als Einschränkung und Bedrohung, und wir werden egoistisch. Ich muss meine Interessen sichern, sonst gehe ich unter, wie es anderen dabei geht, ist mir egal. Ebenso wissen wir, dass unsere Spiegelneurone nur im entspannten Zustand arbeiten, die uns ermöglichen, mitzuspüren, was in anderen Menschen gerade geschieht.

Wir sind von Natur aus bestens dafür ausgerüstet, uns einfühlend und kooperativ zu verhalten. Wenn wir aber durch fortgesetzte Stresserfahrungen und Traumatisierungen den Zugang zu diesen Fähigkeiten verloren haben, kann uns das egoistische Handeln wie eine Selbstverständlichkeit erscheinen, und das soziale Handeln wird dann abhängig von einer bewussten Willensentscheidung, von Disziplin und fortgesetzter Anstrengung in der Überwindung der „ursprünglichen“, in Wirklichkeit aber angelernten Impulse.

Wenn wir uns jedoch in einem entspannten inneren Gleichgewicht befinden, handeln wir so, wie das klassisch als "gut" bezeichnet wird, weil unsere Impulse von selber in die Richtung gehen, andere zu respektieren und ihre Bedürfnisse zu berücksichtigen. Wir kommen gar nicht auf die Idee, andere nicht mitzubedenken, wenn wir Entscheidungen treffen.

 

Der Mensch ist ein Bindungswesen

Aus der wissenschaftlich gut abgesicherten Bindungstheorie wissen wir, dass Menschen die Fähigkeiten zum kooperativen und einfühlenden Kommunizieren in den frühesten Phasen der Kindheit erlernen, (wenn nicht schon im Mutterleib). Das Gehirn bildet diese Kompetenzen im Austausch mit den nächsten Bezugspersonen aus. Dazu braucht es ein fein abgestimmtes Klima der liebevollen Wertschätzung. Herrscht durch Stress verursachte Vernachlässigung der sozialen Bedürfnisse des Kindes vor, dann verkümmern nicht nur die Bedürfnisse und entsprechenden Kompetenzen, sondern auch die dafür vorgesehenen Gehirnareale.

Auch von den Spiegelneuronen wissen wir, dass sie Anregung und Spiegelung brauchen, damit sie sich gut entwickeln. Dann gibt es da noch die ganze Geschichte mit der Weitergabe von genetischen Informationen und Mustern (vgl. den Blogeintrag zur Epigenetik vom 18.2.2012). Das sind alles Wege, wie sich egoistische Einstellungen einprägen, bis wir denken, das ist unsere Natur und so sind wir eben. Soziale Einstellungen sind also nicht durch Gene prädeterminiert, sondern werden durch soziale Aktivitäten mehr oder weniger stark ausgebildet. Egoistische Einstellungen sind damit die Folge einer Entwicklungsbehinderung und nicht eine menschliche Grundkonstante.

Sie sind aber auch nicht ein Mangel an Moral. Egoisten können es nicht besser, weil sie es verlernt haben. Der einzige Vorwurf an eingefleischte Egoisten könnte lauten, dass sie sich nicht für die Heilung ihrer Behinderung eingesetzt haben. Denn diese ist möglich, wenn die fehlenden Beziehungserfahrungen in einer wertschätzenden und verständnisvollen Therapie nachgeholt werden.

Es erscheint mir deshalb sehr fraglich, zu behaupten, dass Menschen "von Natur aus" egoistisches bis antisoziales Potenzial mitbringen. Wir bringen das Potenzial mit, unser Leben in Notsituationen zu verteidigen. Das ist aber nicht von vornherein egoistisch oder antisozial. Und dieses Potenzial wird nur in Extremsituationen mobilisiert (oder sollte nur in solchen mobilisiert werden, allerdings erleben wir auf Grund unserer chronischen Stressbelastung sehr viele Gelegenheiten als Bedrohung unseres Überlebens.)

 

Die Erfindung des Egoismus

Die Rede vom "egoistischen Gen" (nach Dawkins) halte ich für unsinnig und voll von ungeprüften Vorannahmen. Sie taugt für nicht mehr als einen reißerischen Buchtitel. Gene wickeln ihr Programm ab je nach aktuellen Anforderungen, und als solche sind sie weder gut noch böse, weder egoistisch noch altruistisch. Die Menschen verfügen allem Anschein nach über sehr starke soziale Motivationen, weil sie nur als Gruppenwesen überleben können. Vieles, was wir als böse bezeichnen, entspringt eigentlich aus solchen sozialen Motiven, wie die Verteidigung der eigenen Gruppe gegen (oft vermeintliche) Feinde.

Der Egoismus ist erst eine recht späte Erfindung der Menschheit. Über Jahrmillionen unserer Urgeschichte war das keine nennenswerte Kategorie und ist nach wie vor bei funktionierenden Stammeskulturen nur ein Randphänomen. Diese könnten gar nicht existieren, wenn der Egoismus vorherrschen würde. Erst die Weiterentwicklung des Bewusstseins in die emanzipatorische Phase hat das Heraustreten des Egos mit sich gebracht. Dieser Bruch mit der Grundsolidarität wurde bewirkt durch eine Zunahme des Stresses und der Bedrohung in den frühen Ackerbaukulturen, verbunden mit Aufrüstung und Kriegen. In solchen Zusammenhängen reagieren die Menschen mit ihren Überlebensprogrammen, die sich auch gegen die Gemeinschaft richten können. Fortan wurde der Egoismus als Alternative verfügbar und auch propagiert.

Verstärkt wurde diese Denkweise durch den Kapitalismus, der uns gelehrt hat, dass jeder schauen muss, wie er auf dem Markt überlebt (materialistisches Bewusstsein). Zu jener Zeit entsteht z.B. der Roman von Robinson - der Einzelkämpfer auf der einsamen Insel. Massenhaft können jetzt Beispiele gefunden werden, die belegen, dass „der Mensch“ egoistisch ist, von uns selber, von unseren Mitmenschen und aus der Geschichte, und dass der Egoismus erfolgreich ist. Aber was belegen Beispiele anderes als die Sichtweise, die wir sowieso schon haben? Aus Beispielen werden wir nie der Wirklichkeit oder dem Wesen des Menschen näher kommen.

Eine Spielart dieser Propaganda finden wir in der Behauptung, altruistisches Verhalten sei im Grunde egoistisch motiviert. Schließlich suche der Altruist nach egoistischem Gewinn in seiner Handlung, wenn er z.B. den Applaus für seine Menschlichkeit genießt. Warum auch nicht soll jemand, der für andere da ist und Gutes tut, für sich eine Genugtuung erfahren? Das heißt noch lange nicht, dass seine primäre Absicht in der Selbstsucht gelegen wäre. Aber wenn ich dem Egoismus verschworen bin, werde ich ihn überall finden.

Erst wenn wir uns aus den vielfältigen Stressnetzen herausschälen, die unsere Lebensgeschichte und unser Alltagsleben in uns hineinverwoben hat, kommen wir unserer "wahren Natur" näher (oder finden wieder zu ihr zurück) und dem, was wir meinen, wenn wir das Wort "Liebe" verwenden.

Vgl. Bewerten im bewertungsfreien Bereich
Das Gute und das Böse 

Montag, 19. November 2012

Die Großen und die Kleinen, die Bedeutenden und die Unbedeutenden



Jeder Mensch, jede Person leistet einen einzigartigen Betrag zum großen Ganzen. Ohne dich wäre das Universum ein anderes und etwas Wichtiges würde fehlen. Solche Sätze hören wir manchmal oder sprechen sie auch aus.

Da kommt sofort der Gedanke, den wir alle in uns tragen: Wer bin ich schon? Was ich beitrage, ist doch so unbedeutend und minimal. Ich bin für die große weite Welt nur winzig und unwichtig, in der Arbeit ersetzbar, in dem, was ich kreativ mache, kennt mich niemand. Vielleicht gibt es ein paar Menschen in meiner Umgebung, die mich schätzen und lieben, für die ich etwas bedeute, aber darüber hinaus bin ich nur einer aus Milliarden.

 

Das Bedeutungs-Rating und die Agentur in uns

Wer bemisst die Größe und die Kleinheit? Wer verleiht und entzieht Bedeutung und Wichtigkeit? Welcher Instanz geben wir diese Macht über uns? Wo ist die Rating-Agentur, die bestimmt, auf welcher Stufe der Bedeutungsrangordnung wir uns befinden?

Es wirken viele kleine Agenturen, die mitwirken, dass das Bedeutungsthema weiter in uns nagen kann: Die Schulen, die Arbeitsverhältnisse, die Medien und die Freunde und Bekannten, die uns alle darauf aufmerksam machen, was noch verbesserungsfähig an uns ist und wer da schon weiter und toller ist.

All diese Rückmeldungen laufen in uns selber zusammen, in einem Teil unseres Gehirns oder unseres Wesens, das für die Selbsteinschätzung zuständig ist. Und da sind wir es eigentlich selber, die die Ratingentscheidungen treffen und publizieren, indem wir uns selber mitteilen, wie wir uns und die anderen einschätzen. Wir sind es, die die Wertungen, die andere über uns treffen, übernehmen oder ignorieren, die sich nach vorgegebenen Rangordnungen richten oder nicht.

Was wir tun können: Wir können verschiedene Rating-Agenturen einrichten, die dann in Konkurrenz miteinander treten: Ist eine zu abwertend, mobilisieren wir die andere, die unsere Potenziale besser schätzen kann. Wenn das Spiel eine Zeitlang läuft, verlieren die Agenturen insgesamt an Macht und Einfluss, bis wir ihren Einflüsterungen kein Gehör mehr schenken.

 

Das Streben und seine Illusion

Beim Thema Bedeutungsgebung wirkt der in uns eingebaute Mechanismus der Ambition: Wir wollen es weiter bringen, wir halten es nicht aus, wenn Stillstand und Stagnation herrschen, wir wollen produktiv sein und Unterschiede setzen, sodass die Wirklichkeit durch unser Wirken anders wird. Doch wirken in diesem Streben zwei Kräfte, die wir tunlichst unterschieden sollten: Die eine Richtung der Expansion, die mehr von dem will, was es schon gibt und womit uns andere vor unsere Nase wedeln: Ich bin schon so toll, wenn du so werden willst wie ich, dann mache diese Reise, besuche jene Gruppe, kaufe dieses Produkt, höre jene Musik. In dieser Richtung verlieren wir uns schnell – wir laufen Vorbildern nach, verehren und bewundern Leute, die „es geschafft haben“ und vergessen dabei auf uns selbst und auf das, was uns auszeichnet. Wir überprüfen nicht, ob das, was andere verwirklicht haben, dem entspricht, was wir aus unserem Inneren heraus wollen.

Die andere Orientierung will Neues schaffen, will etwas in die Welt setzen, was es in dieser Form und diesem Aussehen noch nicht gegeben hat, will etwas Einzigartiges beisteuern. Hier wollen wir uns nicht vergleichen mit den Großen und Bedeutenden, sondern eine Wirkung erzielen, für die es egal ist, ob sie groß oder klein ist. Das kann eine Blume sein, die wir zum Blühen bringen oder einen berührenden Satz, den wir sagen, ein Lächeln, das wir jemanden schenken, oder ein Vogelzwitschern, dem wir Beachtung schenken.

Immer wieder können wir an uns beobachten, wie sich diese beiden Bestrebungen oft bis zur Unkenntlichkeit ineinander verschränken. Dann tun wir so, als ob wir uns durch Konsumieren von Dingen selbst verwirklichen oder durch das Bewundern von anderen Leuten an Selbstwert gewinnen könnten. Wir wollen selbst in den Zustand des Bewundertwerdens gelangen, ohne zu wissen, was wir wirklich damit anfangen wollten, sobald wir es haben.

Klar, ich möchte, dass viele, viele Leute diesen Text lesen und erwarte, dass das einen größeren Beitrag zur Welt leistet, als wenn ihn nur ein paar Menschen lesen. Allerdings liegt der eigentliche Gewinn für mich nicht in der Anzahl der Rezipienten der Botschaft, sondern im Prozess des Schreibens, der meine innere Klarheit fördert. Wenn ich von jemandem erfahre, dass ihr der Text gefällt und etwas in ihrer Welt verbessert, freut mich das. Zum klärenden Schreibprozess, der mir gut tut, kommt der Aspekt des Gebens dazu, der als Anerkennung zu mir zurück fließt.

 

Die Magie der Zahlen

Wird die Freude größer, wenn die Zahl der Rückmeldungen (und potentiellen Bewunderern) größer ist? Werde ich dadurch bedeutender und wichtiger? Offensichtlich ja, weil die Zahl das Maß der Dinge ist. (Übrigens findet sich auf dieser Blogseite eine automatische Korrektur von solchen Ego-Eskapaden, da es einen Beitrag gibt, in dem ein Witz mit dem Dalai Lama (26.7.2011) zitiert wird, und aus der Statistik ist ersichtlich, dass diesen Beitrag hundert Mal mehr Menschen lesen als all die anderen Posts. So gebietet mir jeder Blick in diese Statistik die rechte Bescheidenheit, was die Bedeutung meiner eigenen Texte anbetrifft.)

Die zwei Orientierungen zeigen sich als zwei Aspekte der Freude, die ich in mir wahrnehmen kann: Der eine, der sich am Gewinn eines anderen Menschen freuen kann, der andere, der stolz ist auf die Anzahl der Anerkennungen, weniger auf die Anerkennungen selbst. Könnte nicht der liebevolle Blick einer anderen Person mehr bedeuten als Tausend Klicks von anonymen Lesern?

Sobald sich Zahlen einmischen, zeigt uns die Kenntnis der Logik der Bewusstseinsevolution, dass wir in eine Falle des materialistischen Denkens geraten sind. Es hat das illusionäre Streben der Menschen in die abstrakteste Form gebracht und damit ad absurdum geführt. Du musst mehr und mehr verdienen, besitzen, Freunde haben, verkaufen, konsumieren, Geld am Konto haben usw., um dein Menschsein zu verwirklichen. An diesem Mehr wirst du gemessen, doch dieses Mehr hat die Struktur des Immer-Zuwenig. Denn es kann nie genug sein, es gibt immer noch mehr, das erreicht werden muss. Ist dieses erreicht, gilt es, das nächste zu erreichen, ein unendliches Streben, das nur durch die physische Erschöpfung und den Tod endet, die absolute Grenze, die die Natur dem gierigen Ego setzt.

Das materialistische Denken gaukelt uns vor, dass wir an Zahlen Befriedigung finden könnten, doch ergötzen wir uns in Wirklichkeit an den Fantasien, die sich an die Zahlen knüpfen: Was könnte der Vorteil und die Befriedigung darin sein, wenn Hunderte, Tausende, Millionen an mir oder an meinen Produkten Gefallen finden? Mit jeder Null hinten dran schwillt die Fantasieblase an, scheinbar unendlich dehnbar. Doch braucht es oft nur eine andere Erfahrung, jemand, der gemein ist zu mir oder abwertend oder überkritisch, schon platzt die Blase, und mühsam muss sie wieder aufgeblasen werden.

Wie kommen wir auf diese blöde Idee, uns von der Anerkennung anderer abhängig zu machen? Wir sollten nicht vergessen, dass wir auf dieser Erde sind, um das zu tun, was aus uns selber kommt, was wir gerne machen und was uns erfüllt, gleich, ob das einige oder viele toll finden oder einige oder viele albern. Menschen sind so verschieden in ihren Fähigkeiten und Talenten, und jeder trägt das zur Buntheit der Menschenwelt bei, was aus seiner Einzigartigkeit entspringt. So auch ich, so auch du, und das können wir uns immer wieder bewusst machen, um es zu feiern. Denn dann motiviert uns das, noch mehr beizusteuern aus dieser unserer Individualität und damit die Welt noch bunter zu machen. Damit sind wir genauso wichtig und genauso bedeutend wie all die Menschen, mit denen wir uns aus schlechter Gewohnheit bloß deshalb vergleichen, damit wir uns selber abwerten können.

 

Bewunderungsübung

Wir können es zu einer Übung machen: Immer, wenn wir merken, dass wir andere, vor allem Menschen, die wir überhaupt nicht kennen, über die Maßen bewundern, ergänzen wir es mit einer Bewunderung für uns selbst. Und immer, wenn wir eine der Hochglanzpersönlichkeiten anhimmeln, ergänzen wir das durch ein Anhimmeln eines „kleinen Menschen“, der alten Frau, die ihren Einkaufskoffer rollt, des Fahrers der Straßenbahn, der gelangweilt lenkt, des Schulmädchens, das mit ihren Freundinnen plappert usw.  – all die „unbedeutenden Menschen“, die es nie in eine Schlagzeile oder auf einen Fernsehschirm schaffen werden und doch, wenn wir genauer hinschauen, all die Zelebritäten, die wir mit so viel Wichtigkeit aufplustern, in den Schatten stellen, sodass diese in einem illustren Reich der Lächerlichkeiten verschwinden können.

Hören wir auf mit den Vergleichen, die uns selber in ein minderes Licht stellen. Gibt es einen Menschen, dem wir die Macht geben, zu entscheiden, wer wichtig und wer unwichtig ist? Wenn nicht, dann brauchen wir auch niemandem die Macht geben, nach Wichtigkeits- oder Bedeutungsgraden einzuteilen, also wer weniger und wer mehr beiträgt zur Gesellschaft oder zur Menschheit. Wenn wir also allen Vergleichern die Macht nehmen (die sie ja vor allem in unseren Köpfen haben), dann lösen sich die Unterschiede und Rangordnungen auf. Alle Menschen sind gleich, jeder ihrer Beiträge zum Allgemeinen ist gleich viel wert.

(Vgl. zum Thema den Blogbeitrag vom 13.5.2012: „Zelebriere deine eigene Zelebrität“)

Donnerstag, 8. November 2012

Unser liebes Eigentum

Ein Prozent der Österreicher verfügt über ein Viertel des gesamten Geldvermögens. Das ärmste Zehntel der Österreicher verfügt über maximal 1000 Euro. Vor langer langer Zeit gehörte allen alles, oder kaum jemandem etwas. Was ist seither passiert, und wie könnte oder sollte es bei diesem Thema weitergehen? 

In der österreichischen Debatte um Vermögenssteuern, Eigentums- oder Reichensteuern (so benannt je ideologischem Standpunkt) hat ein maßgeblicher Vertreter einer Partei gemeint, bereits in der Volksschule lernten die Kinder den Unterschied zwischen Mein und Dein, folglich sei jeder Angriff auf das Eigentum abzuwehren. Nun können wohl schon Sandkistenkinder zwischen ihrem und einem fremden Schauferl unterscheiden. In der Grundschule (in der ich mein Lineal mit der Warnung beschriftet habe: Gottes Aug ist überall, drum stiehl mir nicht mein Lineal) sind wir schon fest in die Eigentumsordnung eingegliedert und erwerben dazu noch eine Vorstellung von reich und arm, samt der Einordnung, wo wir und unsere Familie selbst hingehören. 

Zur Geschichte des Eigentums 


Wenn wir einen Blick auf die Evolutionsgeschichte unseres Bewusstseins werfen, landen wir anfangs in einer langen Zeitepoche, in der der Eigentumsbegriff eine ganz untergeordnete Rolle spielte. Die frühen Stammeskulturen verfügten über so wenig Dinge, waren also in unserem Sinn so arm, dass sich das „Mein“ und „Dein“ auf kleine Gegenstände beschränkte. Da diese Menschengruppen sehr mobil waren, machte es auch keinen Sinn, sich viel Besitz anzueignen, der dann von einem Ort zum andern geschleppt werden musste. Es wusste jeder, was jedem gehörte, und damit hatte Diebstahl keinen Sinn. 

 Erst als sich die Landwirtschaft und damit die Sesshaftigkeit entwickelte, bekam der Eigentumsbegriff und damit der Unterschied zwischen arm und reich eine zentrale Stelle im Bewusstsein der Menschen. Grund und Boden und was darauf angepflanzt war, wurde zur Lebensgrundlage, und die Verfügungsgewalt darüber zu einer Frage des Überlebens. Wurde die Ernte gestohlen oder das Ackerland verwüstet, bedeutete das Hunger oder Hungertod. 

Aus diesem Grund sind wir bis heute bei der Frage des Eigentums sehr empfindlich, und umso mehr, je mehr wir davon haben. Das römische Recht definierte den Unterschied zwischen Besitz und Eigentum, wie er in einer bürokratisch geordneten Gesellschaft Sinn machte. Besitz ist das, was jemand hat, und Eigentum das, was ihm rechtens, also durch den Staat festgelegt, gehört. Damit wird klargestellt: Es ist der Staat, das Gemeinwesen, das festlegt, wer über welches Eigentum verfügen kann. Seither kam es zu einer exorbitanten Vermehrung von Eigentum durch den Reichtum, den die Menschheit in Folge der Industrialisierung erzeugte. 

1840 schockierte Pierre Joseph Proudhon mit dem Buchtitel „Eigentum ist Diebstahl“. Er stellte mit dieser Provokation eine Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft in Frage. Es ging ihm dabei aber nicht um das Bett oder den Blumentopf, den jemand besitzt, sondern um die Produktionsmittel, über die einzelne Privatpersonen verfügen können, um sich am Gewinn zu bereichern, der von den Arbeitern, die sie bedienen, erwirtschaftet wird. 

Karl Marx machte diese Idee zum Antrieb für eine Revolution. Durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, also durch ihre Überführung vom Privat- zum Gemeineigentum, sollte der produzierte Mehrwert den Arbeitern selber als Gewinn zukommen. In der Folge entstanden die sozialistischen Gesellschaftssysteme, die ohne durchschlagenden Erfolg versuchten, die Wirtschaft vom Privateigentum zu befreien. Am Scheitern der staatssozialistischen Konzepte sind verschiedene Umstände schuld, z.B. die Verquickung der Vergesellschaftung mit der Beschränkung der persönlichen Freiheitsrechte in den sogenannten sozialistischen Gesellschaftssystemen bis heute. Vom Modell der Bewusstseinsevolution aus betrachtet, handelt es sich dabei um einen Rückgriff auf die vorkapitalistische Stufe der Bürokratisierung, was nicht gut gehen konnte. 

Der gemäßigte Versuch, den fast alle nichtsozialistischen Länder beschritten, bestand darin, das Wirtschaftseigentum zu besteuern und damit einen Teil des Mehrwertes in die Gesellschaft zurückfließen zu lassen. Damit bleibt der Gedanke des Schutzes des Eigentums gewahrt, ebenso der Unterschied zwischen arm und reich. 

Es wird folglich das Eigentum als unverletzlich erklärt, so im österreichischen Staatsgrundgesetz von 1867 (Art. 5) und im 20. Jahrhundert in der UN- Menschenrechtskonvention. Zwar gibt es in allen Gesetzbüchern Einschränkungen dieses Grundrechts auf Eigentum, z.B. „wenn es das allgemeine Beste erheischt“, wie es im ABGB heißt, können Enteignungen vorgenommen werden, doch sind diese Eingriffsrechte dem Grundrecht untergeordnet und müssen sachlich gerechtfertigt werden. 

 Als Folge dieser Kodifizierung des Eigentumsrechts und der damit abgesicherten kapitalistischen Wirtschaftsdynamik gibt es in fast allen Staaten der Welt eine dünne Schicht von Menschen, die über riesige Vermögen verfügen, während die große Masse der Menschen in Armut darbt oder neidvoll in mäßigem Wohlstand lebt. Diese Schere geht munter weiter auseinander, und das, was ursprünglich niemandem oder allen gehörte, fließt zu einem großen Teil in die Taschen von immer weniger und immer reicheren Menschen. 

Eigentum in der Konsumwelt – das Fetisch 


 Zusätzlich aufgeladen wird der Eigentumsbegriff durch die Entstehung der Konsumwelt mit ihrem Überangebot an Waren und Dienstleistungen. In dieser Welt lernen wir fortwährend, uns selbst über Dinge zu definieren, die uns gehören. Meine Ich-Identität ist auf meinem Eigentum begründet. So kann schon der Nichtbesitz eines Gegenstandes Selbstwertprobleme auslösen: Wie zu lesen war, trauen sich erwachsene Menschen nicht, bei einem Meeting ihr „überholtes“ Blackberry-Handy zu benutzen, weil alle anderen mit einem schicken neuen Smartphone hantieren. Nicht wirklich herzerschütternd, aber interessant, wie wir immer mehr dazu neigen, uns über Dinge selbst zu erleben. 

Das Eigentum wird psychologisiert, d.h. in die Psyche eingebaut, die damit ein Sammelsurium von Gefühlen, Gedanken und Dingen wird. Das hilft der Illusion, dass unser Ich durch Dinge größer, wichtiger, bedeutender, einflussreicher und attraktiv wird. Je teurer das Ding ist, das ich besitze, desto wertvoller bin ich selber. Je schöner das Ding, desto attraktiver bin ich selbst usw. Der Verlust von Dingen kann dann noch bedrohlicher erlebt werden, weil Dinge vom eigenen Körper nicht mehr klar unterschieden werden können. Dinge werden kaputt, und damit ein Teil des Ichs. Die Quellen des Leidens wachsen mit jedem Ding, in das wir unsere Gefühle investieren. Manchen tut es physisch weh, wenn ihrem Auto ein Schaden zugefügt wird. Diebstahl von Eigentum wird wie Körperverletzung erlebt. Kommt es daher, dass in den Grundgesetzen von der „Unverletzlichkeit des Eigentums“ die Rede ist? 

Die Welt der Dinge, die uns und zu uns gehören, wächst und wächst, auch wenn wir immer wieder Sachen wegwerfen. Scheinbar wachsen wir damit auch in unserer Persönlichkeit (je größer das Auto ist, das ich mein Eigentum nenne, desto größer bin ich selber). Allerdings ist es nur das Ego, das da wachsen kann, in die Sphäre einer unentrinnbaren Vergänglichkeit hinein. Wie können wir die Fetischisierung des Eigentums, wie sie ein Wesensmerkmal des Materialismus darstellt, eindämmen und einen Ausweg finden aus der Falle, die sich mit dem Eigentumsbegriff stellt? 

Eigentum in systemischer Perspektive 


Wie oben gesagt: Dinge gehören ursprünglich niemandem, wie die Luft und früher einmal der Boden, die Erde. Die Ureinwohner Nordamerikas konnten deshalb nicht verstehen, warum die Weißen ihnen Land abkaufen wollten, wo es doch den Göttern oder den Ahnen gehört. 

Erst, wenn jemand Dinge in Besitz nimmt und zu seinem Eigentum erklärt, werden sie es. Die anderen müssen da noch zustimmen, sonst kann es zu Streit kommen, wenn es jemand anderer auch will. Der Ausgang des Streites entscheidet, wem es dann gehört. Es werden Rechtsnormen entwickelt, die festlegen, wer über rechtmäßiges Eigentum verfügt und wer nicht. 

Tendenziell begünstigen diese Normen bestimmte Personengruppen und benachteiligen andere, sodass über die Verteilung von Eigentum soziales Ungleichgewicht und soziale Differenzierung eingeführt wird. Schließlich wird das Recht auf Eigentum zu den Grundrechten dazugenommen (in die französische Verfassung von 1789 haben es natürlich die Begüterten hineinreklamiert) und erhält Verfassungsrang. 

Jedoch ist dieses Grundrecht eines der bürgerlichen Gesellschaft, und nicht, wie etwa das Grundrecht auf die Freiheit der Person, noch viel tiefer im tribalen Menschheitsbewusstsein verwurzelt. Menschliche Gemeinschaften können nur funktionieren, wenn die Freiheit jedes Einzelnen geachtet wird. Dagegen ist die Achtung des Eigentums keine konstituierende Voraussetzung für menschliches Zusammenleben. Solches ist denkbar mit oder ohne individuelles oder kollektives Eigentum. In Familien muss kein Einzelner den Fernseher oder das Küchengeschirr besitzen. Es gibt Bettelmönche, die auf jedes Eigentum verzichten. Christliche Ordensgemeinschaften kennen auch kein individuelles Eigentum (Armutsgelöbnis). 

Eigentum steht in der Geschichte der Aneignung der „Schöpfung“ oder der Natur, oder dessen, was nicht Mensch ist (wobei der Eigentumsbegriff irgendwann einmal sogar auf den Menschen ausgeweitet wurde, als die Sklaverei erfunden wurde). Da Menschsein immer gemeinschaftlich verfasst ist, ist auch das Eigentumsrecht aus einer Konvention der Menschen abgeleitet. Man einigt sich darauf, dass ein bestimmtes „herrenloses Gut“ einem Einzelnen zu Eigen wird, ihm gehört. Damit könnte die Gemeinschaft auch bestimmen, dieses Gut wieder zu verallgemeinern. Manchmal, z.B. in Opferriten, wird individuelles Eigentum wieder der Natur zurückgegeben. 

 Mit der Verkomplizierung der Wirtschaftsweise durch Landwirtschaft, Handel und Gewerbe wurde der Schutz des Eigentums zur zentralen Voraussetzung des Funktionierens. Deshalb gab es z.B. in der frühindustriellen Zeit drakonische Strafen für minimale Diebstahlshandlungen. Ohne Rechtssicherheit in Bezug auf das Eigentum macht die Produktion und der Vertrieb von Waren keinen Sinn. Diese Einstellung wurde zur Selbstverständlichkeit, bis schließlich das Eigentumsrecht als natürlich empfunden wird und so einleuchtend ist, wie das Recht auf die Unverletzlichkeit der Person. 

Allerdings bleibt der grundlegende Unterschied zwischen Person und Sache, Eigentum ist Sache und muss einen anderen Stellenwert als die Person haben. Dieser Unterschied, der den ersten Sozialformen der Menschheit selbstverständlich war und im Lauf der Bewusstseinsevolution immer mehr verwischt wurde, muss für eine künftige gerechtere Gesellschaftsordnung wieder absolut klargestellt werden, und damit wankt das Dogma des Eigentums. 

Wir stehen an der Schwelle einer neuen Bewusstseinsebene, dem systemischen Bewusstsein. Vor ihm hat nichts Bestand, was sich einfach nur auf Tradition und ankonditionierte Werte stützt. Alle heiligen Kühe werden geschlachtet. Wenn wir lernen, das systemische Bewusstsein zu adaptieren, braucht es deshalb auch eine neue Reflexion über das Eigentum. Wir können nicht einfach als gegeben hinnehmen, dass einige wenige wesentlich mehr Eigentum haben als die vielen anderen und damit mehr Einfluss und mehr Macht in der Gesellschaft ausüben können. Allerdings scheint diese Frage zu den schwierigsten und kniffligsten zu zählen, die am Übergang zu einer systemischen Gesellschaftsordnung gelöst werden müssen. Ich kann hier auch nur ein paar Schemen von dem skizzieren, was kommen kann, wenn nicht muss. 

Da grundsätzlich und ursprünglich allen alles gehörte, kann eine Menschheit nicht im Frieden mit sich sein, wenn die Unterschiede im Eigentum so gravierend sind. Je gleichmäßiger die Verteilung erfolgt und je mehr sie sich an Kriterien des Gemeinwohls orientiert statt an privater Bereicherung, desto ausgeglichener und reibungsfreier wird die Gesellschaft funktionieren, vorausgesetzt, dass die Menschen die systemische Vernunft verstanden und integriert haben. Es müssen die Ängste bewältigt sein, die mit dem Verlust von Individualeigentum verbunden sind. Dann wird sich ein neuer Bedürfnismix entwickeln, in dem die Antriebe der Gier und der Habsucht fehlen und statt dessen mehr Raum für gemeinschaftliche Motivationen frei wird. 

Wenn sich die emotionale Besetzung von Dingen abschwächt und die Emotionen in den zwischenmenschlichen Bereich zurückkehren, wo sie ihren eigentlichen Ort haben, dann wird die Lösung vom Haben- und Besitzenwollen leicht fallen. Dabei wird es immer eine Sphäre von einfachen Dingen geben, die der Einzelperson zu Eigen sind. Jedes Kind wird weiterhin seine Lieblingsspielzeuge besitzen wollen, und wer gerne ein besonderes Schmuckstück bei sich haben will, soll dieses weiter behalten. Aber viel mehr von den größeren Dingen und Gütern werden in einer Art von Allgemeineigentum stehen, sodass die Einzelnen nicht für sich und aus sich heraus Reichtum anhäufen, sondern durch die und mit der Gemeinschaft ihre Wohlhabenheit definieren. 

Es wird sich dann die Vorstellung ausbreiten, dass die Dinge, über die wir verfügen, Leihgaben sind, nicht von bestimmten anderen Menschen, sondern vom größeren sozialen Ganzen, von dem wir erhalten, was wir brauchen, um ein gutes Leben führen zu können, und dem wir zurückgeben, was wir nicht mehr brauchen und was anderen zugute kommen kann. Wie wir gelernt haben, innerhalb einer funktionierenden Familie die Güter gemeinschaftlich zuzuteilen, kann es auch im größeren Rahmen ablaufen, wenn die entsprechenden von allen akzeptierten Mechanismen der Willensbildung eingeführt sind. 

Auch wenn allen alles gehört, braucht es eine Verteilung in der Nutzung der Güter. Nicht jeder kann alles gleichermaßen gebrauchen. Deshalb wird es immer auch Unterschiede im Eigentum geben. Doch sollte diese Verteilung flexibel bleiben, also nicht in das alleinige Verfügungsrecht Einzelner übergehen. Wenn sich Menschen nicht mehr über ihren Besitz definieren, hängen sie auch nicht mehr emotional an der Verfügungsmacht über Dinge. Wie Ämter und Entscheidungspositionen nur so lange ausgeübt werden, wie das für das Gemeinwohl sinnvoll ist, wird auch die Nutzung von Dingen dann aufgegeben, wenn sie nicht mehr im größeren Zusammenhang vernünftig sind. 

Zum Beispiel kann der Besitz eines Autos an den Wohnort geknüpft sein – überall, wo es eine gute Anbindung an öffentliche Verkehrsnetze gibt, wäre die Autonutzung nicht sinnvoll, außer für Transporte oder größere Reisen. Dafür könnten auch gemeinschaftlich genutzte Fahrzeuge zur Verfügung stehen. Wer in entlegenen Gebieten wohnt, könnte die individuelle oder familiale Nutzung eines Autos zugesprochen bekommen, die bei einer Übersiedelung in ein besser erschlossenes Gebiet wieder entzogen wird. 

Was den Wohnort selber betrifft, werden individuelle Vorlieben einen Stellenwert behalten – der eine will mehr in der Stadt, die andere mehr am Land leben. Doch sind sie nicht die einzige Richtschnur, sondern z.B. auch der Ort der Tätigkeit, die jemand ausführt, die sinnvollerweise in der Nähe der Wohnung lieben sollte. Es werden die Menschen nicht mehr als vernünftig und stimmig erachten, zwischen Wohn- und Arbeitsstelle große Distanzen zu legen, und sie werden auch die Flexibilität aufbringen, den Wohnort mit der Arbeitsstelle zu wechseln, sobald die Wohnung oder das Haus nicht ihr Eigentum ist, zumal auch die Unterschiede in der Lebensqualität zwischen verschiedenen Wohnmöglichkeiten geringer werden. 

Eigentum und Leistung 


„Leistung muss sich lohnen“, lautet ein politischer Slogan. Über Leistung soll Eigentum zugeteilt werden, so will es die liberale Doktrin. Wer mehr leistet, soll mehr vom Kuchen kriegen. Eigentum ist Leistung, die als Immobilie oder als ein Berg von Aktien zur dinglichen Wirklichkeit gelangt. Auch dem systemischen Bewusstsein ist klar, dass jede Leistung auch eine adäquate Anerkennung finden sollte. Jede Leistung, das heißt also nicht nur das Leiten einer Firma oder das Lenken eines Flugzeugs, sondern auch die Obsorge für ein menschengerechtes Aufwachsen der Kinder oder eine menschengerechte Pflege alter Menschen, dazu gehört ein Einkauf für einen bettlägrigen Nachbarn oder ein unterstützendes Gespräch mit einer problembeladenen Bekannten. 

Alles, was der Gesellschaft und ihren Mitgliedern Nutzen bringt, ist eine Leistung, die sich lohnen soll. Dazu kommt, dass die Leistung auf die Leistungsfähigkeit abgestimmt werden muss. Es gibt Menschen, die gerne 60 Stunden arbeiten und andere, die mit 25 Stunden an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gelangen. Müssen die, die gerne viel arbeiten, deshalb unbedingt mehr verdienen? 

Wenn wir den Begriff der Leistung von seinen materialistischen Kontexten befreien, ihn also primär unabhängig von Geld und Gewinn definieren, werden sich auch neue Perspektiven auf unser Verhältnis zum Eigentum öffnen. 

Der Wille zur systemischen Vernunft 


Die Einführung solcher Systeme funktioniert nicht mit Zwang. Freiwillig stimmen Menschen einem Eigentumsverlust nur zu, wenn sie dafür einen größeren Nutzen empfangen, wie er im systemischen Denken möglich wird, wo Nutzen nicht mehr egoistisch oder auf die eigene Gruppe beschränkt gesehen wird, sondern in einem übergeordneten Zusammenhang eingebettet ist. Dann wird z.B. die Reduktion von umweltbelastenden Fortbewegungsmitteln als individueller Gewinn empfunden und in der inneren Wertung der individuellen Nutzung von Fahrzeugen vorgezogen. Die Menschen werden erkennen, wieviel Zeit und Mühen sie in den Erwerb von Gütern stecken, wie viele ihrer Sorgen und zwanghaften Gedanken um Geld und Eigentum kreisen, die nur einen winzigen Teil ihrer Bedürfnisse stillen. Sobald sie andere Formen des Lebens zu schätzen lernen, in denen sie ihre Kreativität und Individualität besser zum Ausdruck bringen können, als in den mechanischen Organisationen des leistungsorientierten Geldverdienens, können sie leichter auf die materiellen Kompensationen für ihre Lebensenergie verzichten. 

Wenn genügend Menschen aus freien Stücken auf ihre Eigentumsrechte verzichten, weil sie darin mehr Vorteile für ihre Lebensqualität als Nachteile sehen, erst dann kann dieser Schritt politisch umgesetzt werden. Suchen wir unsere Sicherheit nicht mehr in den Dingen und Finanzwerten, so können wir die Erleichterung und Befreiung ermessen, die wir als dafür Geschenk empfangen. 

Weltweite Folgen 


Die weltweiten Auswirkungen einer grundlegenden Veränderung der Eigentumsordnung wären ungeheuerlich. Zunächst braucht es hier Zeit, dass Milliarden von Menschen die Erfahrung ermöglicht wird, was es heißt, sich „alles leisten zu können“ oder zumindest Güter erwerben zu können, die nicht zur unmittelbaren Sicherung des Überlebens benötigt werden. Es würde sich eine globale Entwicklung anbahnen, die das Reichtums- und Wohlstandsgefälle immer mehr ausgleicht. Dieser Weg führt dann in eine Richtung, die die Ressourcen des Planeten in gemeinsamer Verantwortung einer nachhaltigen Nutzung zuführt, sodass sich die Menschheit in materieller Sicherheit und Frieden weiter entwickeln kann. 

Zeiträume 


Wie an anderen Punkten des Übergangs in das systemische Bewusstsein ist auch hier große Achtsamkeit notwendig. Erst wenn es eine kritische Masse von Menschen gibt, die mit dieser Denkweise und den entsprechenden Wertsystemen vertraut sind, kann eine tiefgreifende Änderung in der Eigentumsordnung stattfinden. 

Es wird viel wechselseitiges Vertrauen und effektive Kontrolle brauchen, damit nicht Einzelne das System zu ihren Gunsten ausnutzen und damit wieder Ungleichgewichtungen hervorrufen, die dann die Menschen aus ihrer systemischen Bewusstheit herausreißen können, indem schon überwunden geglaubte alte Ängste mobilisiert werden. Wir können uns lebhaft vorstellen, wie populistische Politiker versuchen werden, solche Ängste zu schüren, solange sie unter nicht systemisch aufgeklärten Menschen Gehör finden. Also machen wir uns auf einen langen Zeitraum der Umstellung gefasst, der noch nicht einmal begonnen hat. 

Vielleicht ist die Änderung der Eigentumsordnung eine der letzten, die in der Verbreitung und Implementierung des systemischen Bewusstseins vollzogen wird. Mir persönlich ist es egal, ob solche Prozesse 50, 100 oder 500 Jahre dauern. Allein die Vorstellung, dass eine solche Revolution denkmöglich ist, dass sie in der Logik der Evolution des Bewusstseins enthalten ist und irgendwann einmal unseren Nachkommen zugute kommen wird, beflügelt mich. 

Es ist das Wesen von Utopien, dass sie unseren Vorstellungshorizont dehnen, und aus solchen Dehnungen erwachsen besondere motivierende Kräfte. Lassen wir herausfordernde Ideen in uns einsickern und schauen wir darauf, was sie in unserem Inneren bewirken.