Freitag, 31. Juli 2020

Die Liebenden im 21. Jahrhundert

Die Liebenden“ bilden einen der klassischen Archetypen. Sie repräsentieren das Urbild und und zugleich die Idealform einer gelingenden Beziehung zwischen zwei Menschen. Vorzüglich geht es um Paarbeziehungen, aber auch alle anderen zwischenmenschlichen Beziehungen haben mit diesem Archetypen zu tun. Schließlich geht es auch um die Selbstbeziehung, um die Innendimension, die bei jeder „Außenbeziehung“ mitspielt.

Die Spannung, die mit jedem der Archetypen bezeichnet wird, hängt damit zusammen, dass der zeitlose Inhalt – das „Lieben“ als solches – mit den eigenen persönlichen Prägungen und dem kulturellen Entwicklungsstand in Verbindung gebracht werden muss. Was unter Liebe zu verstehen sei, ist einem Wandel in der Zeit unterworfen und muss fortwährend neu erschlossen und erarbeitet werden. Hier möchte ich ein paar Gedanken entwickeln, die mit dem Liebesbegriff unserer Zeit zu tun haben.


Das romantische Liebesideal


Unser Liebesideal ist stark von der Romantik geprägt, das zeigt uns jeder amerikanische Liebesfilm und jeder Romanbestseller. Ob ich glücklich bin im Leben, hängt davon ab, ob mich ein anderer Mensch vollständig und abgöttisch liebt. Wir wissen natürlich, dass solche Liebeserwartungen aus kindlichen Frustrationen abstammen, die aus der mangelnden Fähigkeit unserer Eltern im Bereich der „interaktiven Affektregulation*“ entstanden sind. In dem Maß, wie sie unsere emotionalen Bedürfnisse missverstanden oder übersehen haben, bilden sich innere Löcher, die dann durch erwachsene Liebesbeziehungen gefüllt werden sollten. 

Die romantische Liebe ist also geprägt vom Illusionsmodell der Füllung frühkindlicher emotionaler Löcher und Mängel, vom Versprechen, dass es irgendwo auf der Welt den Menschen gibt, der alles hat, was unser inneres verhungertes Wesen entbehrt. Diese Form der Liebe ist eng mit einer Sehnsucht verknüpft, die nie zufrieden ist und immer weiter suchen muss. Die Sehnsucht besagt, dass es einmal ein Ende geben müsste mit dem Leiden an der Liebe und der Frustration. Deshalb reimt sich Herz und Schmerz im Kitsch und deshalb geht jede Liebeskomödie und jedes Liebesdrama durch Phasen der Distanzierung und Verletzung und findet dann vielleicht zum Happy-End oder auch nicht. Denn in der Sehnsucht ahnen wir auch, dass wir einer Illusion nachrennen.

Im Ideal der romantischen Liebe steckt eine weitere Sehnsucht, die angesichts der steigenden Erwartungen an das Glücksversprechen Beziehung immer wichtiger wird. Es ist die Sehnsucht nach Unbefangenheit und Unschuld in der liebenden Begegnung. Sie befindet sich in einem Spannungsbogen zu den Ungewissheiten und Unsicherheiten im Feld der Begegnung, das oft einem Minenfeld gleicht: Eine falsche Bewegung, und die Bombe geht hoch. Ein Wort, ein Blick, eine Berührung, als lieblose Botschaft interpretiert, und schon ist die Liebe dahin. Kleine Fehler oder Missverständnisse können desaströse Konsequenzen haben.

Woher kommt die hohe Sensibilität und Empfindlichkeit, die wir in die Beziehungen hineinbringen? Woher kommt die Erwartung, dass bis in die kleinsten kommunikativen Nuancen ein optimales Eingehen auf die eigenen Bedürfnisse als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf? Über viele Jahrhunderte zumindest der europäischen Geschichte war die liebevolle und zärtliche Liebesbeziehung, wie wir sie heute als trendsetzende Norm annehmen, die seltene Ausnahme. Ehepartnerschaften waren ökonomische Zweckgemeinschaften verbunden mit der Aufgabe, Kinder zu kriegen, die die eigene Altersversorgung absichern. Die wirtschaftlichen Überlebenszwänge waren so mächtig, dass sich ihnen alle emotionalen Befindlichkeiten unterordnen mussten.

Die Verfeinerung der Menschenrechte


Erst durch die Entlastung von diesen Zwängen, die durch die Phasen der Industrialisierung für immer mehr Menschen möglich wurde, konnte das romantische Liebesideal zum Leitbild werden, zum Maßstab für ein gelungenes Leben. Zugleich bewirkt die umfassende Absicherung der Existenz, wie sie in unserer Wirtschaftsform angestrebt wird, das Zutagetreten der feineren emotionalen Bedürfnisse, die in den Liebesbeziehungen erfüllt werden sollen. Da wir von vielen Existenzsorgen freigespielt sind, melden sich die tieferliegenden Mängel in den Emotionalkörpern. Der Fortschritt in der inneren Befreiung muss weitergehen. Es genügt nicht, dass die Menschenrechte auf einer allgemeinen Ebene respektiert werden, vielmehr ist das Ziel, alle Ebenen des Zusammenlebens mit Achtung und Wertschätzung zu durchdringen – ein hehres Ideal, das oft schon im Beziehungsalltag an Kleinigkeiten scheitern kann.

Die hohe Sensibilität vieler Menschen, Folge früher oder oft über Generationen weitergegebener Traumatisierungen, wird zunehmend als besondere Persönlichkeitsqualität geachtet und nicht mehr als z.B. „hysterisch“ pathologisiert. Denn es braucht sensible Menschen, damit subtile Machtstrukturen und Abwertungsmechanismen aufgedeckt werden können, die andere für selbstverständlich halten und ohne Hinterfragung praktizieren. Symptome dieser Entwicklung sind die Verfeinerung und Verschärfung von Standards, Verhaltensweisen – vor allem im sexuellen Bereich – an den Pranger zu stellen, die vor längerer Zeit gängig, vor kürzerer Zeit Kavaliersdelikt waren, und jetzt strafbar geworden sind.

Systematisch werden die Verzweigungen des patriarchalen Machtgefälles zwischen Männern und Frauen thematisiert und in der Öffentlichkeit diskutiert, und nur mehr rechtsgerichtete Politiker oder Publizisten können sich leisten, die Patriarchen in Schutz zu nehmen (und müssen mit Shit-Storms rechnen). Es ist ein Fortschritt über Bewusstsein der Menschenrechte, dass Macht, die ohne sachlichen Grund über Menschen ausgeübt wird, eingeschränkt werden muss. Menschen können Macht ausüben, indem sie Hass in sozialen Medien verbreiten oder Fotos von Intimbereichen machen und veröffentlichen. Das nicht mehr als bloß unangenehme Zeiterscheinung, sondern als Delikt gegen die Menschenrechte anzusehen, ist eine notwendige Entwicklung, um die Rechte der Personen und damit ihre Integrität effektiv zu schützen.

Sensibilität und Toleranz


Diese Entwicklung zu einer menschengerechteren Gesellschaft, die vom Wunsch nach mehr Liebe getragen ist, führt andererseits dazu, dass die individuellen Ansprüche steigen und damit die Möglichkeiten für Missverständnisse und Konflikte in Beziehungen anwachsen. Der  Zugewinn an Feinfühligkeit und Sensitivität kontrastiert mit einem Mangel an Toleranz für jede Unsicherheit oder Unbeholfenheit. Die neuen Standards werden oft mit der Wut eines hilflosen Kleinkindes eingefordert, und die erwachsene Person kombiniert sie mit der Drohung des Beziehungsabbruchs.

Wir brauchen also auch ein Weiterwachsen in der Kultur der Toleranz und der Nachsichtigkeit. Emotionale Lernprozesse entwickeln sich in ihren eigenen individuellen Geschwindigkeiten und nicht nach der Maßgabe von überzogenen Erwartungen und emotionalem Druck. Beides also, die Verfeinerung in der Thematisierung von kommunikativen Unstimmigkeiten und Lieblosigkeiten und die Kraft, sie auszuhalten ohne auszurasten, ist notwendig, um Liebesbeziehungen im 21. Jahrhundert in Balance halten zu können. Wir brauchen eine angemessene, gewaltfreie Sprache, um unsere individuellen Bedürfnisse und Erwartungen im Dialog abzustimmen und damit Räume für die liebende Begegnung öffnen.

* Unter der interaktionellen Affektregulation (nach Allan Shore) versteht man konkordante, auf die Bedürfnis- und Gefühlslage des Babys abgestimmte Reaktionen der Eltern, die die Grundlage für das Erlernen der schrittweisen Regulation der Gefühle beim Baby bilden. In den gelungenen affektiven Interaktionsprozessen zwischen Mutter und Kind wachsen die entsprechenden neuronalen Verschaltungen, die es dem Kind zunehmend erlauben, seine Gefühle in den Griff zu bekommen und eine erfüllte Selbstbeziehung aufzubauen. Näheres dazu in meinem neuen Buch: „Die Scham, das geheimnisvolle Gefühl“ (im Erscheinen).

Montag, 13. Juli 2020

Wirklichkeit und Fantasieprodukte

Was ist die Wirklichkeit? Das, was wir als wirklich über unsere Wahrnehmung erfahren, so die bescheidene Antwort, seit Immanuel Kant jede andere Form der scheinobjektiven Erkenntnis einer profunden Kritik unterzogen hat.

Wir verfügen über eine direkte Wirklichkeitserfahrung, die uns die Sinne liefern, nämlich über die aus der inneren und der äußeren Wirklichkeit (die Welt unserer Körperempfindungen, Gefühle usw. und die Welt außer uns, die wir sehen, hören, riechen usw.). Wir befinden uns aber nicht immer in einem dieser beiden Kanäle der Erfahrung, sondern halten uns recht häufig in den Bereichen der mentalen Produktionen auf, im mentalen Kino, das von der Wahrnehmungswirklichkeit relativ unabhängig ist. Es ist eine Welt, die zu einem großen Teil aus selbstfabrizierten Konzepten und Erzählungen besteht.

Wir haben die Neigung, in eine Geschichte zu kippen, sobald uns etwas an der aktuellen Wirklichkeit nicht gefällt. Es sind also vor allem Ängste vor etwas Lästigem oder Verstörendem, die uns aus dem Moment weglocken und in die Fantasie führen. Dort hoffen wir, die unangenehmen Gefühle überschreiben zu können, um innerlich wieder in die Komfortzone zu gelangen. Wir beamen uns weg, und die Gefühle verändern sich gleich mit. Auf diese Weise entwickeln sich Gewohnheiten für die Vermeidung von Ängsten, Schmerzen und Schamgefühlen.

Beispiel: A hat den Eindruck, von B feindselig angeschaut zu werden. Dann läuft eine Geschichte ab, was in B vorgeht, ohne Bezugnahme auf eine Quelle der Evidenz. Die Geschichte kann in A feindselige Gefühle gegen B auslösen, gespeist von früheren Erfahrungen mit B oder mit jemandem, an den B erinnert. B war vielleicht gar nicht auf A fokussiert, sondern mit etwas anderem innerlich beschäftigt. Ohne Nachfrage von A: “Hast du was gegen mich?” lässt sich der Sachverhalt nicht aufklären und bleibt in einer Wolke, die sich jetzt zwischen A und B aufbaut, erhalten. Wenn A jetzt finster schaut, kann eine ähnliche Geschichte in B entstehen. An einem bestimmten Punkt können sich die Wolken entladen, und es kommt zu einem Gewitter, bei dem jeder der beiden das Gefühl hat, dass der Anfang, die Ursache und die Schuld des Konflikte beim anderen liegt.

Geschichten sind Produkte der Fantasy-Abteilung unseres Gehirns. Sie speisen sich aus Erlebtem und kombinieren es mit Erfundenem, daraus entsteht ein Werk namens „Dichtung und Wahrheit“, das laufend neu erschaffen (updated) wird. Schon Goethe wusste, dass Erinnerungen niemals vollkommen zuverlässig und akkurat sind, sondern allenfalls Annäherungswerte an vergangene Realitäten darstellen, die sich zudem in den meisten Fällen nicht überprüfen lassen, weil eben die Vergangenheit vergangen ist. Die Erinnerungen verbinden sich meist mit einer der vielen anderen Formen der Fantasieerzeugung, z.B. mit den Projektionen.

Projektionen


Die Projektionsgeschichten verlaufen nach einem festgelegten Schema. Das, was uns an uns oder in uns nicht gefällt, wird in einer anderen Person wahrgenommen. Damit sind wir das Problem los, und wir haben eine Geschichte erfunden, die dieser Person angehängt wird. Das Problem mit dem Problemexport liegt freilich darin, dass wir nie eine Lösung finden können, weil diese in der Verantwortung der anderen Person gelegt wird. Wir geraten in die Position eines Opfers, das die Situation nicht aus eigenen Kräften ändern kann.

Projektionen unterlaufen uns laufend. Wir verfügen über äußerst produktive Projektionsabteilungen, die sich auf ausgeprägte Projektionsgewohnheiten stützen können und immer wieder neue Geschichten erfinden. Es gibt Menschen, die sich hauptsächlich in der mentalen Welt der Projektionen aufhalten und die von anderen als psychotisch bezeichnet werden.

Wir leben in Zeiten der Massenproduktion von falschen Wirklichkeiten, also von Erfindungen, die als Realitäten dargestellt werden, und in Zeiten der Verleitung zu Psychosen mit dem Ziel, die Grenze zwischen Fakten und Fiktion zu verwischen. Wenn möglichst viele Menschen den Kontakt zu ihrer Erfahrungswirklichkeit verloren haben, ist es ein leichtes, die eigenen ökonomischen oder politischen Ziele widerstandslos durchzusetzen. Deshalb ist die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen den Kopfprodukten und der von uns unabhängigen Wirklichkeit keine Spielerei oder Luxusbeschäftigung, sondern unerlässlich für unsere innere Klarheit und für eine menschengerechte und soziale Gesellschaft.

Damit wir also bei geistiger Gesundheit und Zurechnungsfähigkeit bleiben können, ist es erforderlich, die Kraft der Unterscheidung der äußeren und inneren Wirklichkeit von unserer Fantasiefabrik zu stärken und zu schärfen. Wenn uns diese Kraft abhandenkommt oder abspenstig gemacht wird, ist nicht nur kollektiv das Projekt der Aufklärung (des „Ausgangs aus der Unmündigkeit“) in Gefahr, sondern auch unsere individuelle Vernunft und Verstandeskompetenz. Zwischen Wirklichkeit und Fantasie gibt es entweder eine klare Grenze, über die wir uns auch mit anderen Menschen verständigen können, oder die Verwirrung und schließlich der Wahn, in dem jeder nur mehr orientierungslos herumtaumelt, nimmt überhand.

Geteilte Wirklichkeiten


Kommunikation zwischen Menschen macht nur Sinn, wenn es Bedeutungen gibt, die interindividuell außer Streit stehen. Solche geteilten Bedeutungen können Fantasieprodukte sein, wenn sich z.B. Personen darüber verständigen, dass es keinen menschengemachten Klimawandel gibt. Tendenziell führen solche konstruierten Scheinfakten zur Entstehung von Meinungsblasen, innerhalb derer sich Menschen einig sind, dass sie über die wahre Deutung der Wirklichkeit verfügen und alle andere einem Wahnsystem folgen. Typisch dafür ist, dass der Realitätscheck ausbleibt und alternative Sichtweisen keinen Platz haben, sondern bekämpft werden. Die Folge ist eine in verschiedene Meinungsblasen zersplitterte Gesellschaft, in der jede Blase auf die andere mit Verachtung und Zuschreibung von Verrücktheit zeigt.

Eine Gesellschaft, die handlungsfähig bleibt und Lösungen für die von der Wirklichkeit herangetragenen Probleme ausarbeiten kann, braucht Zugänge zur Erkenntnis, die auf einer klaren Unterscheidung von Fantasie und Wirklichkeit beruhen. Diese Unterscheidung braucht einen Konsens, der von einer großen Mehrheit getragen wird – selten wird es gelingen, dass alle hinter einer bestimmten Erkenntnis stehen. 

Kommunikation kann nur dann gesellschaftlich konstitutiv und gemeinwohlerhaltend wirken, wenn sie sich auf genügend viele Sachverhalte beziehen kann, deren Existenz außer Zweifel steht. Nur wenn z.B. die meisten Diskursteilnehmer die Auffassung vertreten, dass Gewalt gegen Kinder neben körperlichen auch seelische Schäden hinterlässt, kann eine Norm entstehen, die gewaltsame Übergriffe von Erwachsenen auf Kinder kritisiert, ächtet und schließlich kriminalisiert.

Erkenntnisproduktion aus der Wirklichkeit


Die Wissenschaften stellen das Unterfangen dar, möglichst viele Sachverhalte darzustellen, die sich im Diskurs bewähren und damit ein Netz von verlässlichen Aussagen über die Wirklichkeit erlauben. Die methodische Überprüfung der Ergebnisse gewährleistet diese Verlässlichkeit, die die praktische Umsetzung für die Entwicklung von technischen Geräten, Medikamenten oder sozialen Normen möglich macht. Wissenschaft funktioniert, indem sie so nahe wie möglich an der Realität dran bleibt und sich permanent an der Wirklichkeit misst. Ideologien stützen sich dagegen auf Fiktionen, auf Uminterpretationen der Wirklichkeit unter dem Einfluss von Fantasien und emotionsgesteuerten Geschichten und sind deshalb zur Wirklichkeitserkenntnis nicht tauglich. Was zur Wirklichkeitserkenntnis nicht tauglich ist, ist auch zur Lösung gesellschaftlicher Probleme nicht tauglich.

Die Wissenschaften haben deshalb auch Instrumente entwickelt, die Ideologien in Frage stellen und an der Wirklichkeit überprüfen. Die Ideologiekritik stützt sich auf die Unterscheidung zwischen Faktizität und Fiktion, zwischen Wahrheit und Dichtung. Es ist klar, dass jede Gesellschaft Ideologien braucht, solange unaufgeklärte Emotionen die Wertbildung und Entscheidungsfindung ihrer Mitglieder beeinflusst, vor allem diffuse Ängste, die oft transgenerational weitergegeben werden. Es ist zugleich notwendig, dass die Ideologien als solche gekennzeichnet werden, wie die Herkunftsbezeichnung auf Lebensmitteln, sodass jeder weiß, was sich hinter einer politischen Stellungnahme verbirgt, woher sie kommt und worauf sie abzielt. 

Je weiter das Projekt der Aufklärung fortschreitet, desto weiter wird der Einfluss von ungeklärten Emotionen zurückgedrängt. Bildung, Ausbildung und Reflexion machen den als Wirklichkeiten getarnten emotionalisierten Geschichten langsam aber sicher den Garaus. Auch wenn manche Zeichen in die Gegenrichtung zeigen, z.B. die systematisch betriebene Erzeugung von falschen Wahrheiten, gibt es Grund zur Annahme, dass die Aufklärung unaufhaltsam im Fortschreiten begriffen ist, weil sie erfolgreicher im Umgang mit der Wirklichkeit ist. Alle Manipulatoren und Wirklichkeitsvernebler stützen sich in irgendeiner Form auf die Wissenschaften oder eine von ihnen hervorgebrachten Technologie.

Spekulative Ideengebäude wie die Astrologie z.B. mögen ihre Meriten haben, sind aber nicht dienlich für die Erfindung von Maßnahmen, die den Klimawandel bremsen oder die Artenvielfalt erhalten. Genauso wenig hilfreich für die Lösung globaler Probleme sind Ideologien wie der Neoliberalismus oder der Rechtskonservativismus. In ihren Grundannahmen gibt es keinen Platz für Wege zur Bewältigung der Konflikte, die sie selber produziert haben und die den Weiterbestand der Menschheit bedrohen. Wir brauchen Daten, Fakten, Forschungen und daraus entwickelte technische Verfahren, die aus den Schieflagen heraushelfen und neue Perspektiven öffnen. Das funktioniert nur dort, wo die Wirklichkeit das Sagen hat und ihr zugehört wird. Wo sich die internen Kopfgeburten als absolute Wahrheiten aufspielen, entsteht die Verwirrung.

Bewusstheit


Wie können wir herausfinden, ob wir in einer Projektion oder im aktuellen Wirklichkeitskontakt sind? Wenn wir im Großen unter der Vermischung von Wirklichkeit und Fantasie leiden, sollten wir doch in uns selbst beginnen, die Unterschiede zu klären und uns nicht mehr in Geschichten, die wir für die Wirklichkeit halten, verfangen. Denn jedes Abgleiten in eine Fantasieproduktion, die uns unterläuft, ist ein Beitrag zur Vernebelung der Welt und zur sektiererischen Blasenbildung.

Wir sollten uns bewusst sein, dass solche Wirklichkeitserschaffungen andauernd in unserem Gehirn ablaufen, sodass wir immer wieder nachfragen müssen, was davon zur Wirklichkeit und was zur Erfindung gehört. Die Aufgabe liegt im Abklären, was der Fall ist und was nicht, was also im Äußeren Bestand hat und im gegenwärtigen Moment für unsere Sinne erreichbar ist, und was eine flüchtige Eigenproduktion im Kopf darstellt.

Aus dem aktuellen Wirklichkeitserleben verleiten uns innere Irritationen, hinter denen zumeist Ängste stecken. Sie nehmen unser inneres Erleben in Beschlag und erzeugen Illusionen und Fantasien, die wir mit der Wirklichkeit verwechseln. Befinden wir uns in einem Erregungszustand, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sich unsere Wahrnehmung verengt und reduziert und statt dessen die innere Produktion von Wirklichkeitsvorspiegelungen Platz greift.

Es geht nicht darum, fortwährend präsent zu sein und nichts als den aktuellen Moment wahrzunehmen. Dieser Anspruch ist schwer zu verwirklichen. Da mischt sich schnell die Selbstabwertung ein, sobald wir merken, wir hängen in einer Geschichte fest. Sie tadelt uns wegen der mangelhaften Konsequenz und Disziplin, und damit sind wir natürlich auch schon wieder in einer Geschichte verfangen. 

Der Schlüssel liegt Bewusstheit und Achtsamkeit, das ist das, was wir lernen können: Zu erkennen, wann wir in unserer Vergangenheit festhängen und wann wir im Moment des Erfahrens sind. Immer wenn uns diese Bewusstheit zur Verfügung steht, sind wir schon im Moment, auch wenn wir erkennen, dass wir gerade in einer Geschichte waren, die uns in Bann gehalten hat. Die Selbsterkenntnis führt uns zu unserem direkten und unmittelbaren Erleben zurück. 

Je mehr wir im gelassenen Entspannungszustand verweilen, desto mehr steht uns die Wirklichkeit in ihrer Breite und Fülle zur Verfügung, wir genießen die Schönheit und Vielfalt der Eindrücke. Es ist dann ganz einfach, im Moment des Erlebens zu bleiben, ohne in Geschichten abzugleiten.

Die Bewusstheit über das, was gerade ist, ermöglicht uns die Wahl: In unserer Fantasie zu bleiben und sie weiterzuspinnen oder uns der Wirklichkeit zuzuwenden und direkte Erfahrungen zu machen. Wir können uns das zur Achtsamkeitsübung machen: Immer wieder in uns nachfragen, ob wir in uns selber kreisen oder auf etwas außerhalb unserer Fantasie bezogen sind.