Samstag, 28. März 2020

Von der Angst zur Ethik

Es ist zurzeit viel die Rede von der Krise und dem Lernen daraus. Wir befinden uns in einer Umstellung der Lebensverhältnisse, wie sie die westliche Zivilisation seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr betroffen hat. Während sich die Delfine in den Häfen freuen, in denen keine Kreuzfahrtkolosse ankern, während die Fische in den Kanälen von Venedig wieder Futter finden, stellt sich die Frage, ob die Erholung, die die Umwelt erfährt, nur eine kurzfristige Episode bleiben wird oder ob eine nachhaltige Trendumkehr bevorsteht. Es stellt sich die Frage, ob die neuen Erfahrungen mit Verzicht, Isolation, veränderten sozialen Kontakten, Verlangsamung der Lebensabläufe zur Veränderung von Einstellungen führen oder als unliebsame Phase übertaucht werden, um möglichst rasch zur alten verschwenderischen Lebensweise zurückzukehren.

Wir wissen nicht, in welche Richtung die Reise weitergehen wird. Wir wissen aber, dass sich eine Tür geöffnet hat, die wir weiter aufmachen können oder die wir einfach wieder zufallen lassen, sobald der Druck weg ist. Viele Menschen halten an ihren Gewohnheiten fest und wollen zu ihnen zurückkehren, sobald sich eine Notsituation entspannt hat. Wir in den westlichen Ländern leben zu einem großen Teil im Luxus, der die Eigendynamik der Unzufriedenheit enthält, die immer noch mehr will, oder zumindest das Gleiche wie irgendein Nachbar. 

Die Ethik setzt dort ein, wo die von Angst getriebenen Notwendigkeiten aufhören. Ethisch entscheidet jemand, der sich nicht vor einer Ansteckung fürchtet und Hilfeleistungen für Bedürftige erbringt. Ethisch entscheidet jemand, der ein knappes Gut nicht hortet, sondern denen überlässt, die es dringend brauchen, oder jemand, der zuhause bleibt, um niemanden anzustecken usw. Diese soziale Orientierung ist ein wichtiges Bindeglied in jeder menschlichen Gesellschaft. 

Der Neoliberalismus hat dieses Bindeglied geschwächt und den kollektiven Egoismus befeuert. Nun hat ein Virus dafür gesorgt, dass die politisch Verantwortlichen das Gemeinwohl über den wirtschaftlichen Gewinn stellen müssen. Es werden wieder ethische Haltungen empfohlen und anerkannt, statt dem Wirtschaftswachstum im Zweifelsfall die Priorität einzuräumen. 

Aber so stimmig und natürlich diese Einstellungsänderung erscheint, so stimmig und „natürlich“ war für viele vorher die neoliberale Zielsetzung des unbegrenzten Wachstums und der individualisierten Gewinnmaximierung. Geben wir uns nur jetzt, angesichts offensichtlicher Not, ein wenig mehr Menschlichkeit, um dann wieder in die Engstirnigkeit des Leistens und der Konkurrenz zurückzukehren, so als ob nichts gewesen wäre? Wird uns dann wieder das nationalistische Grenzsichern vor Fremdlingen zum Hauptanliegen?


Die Zukunftsintelligenz nutzen


Der Zukunftsforscher Matthias Horx geht von einer Trendwende aus. Er hat mit einer Re-gnose (einer Rückschau aus der Zukunft in die Gegenwart) ein optimistisches Szenario beschrieben, in dem die  Gegenwartsbewältigung durch einen Zukunftssprung vorangetrieben werden soll.

Natürlich ist es hilfreich und sinnvoll, ein Denken, das wir für die Zukunft brauchen oder in ihr erst entwickeln werden, vorwegzunehmen. Das geht aber nur, wenn wir der Zukunft angstfrei entgegentreten und uns auf den Sog der Imagination einlassen. Denn damit stärken wir in uns die Kräfte und Potenziale, die wir später brauchen werden. 

Der Schlüssel liegt in all den Dingen bei der Angst. Denn sie hindert uns am Visionieren und Imaginieren. Sie bindet uns an die Vergangenheit und all den Gefühls- und Denkmustern, die ihr entstammen. Sie scheut sich vor jedem Wagnis, das aus den gewohnten Einstellungen und Verhaltensschleifen führen würde. 

Dagegen meint Horx, dass uns die vorweggenommene Zukunftsintelligenz aus der Enge herausführt:  „Wir verlassen die Angststarre und geraten wieder in die Lebendigkeit, die zu jeder wahren Zukunft gehört.“ Nur lassen sich vor allem jene von dieser Zukunftsintelligenz leiten, die jetzt schon weniger von Angst getrieben sind.

Ob sich der Optimismus von Horx bewahrheitet, wissen wir nicht, weil nicht klar ist, wieweit sich die Menschen ihrer Ängste bewusst sind und sie nach dem Ende der Krise hinter sich lassen können. Dazu müssten sie auch die Scham überwinden, die mit der Angst verbündet ist und tieferen Einsichten im Weg steht. Weiters ist nicht klar, ob die Vorteile und neuen Erfahrungen zu dauerhaften Einstellungsveränderungen führen. Es steht zu befürchten, dass nach dem Ende der Pandemie-Bedrohung die alten Bedrohungsszenarien wieder in den Vordergrund treten und die Angststarre weiterhin füttern. Die alten Gewohnheiten rasten wieder ein und es geht so weiter wie vorher, mit vielen neuen Erzählungen und wenig neuen Einsichten.

So mancher wird vielleicht wegen einer Kreuzfahrt, die jetzt ins Wasser gefallen ist, im nächsten Jahr drei machen. Andere werden vielleicht die Zeiten des Zuhauseseins, über die sie jetzt jammern, vermissen, wenn sie wieder frühmorgens zur Arbeit gehen müssen. Andere werden vielleicht ein paar Elemente des vereinfachten Lebensstils beibehalten, weil sie erkannt haben, dass nachhaltiges Leben mit einem Gewinn an Lebensqualität verbunden sein kann. Ganz unverändert wird die westliche Welt nicht aus dieser Krise heraustreten, ob ein größerer Wachstumsschub im Sinn der Bewusstseinsevolution stattfindet, dürfen wir hoffen, trotz zweifelhafter Ausgangslage.


Finden wir zur gemeinschaftlichen Vernunft?


Der deutsche Philosoph Markus Gabriel steht vor der gleichen Ungewissheit, wenn er schreibt: „Warum löst eine medizinische, virologische Erkenntnis Solidarität aus, nicht aber die philosophische Einsicht, dass der einzige Ausweg aus der suizidalen Globalisierung eine Weltordnung jenseits einer Anhäufung von gegeneinander kämpfenden Nationalstaaten ist, die von einer stupiden, quantitativen Wirtschaftslogik angetrieben werden?“

Die suizidale Wirtschaftsordnung, die Gabriel anspricht, ist aus der gleichen Quelle von Angst und Scham genährt, die in der Viruskrise die Menschen umtreibt. Suizidal wird, wer den Kontakt mit dem Leben und seinen einfachen Schätzen verloren hat, wer also in der Angst feststeckt und auf den Tod zusteuert, weil er sich überall vom Tod bedroht fühlt. Und diese Form des Selbstmordes betrifft nicht eine einzelne lebensmüde Person, sondern das ganze Kollektiv. Wenn einige mit entsprechender Macht ausgerüstete Menschen einen suizidalen Kurs steuern, ist die gesamte Menschheit mitbetroffen. 

Das neue Programm, das wir uns in der gegenwärtigen Phase bewusst machen können und das eine menschenwürdige Zukunft verspricht, muss jenseits von Angst und Scham gesucht und gefunden werden. Es wird angetrieben von der unsterblichen Idee der gemeinschaftlichen Vernunft, die all die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse ausgleichen kann, sodass jedem Menschen ein seiner Würde entsprechender Platz in der Gesellschaft gegeben werden kann. Dazu sollten sich alle zusammentun, die die Menschheit als Ganze in ihrem Geist fassen können und die Umrisse für eine neue Weltordnung zu entwerfen und ihre Umsetzung anzupacken. 

Oder, im Pathos von Markus Gabriel: „Nach der virologischen Pandemie brauchen wir eine metaphysische Pan-Demie, eine Versammlung aller Völker unter dem uns alle umfassenden Dach des Himmels, dem wir niemals entrinnen werden. Wir sind und bleiben auf der Erde, wir sind und bleiben sterblich und fragil. Werden wir also Erdenbürger, Kosmopoliten einer metaphysischen Pandemie. Alles andere wird uns vernichten und kein Virologe wird uns retten.“

Vielleicht stehen wir nicht vor der Alternative zwischen Rettung oder Vernichtung, sondern zwischen einer Zukunft mit mehr oder weniger Menschlichkeit, zwischen mehr oder weniger Verbundenheit, zwischen mehr oder weniger gemeinsamer Vernunft. Wie auch immer: Jeder Moment zählt, und es zählt, ob er in die eine oder in die andere Richtung investiert wird, von mir, von dir, von uns allen. 

Das menschliche Maß, das die Ethik anstrebt, finden wir nur jenseits der Ängste, dort, wo sich der Blick über den Tellerrand hinauswagt und das große Ganze der Menschheit und des Universums in seiner Erhabenheit erkennt, um sich dort einzuordnen.

Zum Weiterlesen:
Eine Krise des Neoliberalismus



Mittwoch, 25. März 2020

Scham, Schuld, Corona

Scham und Schuld sind Gefühle, die hinter allem stecken können, was uns beschäftigt. Zurzeit gibt es das Hauptthema Virus, und es kann sich lohnen, einen Blick auf die Scham- und Schuldaspekte zu werfen, die darin verborgen sind.

Wie bei allen großen Veränderungen, die unser Leben beeinflussen, führt auch die aktuelle zu einem Rattenschwanz an Erklärungsversuchen, die nach dem oder den Schuldigen suchen. Mal sind es die Chinesen, die den Virus erfunden haben, um dem Westen zu schaden, mal die Amerikaner, um den Rest der Welt noch mehr zu dominieren, mal die Finanzeliten, um mit Spekulation noch mehr zu verdienen usw. Es gibt aber auch scheinbar metaphysische Erklärungen, die „die Natur“ für die Viren  verantwortlich machen und in ihnen eine Waffe sehen, mit der sie sich gegen die Menschen wehrt und dafür sorgt, dass sie von uns nicht noch mehr zerstört wird. Schließlich ist auch davon die Rede, dass der Planet sich mit Hilfe der Viren von der Last einer Überbevölkerung befreien will.

Die Suche nach Schuldigen


Jede dieser Theorien hat mit Scham und Schuld zu tun. Einen Schuldigen zu finden für die Pandemie klingt nach Verantwortung und Aufklärung: Schuldige für ein Unheil müssen ausgeforscht, dingfest gemacht und bestraft werden. Es passiert massives Leid, also muss es massive Schuld geben. Und wo Schuld ist, ist auch die Scham nicht weit.

Sicher gibt es Beamte und Politiker, die in dieser Situation fehlerhaft gehandelt haben. Aber die ganze Problematik und damit auch das Virus selbst als menschliche Erfindung von einigen Bösewichtern darzustellen, ist, solange es dafür keine Beweise gibt (und die Beweislage spricht eindeutig für das Gegenteil), eine ungeheure Beschuldigung gegen Unbekannt. Solche Vorwürfe entspringen dem Bedürfnis nach einem eindeutigen Schuldigen, dem die ganze Verantwortung angelastet werden kann. Wo Schlimmes geschieht, muss es Schuld geben, so haben wir das in der Kindheit gelernt und folglich muss das auch für die große weite Welt und ihre komplexen Abläufe gelten. Wie wir als Kinder für unsere schlimmen Taten beschuldigt, beschämt und bestraft wurden, muss es jetzt auch geschehen, sonst bleibt die Unsicherheit, dass es erneut zu Widrigkeiten kommt, die sich unserer Kontrolle entziehen. 

Damit wird die Scham als Waffe genutzt, die vermeintlich unsere Ehre wiederherstellen kann, die durch eine Krise in Frage gestellt wurde.  Doch ist es das eigene Schambedürfnis, aus dem eine solche Denkweise erwächst. Denn es besteht keinerlei Notwendigkeit, einem Vorgang wie diesem böse menschliche Absichten zu unterstellen – wie gesagt, solange es keine Belege dafür gibt. Die Absicht, böse Absichten ohne Grund zu unterstellen, kommt aus der eigenen Bosheit, die mit Scham unterdrückt und auf andere projiziert wird. 

Ist die Natur ein Subjekt?


Wenn wir die schuldige Instanz in der Natur sehen, die sich rächen will, sollten wir auch auf die Schamthemen schauen, die sich in diesem Erklärungsmodell verbergen. Zunächst wissen wir nicht, ob hinter der Natur und ihren Abläufen ein Plan oder ein planendes Wesen steht. Wir können von einer derartigen Annahme ausgehen, genauso wie von der gegenteiligen, dass es eben keine planende Stelle oder Person oder Intelligenz gibt, sondern dass die Vorgänge und evolutiven Prozesse in der Natur ohne Vorausplanung ablaufen. Das ist zumindest der Standpunkt der modernen Naturwissenschaften, und die Theorie des „kreativen Designs“, die eben einen Architekten des ganzen Ablaufs unterstellt, hat dagegen einen sehr schweren Stand. Sie ist deshalb nur noch in einigen amerikanischen Bundesstaaten angesehen, in denen auch die Evolutionstheorie aus den Schulen verbannt ist. 

Es ist also im besten Fall eine Glaubensfrage, ob die Natur selbständig, nach dem Modell des Menschen, handlungsfähig ist und für sich selbst Verantwortung übernimmt oder nicht. Obzwar wir als Menschen in vielen Fällen planvoll agieren, muss das nicht bedeuten, dass die Natur oder die Existenz als Ganze entsprechend designet sind. Nach all unserem Wissen sind die Menschen die einzigen, die die Herausforderungen ihres Lebens mit dieser Strategie meistern, zumindest zum Teil. Es gibt nahe Verwandte im Tierreich, die über solche Fähigkeiten im Ansatz verfügen, aber damit hat es sich schon. Wir sind ein Spezialfall innerhalb der Vielfalt der Lebensformen, mit einer Intelligenz, die in der Lage ist, die eigene Verfasstheit auf das Ganze zu übertragen, aber ohne die Fähigkeit, absolut entscheiden zu können, ob das sinnvoll ist oder nicht.

Die Natur als Rächerin


Würde es nun stimmen, dass die Natur mit Hilfe von Viren zurückschlägt, um sich der Menschenschädlinge zu entledigen, so sind wir als Menschheit mit einer riesigen Scham beladen, für die wir gerechterweise mit unserer Existenz büßen müssten. Scham ist eben das Gefühl, das auftritt, wenn der Kern unserer Existenz fraglich und unsicher ist. Wenn wir uns selber gewissermaßen in diese Existenzscham versetzen, indem wir der Natur Racheabsichten unterstellen, sind wir es selber, die uns das Existenzrecht absprechen. Es ist also gar nicht die Natur oder die von ihr ins Rennen geschickten Viren, wir selber sind es, die unsere Auslöschung wollen. 

Solche Gedankengänge sind psychologische Spiele. Sie spiegeln nichts anderes als das eigene Lebensschicksal wider. Eigentlich dienen sie gar nicht dazu, besser zu verstehen, was abläuft, um damit in Frieden zu kommen. Vielmehr rechtfertigen sie die eigene Verdammung, die irgendwo und irgendwann in einer frühen Lebensphase erlebt werden musste. Die übermächtige Naturumgebung, in der wir entstehen, ist die Mutter. Wenn sie uns nicht bedingungslos annimmt als neues Erdenwesen, sondern uns als Belastung und Störung ihres Lebens erfährt, nistet sich die Urscham ein, die besagt, dass wir als Wesen falsch und überflüssig sind.

Wenn wir diesen Gedanken des Ungewolltseins auf die ganze Menschheit übertragen, entlasten wir uns ein Stück von unserem eigenen Schicksal, indem wir die Scham potenzieren, sodass wir nur mehr ein kleines Stück von ihr betroffen sind. Wir wollen uns also selber vom eigenen Schicksal freisprechen, um den Preis, den eigenen Untergang mitsamt der Menschheit in Kauf zu nehmen und sogar noch zu rechtfertigen. 

Die fehlprogrammierte Natur


Dazu kommt das peinliche Faktum, dass wir als Menschen selber Naturwesen sind. Manche bemühen an diesem Punkt die Krebsmetapher, um ihr selbstschädigendes Modell aufrechterhalten zu können: Die Menschheit sei das Krebsgeschwür der Natur, also eine genetische Fehlprogrammierung, die in der Lage wäre, die ganze Natur auszulöschen. Wieder wird extrapoliert und vom menschlichen Organismus auf die Natur als Ganze geschlossen, was schon nach den Gesetzen der Logik problematisch ist. Letztlich würde diese Annahme auf den Punkt zusammenfallen, dass die Natur Programme in sich trägt, die bestimmte Strukturen zerstört. Sie baut also auf und zerstört, eine No-Na-Erkenntnis.

Wir wissen nicht einmal, ob die Zerstörung, die Teil von allen Naturprozessen ist, fehlerhaft ist oder nicht. Denn ohne Wissen über den Gesamtplan gibt es auch kein Richtig und Falsch in Bezug auf die Abläufe, die das Leben der Natur ausmachen. Vielleicht müssen wir uns begnügen festzustellen, dass alles so ist, wie es ist, alles so geschieht, wie es geschieht, und dass wir nicht darüber urteilen müssen, was sinnvoll und gut und was fehlerhaft und schlecht ist. 

Die Schwierigkeit, mit Nichtwissen zu leben


Offenbar ist es schwerer, in Bezug auf Gesamtfragen und Globalerklärungen mit einem Nichtwissen zu leben, als selbstschädigende Gedankenmodelle zu pflegen. Denn Nichtwissen kränkt den Narzissmus, und das schmerzt. Wo wir kein Wissen haben, haben wir keine Macht. Wir müssen also auch unsere Machtlosigkeit dem Ganzen gegenüber akzeptieren, und das heißt, wir müssen unsere Endlichkeit und Sterblichkeit annehmen. Es ist also ganz einfach die Angst vor dem Tod, die uns Erklärungsmodelle diktiert, mit denen wir ein Stück Unsterblichkeit erobern wollen. 

Wir können unheimlich viel erklären, was in der Natur abläuft, aber wir wissen nicht, ob es dahinter einen Plan gibt, den wir nach und nach entschlüsseln. Je mehr wir verstehen, desto besser können wir eingreifen und Einfluss ausüben. Sobald die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen eine Methode gefunden haben, die den Viren den Garaus macht, sind wir die Plage los. Gäbe es die Wissenschaft nicht, würde die Epidemie solange wüten, bis es keine Wirte mehr für die Viren gibt, wie das bei den Pestepidemien vergangener Zeiten war. So aber ist es nur eine Frage der Zeit, und die menschliche Intelligenz wird die menschliche Gesundheit wieder ausreichend schützen können.

Doch selbst dann sind wir wieder nur ein bisschen sicherer mit unserem Leben. Selbst dann gibt es genug Bedrohungen, die unserem Leben ein Ende setzen können. Irgendwann wird eine Bedrohung so mächtig sein, dass wir ihr nicht entkommen und uns ihr hingeben müssen. Wollen wir uns auf diesen Moment vorbereiten, so ist es jetzt die Übung, dass wir uns dieser Situation hingeben, ohne zu wissen, wer daran schuld ist und was damit letztlich bezweckt ist.

Samstag, 21. März 2020

Raus aus der Gehirnwäsche

Seit ein paar Wochen hat ein Thema Einzug gehalten in unser Bewusstsein und es mittlerweile fast vollständig in Besitz genommen. In den traditionellen Medien gibt es Coronaberichte mit Unterbrechungen, in den sozialen Medien tummeln sich die unterschiedlichsten Beiträge zu dem einen Thema. Es scheint, als ob wir nichts anderes mehr bereden oder bedenken dürften. 

Klar: Dieses Virus hat unser aller Leben in einer Weise umgekrempelt, wie es das „seit Menschengedenken“ nicht mehr gegeben hat. Jeder Mensch in unserer Gesellschaft muss seine Gewohnheiten und Tagesabläufe an die Erfordernisse der Situation anpassen. Es erfordert eine Menge an Denk- und Sprechleistung, um diese Veränderungen verarbeiten zu können. 

Ein kollektives Bewusstsein hat sich ausgebreitet und ist ungehindert in unsere Köpfe eingedrungen. Sein Hauptantrieb ist die pure Überlebensangst, sein Zusatzmotor die soziale Angst, andere nicht anstecken zu wollen. Dieses Bewusstsein wirkt wie ein Sog, das alles in sich hineinziehen will, von dem nichts unberührt bleiben soll. Es hat unsere Handlungsmöglichkeiten eingekreist und wir haben uns in unser Los geschickt, wissend, dass alle anderen mitmachen. Zugleich hat es unser Denken gebunden und okkupiert, das dann wie in einer Gefängniszelle von einer Wand zur anderen wankt und dann wieder zurück.

Dazu kommt die Unsicherheit über die Dauer der Maßnahmen, die alle Planungen und Zukunftserwartungen, die wir in uns aufgebaut und vorbereitet haben, mit Fragezeichen versieht. Wir wissen nicht, wie lange wir zuhause sitzen müssen, wie lange die Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit aufrechterhalten bleiben und in welcher Form sie weiterbestehen. Wir müssen mehr im Moment leben, auch wenn die Fantasie immer wieder in die Zukunft reisen möchte.  Unser Denken kann auch hier nur kreisen: Was habe ich schon alles geplant und wie wenig weiß ich, ob es eintreten kann.

Wir sind in einem viel größeren Ausmaß mit der grundsätzlichen Unvorhersehbarkeit und Unberechenbarkeit der Wirklichkeit konfrontiert. Die Lehre des Buddhas kreiste schon vor 2600 Jahren um die Nichtpermanenz, um die andauernde Wandelbarkeit des Lebens und um den menschlichen Verstand, der das nicht und nicht akzeptieren will, der seine ganzen Ängste um diese Unbeständigkeit herum aufbaut. Nach Buddha entsteht das Leiden aus der Bekämpfung dieser Unbeständigkeit durch das Festhaltenwollen an alten Gewohnheiten, Beziehungen, Erwartungen, Dingen, darunter auch die Gesundheit. Sobald und erst wenn wir anerkennen, dass nichts von Dauer ist und dass deshalb nichts unserer absoluten Kontrolle unterliegt, finden wir zum inneren Frieden.

Wie aber sollen wir in Frieden kommen, wenn um uns herum alles unsicher ist? Wie sollten wir Ruhe finden, wenn alle fortwährend von dem einen Thema sprechen, das nichts Positives enthält, sondern nur Sorgen und Ängste bereitet? Das Virus mit all seiner unabwägbaren Bedrohung ist doch überall oder könnte zumindest überall sein, auf jeder Türschnalle und in jedem Lufttröpfchen. 


Plädoyer für coronafreie Räume


Nicht einmal dieses Plädoyer kommt ohne Anspielung auf das allmächtige Thema aus. So ist das, wenn das kollektive Bewusstsein eingeengt und eingeschränkt ist. Wir kommen aber aus dieser Verhexung nur heraus, wenn wir uns mit anderen Themen beschäftigen. Da kommt gleich wer und sagt, das wäre ja nur Ablenkung? Doch wovor sollten wir uns ablenken? Wir wissen mittlerweile im Überfluss und Überdruss, was es zu wissen gibt. Wir tun, was zu tun ist. 

Also ist jede Menge Zeit für andere Dinge, andere Aktivitäten, andere Ideen, die nichts mit dem allgegenwärtigen Virus zu tun haben. Dazu müssen wir unsere Köpfe frei machen, statt sie fortwährend aufs Neue zuzustopfen mit dem Thema. Das Virus hat sich fix in unseren Köpfen eingenistet und will sich, wie es seiner Natur entspricht, vermehren und weiter vermehren. Es will uns süchtig nach sich selbst machen, wie ein Verliebter, der die Quelle seiner Anbetung mit seinem Selbst füllen will, damit sie ihn keine Sekunde vergisst.

Wie bekämpfen wir eine Sucht? Wir hören damit auf, sie zu nähren, sie zu füttern. Wir schränken ihren Raum ein, indem wir andere Räume öffnen und uns in ihnen aufhalten, bis die Sucht in ihrem Kämmerlein verkümmert ist. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf alles, was frei ist von Viren: Die Tiere und Pflanzen um uns, der Sonnenschein, die Regentropfen. Wir nutzen die Zeit, um alte Hobbies auszugraben oder liegengebliebene Ideen zu verwirklichen. Wir freuen uns an den Schönheiten und Wundern, die uns umgeben. Wir leben mit dem Zauber der Einfachheit, den uns diese Zeit beschert. 

Die äußeren Einschränkungen haben in diesem Fall glücklicherweise nichts mit Gewalt und Zerstörung zu tun wie in einem Krieg (dieser Unterschied sollte nicht verwischt werden, auch wenn sich manche Politiker mit der Verwendung dieser Metapher für eine Seuchenbekämpfung als martialische Retter darstellen wollen). Wir können diese Einschränkungen in innere Einschränkungen übersetzen und dann an unserer Unbeweglichkeit leiden, oder wir können unsere innere Freiheit umso mehr weiten, als wir durch die äußeren Regelungen beengt sind.

Zum Weiterlesen:
Die Corona-Krise als Chance?
Mit Unvorhersehbarkeiten leben
Eine Krise des Neoliberalismus

Montag, 16. März 2020

Die Corona-Krise als Chance?

Was bleibt einem Blogschreiber in diesen Zeiten anderes übrig als über „covid-19“ zu schreiben? Bei jedem anderen Thema würde sich der Leser oder die Leserin denken: Was hat dieser Blogschreiber für Sorgen? Scheinbar redet die ganze Welt (jedenfalls in unserem eigenen bescheidenen Umkreis) von nichts anderem als von einem Virus, der nur 120 bis 160 nm groß ist und im Elektronenmikroskop recht hübsch ausschaut. Diese Partikelchen, die nicht einmal zu den Lebewesen gezählt werden, haben binnen kurzer Zeit unser Leben umgekrempelt, massive Ängste ausgelöst und die Wirtschaft in Turbulenzen gebracht. 

Eine ganze Menge an Selbstverständlichkeiten und scheinbar dringenden Notwendigkeiten verschwindet hinter der Übermacht der Bedrohung: Plötzlich ist das Nulldefizit kein Idol mehr, das Wirtschaftswachstum kann ruhig sinken, die Steuern werden gestundet, der Konsum wird zurückgefahren und das einfache und bescheidene Leben wird zum vorbildlichen Maßstab. Menschen, die keine Arbeit mehr haben, werden wie mit einem Grundeinkommen vom Staat erhalten.  

Ideale, die vordem als sozialromantisch, fortschrittsfeindlich oder illusionär lächerlich gemacht wurden, sind auf einmal selbstverständlich und problemlos für eine breite Masse. Jeder fügt sich ein in den Verzicht, auf Reisen, Shoppen, Ausgehen, Kultur. Die sozialen Unterschiede sind da nicht mehr so wichtig: Ob ich in einer millionenschweren Villa oder einer Zweizimmerwohnung zuhause vorm Fernseher sitze, macht keinen Riesenunterschied mehr. Das Virus schert sich nicht um das Konto seines Wirtes, wenn es tut, wozu es aktiv ist. Das Virus “hobelt alle gleich” (Nestroy). 

Es ist erstaunlich, wie die als unmittelbar wahrgenommene Lebensbedrohung, die von dem – im Vergleich zu anderen Infektionen relativ schwachen – Virus ausgeht, die Menschen zur Akzeptanz von weitgehenden Lebensveränderungen motiviert. Deutlich wird die Macht der Medien mit ihren eindrucksvollen Bildern auf das Denken und Empfinden der Menschen. Sie übermitteln wichtige Informationen, damit wir mit der Situation richtig umgehen können. Sie vermitteln aber auch ein allgemeines Bild der Lage, das Ängste mobilisieren kann, die in keinem Verhältnis zur eigenen Lebensumgebung und deren Bedrohung stehen. Sie stoßen auf eine innere Angstbereitschaft, die mit unserer chronischen Stressbelastung zu tun hat. Sobald Bilder in den Medien auftauchen, verbunden mit erschreckenden Zahlen und ernsten, mahnenden Gesichtern, melden sich auf einer tieferen Ebene die Alarmglocken, die lange zuvor eingerichtet wurden und nun mit Ängsten reagieren, Ängste, die deshalb den aktuellen Bedrohungen gegenüber unverhältnismäßig sind und ein vernünftiges Handeln erschweren.  

Aus diesen Gefühlen speisen sich Verhaltensweisen, die zu Panikhandlungen auswachsen können, so z.B. das Hamsterverhalten, mit dem Kunden die Klopapierregale leerplündern und sich um die letzten Packungen streiten. Der Mitmensch auf der Straße wird zur möglichen Bedrohung, wir gehen misstrauisch auf Abstand und fragen uns, ob er seine Hände desinfiziert hat oder gar ein Coronaerkrankter ist. Hoffentlich fängt er nicht zu husten an und wir können uns nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen. 

Die Unsicherheit ist so überwältigend, weil das, was uns Angst macht, so winzig klein ist, dass es unserer Kontrolle und Abwehr zu entgehen scheint. Wir können uns vornehmen, die Gefahr mit aller Macht zu bekämpfen, doch ist der Feind so unsichtbar, dass all unser martialisches Gehabe ins Leere geht. Außerdem wissen wir so wenig, wie sich die Gefahr verhält, wie wir sie in den Griff kriegen und unserer Macht unterwerfen. Wir befinden uns an einer Grenze zu einem Unbekannten und haben die Angst, dass es uns an den Kragen geht und wir gar nicht wissen, was es ist, das uns da umbringt. 

Diese Grenzerfahrung zu vermeiden, ist vermutlich der Hauptimpuls, warum wir so bereitwillig all die Einschränkungen auf uns nehmen, die uns anbefohlen werden. Es gibt keinen zivilen Widerstand angesichts der Freiheitsverluste, sondern bereitwillig nickende Zustimmung überall. 

Währenddessen entsteht eine Gesellschaft, die weniger Ressourcen verbraucht und offensichtlich damit auch ganz gut leben kann. Sind wir schon dabei, die Spannungen eines ungleichen Sozialsystems und das Rätsel der Klimakrise zu lösen, indem wir merken, dass ein Zusammenleben miteinander und mit der Natur mit Augenmaß möglich und lebbar ist? Was könnte daraus folgen, dass wir viel weniger unter dem Konsumverzicht leiden als wir dachten, solange uns die Selbsteinschränkung mit moralischer Geste vor Augen gehalten wurde? 

Obwohl sich zeigt, dass wir könnten, was wir sollten, ist es noch zu früh für eine Einschätzung der Krisenfolgen. Denn es ist ein Verzicht, der aus Angst und nicht aus Einsicht und Vernunft stammt. Es ist eine elementare Überlebensangst, die uns ins einfache Leben zurückbringt und damit auskommen lässt, wenig unterschieden von dem kargen Leben, das die Menschen während und nach dem 2. Weltkrieg auf sich nehmen mussten. Es ist ein Virus, das uns zur Neuausrichtung unseres Verhaltens zwingt, nicht eine innere Willensausrichtung aus Freiheit und Verantwortung. 

Warum schaffen wir es als Gesellschaft nicht, ohne Angstmotivation dorthin zu kommen, wo es uns vielleicht ohnehin insgesamt besser ginge, nämlich in einer entschleunigten, sozial ausgeglichenen und bescheidenen Gesellschaft? Warum braucht es Viren, die unsere Gesundheit bedrohen, um auf Ambitionen und Güter zu verzichten, die ohnehin nur unsere Gier und Arroganz füttern? 

Wir werden sehen, ob wir aus dieser Krise eine Lektion lernen und unser Leben grundlegend und dauerhaft verändern, oder ob wir sofort zur Tagesordnung der Ressourcenvergeudung und Entsolidarisierung zurückkehren, sobald der Spuk vorbei ist. Die Chance zur Umkehr und Neuausrichtung haben wir allemal.

Zum Weiterlesen:
Raus aus der Gehirnwäsche  
Eine Krise des Neoliberalismus