Montag, 27. März 2023

Der plötzliche Tod und die moderne Lebensweise

Ist der plötzliche Tod ein Phänomen der Neuzeit und eine Folge der Beschleunigung, die stattgefunden hat? Sicher hat es schon früher plötzliche Todesfälle gegeben, durch Unfälle, Gewalteinwirkung oder durch Herzstillstand. Aber es könnte sein, dass diese Todesart zugenommen hat, so wie auch die allgemeine Geschwindigkeit zugenommen hat. 

Der Verkehrstod 

90 % der Todesfälle durch Unfall geschehen im Straßenverkehr. Die rasante Zunahme der Verkehrstoten hat in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht dazu geführt, dass die Geschwindigkeit der Autos reduziert wurde, sondern dass die Fußgänger und Radfahrer von den Straßen verdrängt wurden. Einschränkungen müssen die potenziellen Opfer auf sich nehmen, nicht die möglichen Täter in ihren schweren Fortbewegungsmaschinen. 

Priorität genießt also die Schnelligkeit, und jeder, der sie stört, wird von den privilegierten Verkehrsflächen verbannt. Das Geschwindigkeitsprinzip im Sinn des expandierenden Kapitalismus hat zur Bevorzugung der schnellen Verkehrsmittel vor den langsameren Verkehrsteilnehmern geführt, und es ist bis heute wirksam. Die Verantwortung für den schnellen Verkehrstod wird damit von den schnelleren und damit lebensgefährlicheren Fortbewegungsmitteln auf die langsameren übertragen. 

Die Anzahl der Verkehrstoten weltweit übertrifft regelmäßig die der Todesfälle durch Kriege, Genozide und Terrorüberfälle bei weitem, und dabei sind diejenigen, deren Leben durch indirekte Folgen des Verkehrs verkürzt wird, z.B. durch Luftverschmutzung, gar nicht mit einberechnet. Miteinbezogen, würden sich die Todesfälle durch Verkehr verdreifachen. Die Beschleunigung fordert ihren Preis, und mit ihr steigen die plötzlichen Todesfälle. Der Tod hält offensichtlich Schritt mit der allgemeinen Zunahme der Schnelligkeit. 

Wir alle wünschen uns einen sanften, langsamen Tod. Wie das schöne Wort besagt, wollen wir friedlich entschlafen, nachdem wir uns von unseren Nächsten verabschiedet haben. Doch führen wir unser Leben so, dass wir alles tun, um dieses Ziel nicht zu erreichen. Wir beschleunigen, wo es nur geht, treiben uns an zu mehr und effektiverer Leistung, haben das Gefühl, dass wir nirgends nachlassen dürfen und meinen, dass auch nur kurzzeitige Untätigkeit der Anfang allen Lasters ist. Wir pumpen immer mehr Energie in alle Abläufe unseres Lebens und sorgen immer weniger für deren Regeneration und Nachhaltigkeit. Wir betreiben Raubbau an uns selbst, nicht nur an den natürlichen Ressourcen um uns herum. Wie also soll unser Leben organisch ausklingen, wenn wir bis zum Äußersten unorganisch leben?  

Krieg und Tod 

Plötzliche Tode gab es in allen Kriegen, aber die Technik, die immer mehr die Kriegführung übernimmt, führt zu immer raffinierteren Formen des Tötens, wo mit einem Atombombenabwurf auf einen Schlag hunderttausende Menschen den plötzlichen Tod finden. Raketen werden abgeschossen und landen in Wohnblöcken, in denen viele Menschen ihren sofortigen Tod finden. Der Einsatz von moderner Tötungstechnik fördert die Anonymisierung des Tötens: Der Töter steht dem Getöteten nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüber, sondern drückt auf einen Knopf, das Geschoß nimmt seinen Lauf und findet selbstgesteuert sein Ziel, das es sofort vernichtet. Damit fallen viele Tötungshemmungen weg. Der plötzliche Tod wird zum dauernden Begleiter aller Menschen, die in einem Kriegsgebiet leben. Jede Kriegspartei versichert zwar, dass sie nur deshalb tötet, weil damit das Töten schneller beendet werden kann, aber das Einzige, was diese Todeslogik bewirkt, ist ein noch schnelleres und häufigeres Töten. 

Krankheiten der Zivilisation 

Herzinfarkte waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch für 10% der Todesfälle verantwortlich; zur Jahrtausendwende waren es in den Industrieländern bereits 50%. Diese Anstiege werden zwar mit der gestiegenen Lebenserwartung erklärt; ein Zusammenhang mit der zunehmend hektischeren Lebensweise („der Puls der Zeit schlägt immer schneller“) und dieser Form des raschen Todes drängt sich aber auf.  

Die Corona-Pandemie hat nicht nur gezeigt, wie rasant sich eine Krankheit in der modernen Gesellschaft über Länder und Kontinente ausbreitet. Sie hat auch zu einer Beschleunigung des Sterbens vor allem bei vorbelasteten Menschen geführt. Vor allem die ersten Varianten dieses Virus haben die Intensivstationen in unseren hochentwickelten Gesundheitssystemen sehr bald nach dem Ausbruch an die Grenzen ihrer Belastbarkeit geführt. Die Entstehung und die Verbreitung des Virus, wie auch immer sie passiert ist, ist ohne die Beschleunigungsvorgänge in unseren Gesellschaften schwer vorstellbar. Das Virus erscheint wie ein Ausdruck der Unbewusstheit, mit der die selbst- und naturausbeutende Lebensweise unserer Industriekultur in rasendem Tempo vorangetrieben wird.  

Die Todesverdrängung 

Die Kehrseite der Todesverdrängung, die in allen Beschleunigungsanstrengungen wirksam ist, liegt in immer neuen Formen des plötzlichen Todes, die durch diese Lebensweise in der einen oder anderen Form hervorgerufen werden. Wir entrinnen unserem Ende nicht, so sehr wir uns auch beeilen, all das zu erledigen, was sich immer wieder von neuem auftut, um erledigt zu werden. Es scheint sogar, als würde dieses Ende umso abrupter kommen, je mehr wir ihm mit unserer Hast und mit unserem Vollstopfen der uns noch verbliebenen Zeit entkommen wollen. 

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Freitag, 24. März 2023

Die Langsamkeit der Natur

Die Natur ist eine Lehrmeisterin der Langsamkeit. Die mentale Schnelligkeit, die die Menschen entwickelt haben, hat zur Erfindung von Maschinen geführt, die Geschwindigkeiten errreichen können, die alles übertreffen, was die Natur hervorbringen kann. Natürlich sind all diese Maschinen aus Naturstoffen zusammengebaut, in Kombinationen, die der menschliche Geist mit akkumuliertem Wissen und vielen Experimenten erschaffen hat. Die Illusion der Naturbeherrschung, also der Machtanspruch der Menschen über die Natur ist die Triebfeder hinter dem Geschwindigkeitsrausch, den der menschliche Erfindergeist entfesseln konnte. Die Naturbeherrschung dient letztlich der Todesbeherrschung, denn der Tod markiert jene Grenze, an der die Natur unerbittlich dem menschlichen Geist ein Ende setzt und den menschlichen Körper für immer zu sich zurückfordert. Eine naturgeschichtlich betrachtet winzige Zeitspanne ist jedem Menschen zugemessen, in der er sich in der Naturbeherrschung austoben kann, bevor diese sich die Macht zurückholt. 

Diese Grenze stellt ein Ärgernis für den menschlichen Geist dar, sie ist eine Kränkung für seinen Narzissmus. Der Tod macht alle gleich, nackt sind wir ins Leben gekommen, nackt verlassen wir es wieder. Als Naturwesen haben wir das Licht der Welt erblickt und zu Naturwesen werden wir, sobald wir unser Leben ausgehaucht haben. In der Zeit dazwischen haben wir uns von der Natur entfernt, indem wir unsere Herkunft verdrängt und vergessen haben. Ein Zeichen dafür ist das Genießen von Geschwindigkeit, das die kurzzeitige Überwindung des Fluches der Endlichkeit verspricht. Das Leiden folgt auf den Fuß, sobald der Geschwindigkeitsrausch zum Stress wird, sich chronifiziert und Folgeerscheinungen erzeugt. Jedes Leid erleben wir als störenden Einfluss der Natur auf unseren Geist, und wenn wir es nicht schaffen, das Leid anzunehmen, vergrößert sich unsere innere Distanz zur Natur und wir neigen noch mehr dazu, Handlungen zu setzen, die der Natur und damit langfristig uns selbst Schaden zufügen. Die Natur verkraftet alle menschlichen Eingriffe, nur die Menschheit schaufelt sich damit über kurz oder lang das eigene Grab. Das ist eine der Paradoxien des Menschseins: Im Entrinnen der Endlichkeit die Endlichkeit der gesamten Menschheit vorzubereiten. Das Unsterblichkeitsprojekt, das aus dem selbstbezogenen und zur Selbstüberschätzung neigenden menschlichen Geist entspringt, ist bestens dazu geneigt, die Selbstausrottung der Menschheit herbeizuführen.

Die Akzeptanz der Endlichkeit

Der Ausweg aus der Sackgasse, in die sich die Menschheit mit jedem Tag, an dem sie sich weiter von der Natur entfernt, noch mehr hineinmanövriert, ist eine radikale Zurückwendung zur Natur – zur eigenen Natürlichkeit und zu dem, was die Umgebung braucht, um heil zu werden. Es geht um die Einstimmung auf die Rhythmik der Natur, mit der wir nicht nur unsere Gesundheit optimal fördern. Japanische Ärzte schicken ihre Patienten in den Wald, damit sie durch die langsamen Schwingungen der Natur wieder zu sich finden. Wir können auf diesem Weg auch die Fehlentwicklung unserer industriellen, von Beschleunigung geprägten Lebensform korrigieren. Wir müssen langsamer werden, in unserem Denken und in unseren Erwartungen, wenn wir das kollektive Ende verhindern wollen. Wir müssen unsere individuelle Endlichkeit voll und ganz akzeptieren, um zur Bescheidenheit zu finden, mit der wir unsere Bestrebungen der Natur unterordnen und sie in das größere Netz des Seins einflechten. Nur in dieser Akzeptanz, in der wir die Illusion der Naturbeherrschung verabschieden, können wir die Position einnehmen, die uns zusteht, sodass wir sorgsam mit dieser Welt und den uns anvertrauten Gütern umgehen, um sie unseren Nachkommen in einem guten Zustand zu hinterlassen. In der Langsamkeit, wie schon mehrfach beschrieben, kommen wir leichter in Kontakt mit unserem tieferen Sein, das uns die Natur geschenkt hat. Dort schlummert all das Wissen, das wir brauchen, um die Wende zurück zur Zeitstruktur der Natur zu schaffen. Jeder Schritt, den wir in diese Richtung tun, kommt uns selber zugute. Denn wir sind ja selber auch Natur, durch und durch. Wir sollten überall, wo es nur geht, das Tempo rausnehmen, aus unserem Denken, Reden, Fortbewegen und Tun. Die Entspannung, die sich dadurch einstellt, kommt nicht nur uns selbst, sondern auch unseren Mitmenschen und der Natur um uns herum zugute.

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Dienstag, 21. März 2023

Langsamer ist schneller

Langsamer geht oft schneller.  Das ist ein paradoxer Satz. Und er mutet befremdlich an, weil wir an eine von Schnelligkeit geprägte Zeit gewöhnt sind. Doch sprechen viele Erfahrungen für diesen Satz:

Wenn wir hektisch werden, werden wir fehleranfälliger und brauchen dann mehr Zeit fürs Fehlerkorrigieren. In der Schnelligkeit übersehen wir leicht wichtige Details, unser Blick ist immer schon wo anders als bei dem, was gerade ist. Beim Sprechen verschlucken wir leicht sinngebende Partikel und wundern uns, wenn wir nicht verstanden werden. Beim Zuhören entgehen uns die Nuancen und Zwischentöne, manchmal auch ganze Sätze oder Satzteile, weil unser Kopf sich schon die Antwort nach den ersten gehörten Worten zurechtlegt. Unsere Fähigkeiten sind in der Hektik auf das Nötigste reduziert, weil der Schnelligkeitsmodus mit dem Notfallmodus gekoppelt ist.

Im langsamen Modus haben wir Zeit, uns zu überlegen, was wir wie sagen, statt gleich mit der Tür ins Haus zu fallen oder mit einem Schwall an Worten herauszuplatzen und den Gesprächspartner zu überschwemmen. Wir haben Zeit, uns auf die angesprochene Person einzustimmen und können uns besser in sie hineinversetzen. Wir hören nicht nur das Geredete, sondern auch das Gemeinte. Mit Langsamkeit sind wir bessere Kommunikatoren. Wir ersparen uns Missverständnisse und damit auch viele Konflikte, die aus unvollständigen Gesprächen entstehen. Wir nehmen uns Zeit, Probleme genauer zu betrachten, und entwickeln mit dieser Haltung oft nachhaltigere Lösungen.

Die Qualität der Langsamkeit

Die Langsamkeit verfügt über eine eigene Lebensqualität. Wir sind mehr mit uns selber verbunden und nehmen zugleich mehr im Außen wahr. Wir haben mehr Ideen und sehen mehr Möglichkeiten in der Wirklichkeit. Die Reichtümer und Schätze des Lebens fallen uns auf und erfreuen uns. Wir gehen durch Straßen, durch die wir sonst hasten, und bemerken Schönheiten und Besonderheiten, die uns völlig neu erscheinen. Wir spazieren durch einen Park, und winzige Blüten oder Blätter erquicken unsere Augen. In der Langsamkeit lernen wir den Augenblick und seine Fülle zu genießen. 

Auch die Meditation ist eine Schule der Langsamkeit. Wenn wir uns in uns versenken, verlangsamen die Sinne und die Gedanken. Vielleicht rasen zuerst die Gedanken, sobald wir die Augen schließen, aber bald wird es innerlich ruhiger und der Gedankenstrom bricht ab, alles wird einfacher und leichter. Die Komplexität, die unser Kopf produziert und die uns oft Stress bereitet, wird nebensächlich, die vielfältigen Probleme, die uns plagen, werden unwichtiger, statt dem Tun tritt das Sein in den Vordergrund, statt der Schnelligkeit die Langsamkeit.

Wie wir wissen, fördert das langsame Essen die Verdauung und das Sättigungsgefühl. Ein langer Kauprozess ist nicht nur gut für den Kiefer, sondern führt auch dazu, dass die Nahrung gut eingespeichelt und für den Magen und Darm vorbereitet wird. Wir essen weniger, aber haben mehr an Nährwert und Genuss davon, als wenn wir die Speisen hastig verschlingen. Alle unsere inneren Vorgänge im Bauch folgen im Normalfall einem langsamen Tempo und brauchen Ruhe, um gut abzulaufen.

Der Grundrhythmus der Langsamkeit

Und schließlich: Das langsame Atmen bildet die Grundlage der Langsamkeit überhaupt. Der Atemrhythmus ist der Grundtakt in unserem Inneren, der alle anderen Rhythmen mitbestimmen kann, wenn wir langsam atmen. Stress ist immer mit schnellem Atmen verbunden, und umgekehrt führt schnelles Atmen zum Stress. Mit der Verlangsamung der Atmung kommen wir herunter vom Stress. Langes Ausatmen aktiviert den Parasympathikus und verringert den Herzschlag. Der Puls wird ruhiger und die Herzratenvariabilität steigt.

In einem Experiment wurden Mäuse dazu gebracht, jeden Tag eine halbe Stunde langsam zu atmen. Nach vier Wochen wurde ein Stresstest gemacht, und die Gruppe der Mäuse, die langsam geatmet hatten, schnitten signifikant besser ab als die Vergleichsgruppe: Sie erholten sich wesentlich rascher vom Stress, ihre Stressresilienz war also bedeutend höher. 

Das Leben genießen

Es gibt auch den Genuss von Geschwindigkeit, er kann etwas Spielerisches und Abenteuerliches haben. Beispiele sind der Fahrtwind beim Radfahren oder das Sausen beim Ringelspiel. Der Geschwindigkeitsgenuss lebt davon, dass wir uns auf etwas Aufregendes einlassen, eine spannende Erfahrung machen und dann wieder in die Ruhe zurückfinden. Es ist ein Wechsel in den Rhythmen, der uns erfreut und den wir im Griff haben, indem wir festlegen, wie er abläuft. 

Das ist ein anderes Geschwindigkeitserleben als das des Getriebenseins, mit dem wir im modernen Alltag kämpfen. Da handelt es sich meistens um ein Hetzen und Gehetztsein. Wir stecken in einem Kampf- oder Fluchtmuster, nur gibt es keine äußeren Bedrohungen, vor denen wir uns fürchten müssen, sondern nur innere Fantasien, mit denen wir uns ausmalen, was passieren würde, wenn wir langsamer werden. 

Verfolgungsträume

Im Beschleunigungsmodus wirkt unser Leben wie in einem Alptraum: Eine Gefahr nähert sich in unserem Rücken, wir laufen schneller und schneller, und doch haben wir das Gefühl, dass uns die Bedrohung näher und näher kommt, bis wir schweißgebadet aufwachen. Der Alptraum ist oft nur eine drastischere Erfahrung wie in den Mustern, die schon Teil des Alltags geworden sind, ohne dass es uns noch auffällt.

Verlangsamung durch Krankheit

Manchmal tut unser Körper nicht mehr mit und verweigert seine Kooperation. Er wird krank, und mit einem Schlag wird alles langsamer. Plötzlich verschieben sich alle Werte und Perspektiven. Was uns unaufschiebbar erschienen ist, wird aufgeschoben, was sofort erledigt werden musste, kann nun warten, was unabwendbar für uns zu tun war, macht jetzt jemand anderer. Plötzlich sind die Erwartungen und Anforderungen, die von außen an uns gerichtet werden und denen wir in uns eine äußerste Dringlichkeit eingeräumt haben, nicht mehr die oberste Priorität, sondern wir selber, unser Wohlsein und unsere Bedürfnisse. Auch wenn wir mit unserem Schicksal hadern und die Krankheit schnell wieder loswerden wollen, sind wir gezwungen, uns zu fügen und unserem Organismus und seiner Zeitstruktur den Vortritt zu lassen. 

Die Lektion im Kranksein ist immer und immer wieder, dass wir nur mit einem gesunden Körper Leistung erbringen können und dass deshalb die Fürsorge für die körperlichen Bedürfnisse vor und über jeder Leistungsanforderung steht. Jede Krankheit zeigt uns, dass wir in irgendeiner Hinsicht gegen unseren Körper gelebt haben und dass wir diese Fehlentwicklung korrigieren müssen. 

Manchmal ist es die Seele, die nicht mehr will und den Widerstand gegen die Selbstausbeutung anführt. Wir merken vielleicht an einer Lustlosigkeit, an einer inneren Schwere, an beständiger Unruhe oder an Sinnzweifeln, dass unsere Seele im Ungleichgewicht ist. Oft suchen wir dann Rat bei Ärzten, weil wir meinen, irgendein körperlicher Mangel könnte die Quelle unserer Unlust sein. Erst wenn diese nichts finden können, schauen wir auf die seelische Ebene und beginnen wahrzunehmen, was da fehlt.

Die Lektion in jedem Seelenleiden, das durch die Beschleunigung entsteht, lautet, dass wir nur mit einer gesunden Seele ein gutes Leben führen können. Die Seele gedeiht in Entspanntheit und Muße, nicht unter Bedingungen, die von außen aufgedrängt werden und nicht der eigenen Gestaltungskraft unterliegen. Unter Druck wächst kein Seelenfrieden. Vielmehr hat die Seele ihre Eigenzeit und ihr Eigentempo, die wir in der Natur, aber nicht im Muster des mentalen Getriebenseins finden können. 

Die langsame Seele

Die Seele braucht im Vergleich zum Mentalen immer viel mehr Zeit. Die Beschleunigung ist in unserem Kopf zuhause, unsere Gedanken sind schon irgendwohin in die Zukunft abgedüst oder schweifen assoziativ in der Vergangenheit herum. Indem wir die Abläufe in unserem Körper verlangsamen, kommen wir unserer Seele näher und sie öffnet sich mit ihren Schätzen für uns. 

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Dienstag, 14. März 2023

Die Geschwindigkeitssucht

Wir wissen: Stress schwächt den Körper und steckt als Ursache hinter den meisten Erkrankungen und Todesfällen. Er behindert die Kreativität und hemmt die Potenziale. Er reduziert die kommunikativen Fähigkeiten und fördert sozialschädliches Verhalten. 

Dennoch unterliegen wir dem Rausch der Beschleunigung. Wir brauchen nur an die Anfänge der Personal Computer denken und an die Zeit, die sie für ihr Hochfahren und ihre Operationen benötigten. Wir brauchen nur an die Anfänge des Internets denken, wie langsam damals die einfachsten Seiten geladen wurden. Heute würden wir ausflippen, wenn wir mit dieser „Langsamkeit“ konfrontiert würden. Wenn wir noch weiter zurückgehen, kommen wir in eine Zeit, in der die ersten Autos mit 20 km/h unterwegs waren, während wir es heute als Zumutung empfinden, auf einer Autobahn nicht mehr als das Fünffache fahren zu dürfen. Noch weiter zurück konnten es sich einige leisten, mit Pferden die damals mögliche Höchstgeschwindigkeit zu erreichen; die meisten Menschen haben sich zu Fuß weiterbewegt und hatten einen Lebensradius von 20 oder 30 Kilometern im Umkreis, alles darüber hinaus war die unbekannte Fremde. 

Langsamkeit als Stressfaktor

Ein Kennzeichen der Moderne ist es, dass die Langsamkeit zum Stressfaktor wird. Der Mensch der Moderne ist getrieben, so, als stünde er im Bann eines permanenten Schneller-Sein-Müssens, wie z.B. Menschen auf dem Gehsteig, die dahinschlendern, während wir es eilig haben oder meinen, es eilig zu haben. Wir erleben sie als Hindernisse für unser Weiterkommen. Die Beschleunigung hat einen Sperrklinkeneffekt – es bewegt sich nur in eine Richtung weiter: Mehr und mehr Geschwindigkeit. Eine Rückwärtsbewegung würden wir nicht aushalten, weil sie uns sofort Angst bereitet. Sobald wir uns an eine bestimmte Geschwindigkeit gewöhnt haben, gibt es scheinbar kein Langsamer mehr. Oder wir vermeiden es um jeden Preis, die Geschwindigkeit zu drosseln, weil uns ein innerer Druck antreibt. Denn wir meinen, etwas zu versäumen oder irgendwohin zu spät zu kommen, wenn wir langsamer werden. Wir befürchten, dass das Leben an uns vorbeifließt und wir abgekoppelt von allem anderen an irgendeinem Rand übrigbleiben. Wir haben uns daran gewöhnt, dass unser Erleben mit dauernd wechselnden Reizen überfüllt wird, und sind irritiert, wenn die Flut weniger wird, wenn sich also dieser Strom verlangsamt oder verdünnt. Es entsteht ein Mangelgefühl, und daraus folgt ein Suchprozess nach neuen Reizen, um das empfundene Defizit wieder aufzufüllen. Dieser Vorgang ist von jeder Sucht bekannt: Fehlt der Gegenstand der Sucht, so fokussiert sich die gesamte Aufmerksamkeit darauf, ihn zu finden und damit die unangenehme Erregung, die mit dem Mangel verbunden ist, zu beruhigen. Sucht ist immer eine Bewältigung von Stress, die allerdings nur kurzfristig wirkt und anschließend das Stressniveau erhöht. Der Suchtkreislauf entsteht, der durch zunehmende Beschleunigung gekennzeichnet ist: Immer mehr, immer schneller.  

Jeder der vielen Reize, die auf uns einströmen, hat das Potenzial, Stress auszulösen, je nach der Bewertung, die das Nervensystem erstellt. Der Reizhunger ist ein zugleich ein Stresshunger, denn die chronische Stressbelastung führt dazu, dass bestimmte Nervenzellen im Gehirn die Stresshormone wie eine Nahrung einfordern. Damit wird die allgemeine Beschleunigung der Gesellschaft in den Individuen als Stress- und Geschwindigkeitssucht implantiert.  

Zeit ist Geld

Ein Merkmal der kapitalistischen Wirtschafsweise besteht darin, dass die Zeit mit Geld gleichgesetzt wird. Wer schneller ist, kriegt zuerst das Geschäft und verdient mehr Geld. Wer mehr Geld hat, kann mehr investieren und verdient dadurch noch mehr Geld. Die Warenproduktion wird angekurbelt, und die Individuen werden zu Konsumenten und sollen mehr und schneller konsumieren. Deshalb ist der Hunger nach Beschleunigung in den Menschen ein zentrales Interesse der Wirtschaft und zugleich das, was sie dauernd hervorrufen. 

Der Geschwindigkeitsrausch

Eine Errungenschaft der Moderne besteht darin, die Grenzen der menschlichen Macht über Raum und Zeit auszudehnen: Mit Hilfe von Maschinen gelingt es, die Grenzen des menschlichen Körpers zu überwinden, die Natur und die Schwerkraft zu bezwingen und damit ein Herrschafts- und Machtgefühl genießen. Fast jeder Bewohner eines weiter entwickelten Landes hat die Möglichkeit, sich in eine Maschine zu setzen, auf ein Pedal zu treten und sich mit einer Geschwindigkeit zu bewegen, die sonst kein Lebewesen auf diesem Planeten schafft. Das Auto ist für die meisten nicht einfach nur ein Mittel, um von A nach B zu kommen oder schwere Sachen zu transportieren, sondern wird in der Fantasie der von Geschwindigkeitssucht Betroffenen ein Kultobjekt mit magischer Bedeutung. Es verspricht die Macht über Raum und Zeit, jenseits der Grenzen, die die Natur gesetzt hat. Es symbolisiert den Sieg der Menschen über die Natur, an der jeder Autonutzer teilhaben kann.  

Die Beschleunigung wirkt wie ein Wettlauf auf den Tod hin. Sie ist angetrieben von der permanenten Vorwegnahme des Todes, indem in die verbleibende Zeit hineingestopft werden muss, was nur irgendwie Platz hat. Je mehr Termine und Erledigungen bewältigt werden können, desto weiter scheint sich das drohende Ende zu entfernen. Aber unausweichlich ist das Ende, bei dem alles immer langsamer werden wird, bis es schließlich zum Stillstand kommt. 

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Freitag, 3. März 2023

Ungeduld beim inneren Wachsen

Für immer mehr Menschen wird das innere Wachsen ein wichtiges Thema. Sie merken, dass sie ihre Potenziale nur mangelhaft ausnutzen können, sich innerlich leer fühlen oder eine Sehnsucht verspüren, über die bisherige Erfahrungsform hinauszustreben. Es geht nicht nur darum, im Äußeren erfolgreich zu sein und dort Abenteuer zu erleben, materiellen Wohlstand anzuhäufen und Unterhaltung zu genießen; es gibt auch die innere Dimension, in der vieles gefunden werden kann, was die Außenwelt nie bieten kann. Und es zeigt sich dann immer mehr, dass die Freilegung der Potenziale des Inneren den Umgang mit den Herausforderungen des Äußeren erleichtert. 

Wenn wir an unserem inneren Wachsen arbeiten, durch Therapie oder Meditation, durch Selbstreflexion und achtsame Bewusstheit, erleben wir oft unerwartete und überraschende Verbesserungen und Fortschritte. Manchmal erscheinen sie wie richtige Durchbrüche auf eine neue Ebene des Bewusstseins. Wir sehen die Welt mit neuen Augen, erfreuen uns an der Schönheit der Natur und erkennen das Strahlen in jedem Menschen. Wir fühlen uns am Gipfel angekommen. 

Rückfälle oder Umwege 

Dann passiert es aber immer wieder auch, dass wir auf alte, schon längst überwundene Muster zurückfallen. Wir versinken in Filmserien, die uns nicht wirklich interessieren, spielen Computerspiele, die uns abstumpfen, finden alle möglichen Ausflüchte, wenn wir etwas für unsere Fitness machen sollten, rasten wegen Kleinigkeiten aus und fühlen uns andauernd angespannt oder verstimmt. Wir sind wieder im alten Fahrwasser, als hätte sich nie etwas geändert. Schon sind die Selbstvorwürfe aktiv, mit denen wir unsere Stimmung noch mehr vermiesen. Wir denken uns, die ganzen Bemühungen haben alle nichts gebracht, all das Geld, das wir für Sitzungen und Selbsterfahrungsgruppen, für Meditationsretreats und Indienreisen ausgegeben haben, war für die Katz‘. All die Zeit, die wir für tägliches Meditieren, Yogamachen, Achtsamkeitsgehen und QiGong-Übungen aufgewendet haben, war vergeudete Liebesmüh‘. Es kommt uns vor, als ob wir im gleichen bekannten Sumpf stecken, in dem wir uns schon vor Jahren missmutig gesuhlt haben.  

In solchen Situationen haben wir vergessen, dass das innere Wachsen kein linearer Prozess ist. Wir haben vergessen, wie trickreich unser Ego ist, weil wir dachten, wir hätten es schon längst durchschaut und überwunden. Aber es wartet immer wieder hinter einer Ecke und ist dann plötzlich wie selbstverständlich wieder da, meistens gerade dann, wenn uns das Leben neue Herausforderungen präsentiert. Dadurch geraten wir in Stress und fallen aus der inneren Balance. Und schon ist das Ego zur Stelle und macht sich wichtig. Schließlich war es jahrzehntelang der Krisenmanager. Es reproduziert alten Stress und verbindet ihn mit der neuen Situation, es mobilisiert alte Bewältigungsmechanismus, die aus unserem Überlebensmodus stammen.  Schnell kommt es wieder in seine ursprüngliche Macht. Es lässt uns ungeduldig werden und aktiviert unsere Selbstzweifel: Was hat das alles gebracht, was wir zu unserer Selbstverbesserung und zur spirituellen Öffnung unternommen haben, wo wir doch schon wieder in einem alten Loch stecken? 

Das Ego weiß um seinen natürlichen Feind, das innere Wachsen. Deshalb macht es alles schlecht, was ihm gefährlich werden könnte.  Es versetzt uns in Unruhe und Unzufriedenheit und will uns weismachen, dass wir, wenn unsere Bemühungen sinnvoll gewesen wären, wir schon längst dauerhaft in Shangri-La wohnhaft sein müssten. Da das noch immer nicht der Fall ist, kann es sich stolz als Retter in der Not auf die Brust klopfen und den weiteren Fortschritt auf zweierlei Weise behindern: Entweder indem es den Narzissmus der spirituellen Sucherin nährt und suggeriert, welch außergewöhnliche und ausgewählte Person sie ist oder indem es der Ungeduld Raum gibt, die immer nachfragt, wie lange es noch dauert, bis endlich das Ziel erreicht ist. 

Immer also, wenn sich die Ungeduld in unsere Innenarbeit einmischt, sollten wir wissen, dass es das Ego ist, das uns den Genuss der Früchte unseres spirituellen Strebens verderben möchte. Die Ungeduld führt uns weg aus dem gegenwärtigen Moment und verbindet uns mit einer illusionären und fantasierten Zukunft. Sie macht uns schmerzlich bewusst, dass wir noch immer nicht dort sind, wo wir meinen, dass wir eigentlich schon längst sein sollten.  

Das Handtuch werfen 

Manche geben die Reise nach innen auf, wenn sie merken, dass sie schon wieder einem Rückfall im Wachstumsprozess unterlegen sind. Sie kehren zum „normalen“ Leben zurück, tauchen in die „sublime Mittelmäßigkeit“ frei nach Hanzi Freinacht ein und genießen die kleinen oder größeren Vorzüge des Alltags. Sie gewöhnen sich an das Auf und Ab der Stimmungen und richten es sich in den altbekannten Gewohnheiten wohnlich ein. Mit ein wenig Wehmut und viel Sarkasmus blicken sie vielleicht zurück auf die Zeiten der “Nabelbeschau” zurück und pflegen ein Stück heimliche Bewunderung und Verachtung für jene, die sich weiter auf diesem Weg abmühen. 

Widerstände werden zu Ressourcen 

Andere nehmen den verlorengegangenen Faden wieder auf und wandern ihm entlang weiter. Sie erkennen, dass Rückschritte zum Weg gehören, weil sie auf tiefere Widerstände aufmerksam machen. Sie erfahren, dass die Hemmungen beim Weitergehen ganz wichtige Lernerfahrungen beinhalten, wenn sie bewusst erforscht werden. Sie nehmen sich dieser Kräfte an, die gesehen, gespürt und überwunden werden können, bis sie sich in Ressourcen verwandeln und dem Wachsen dienen. 

Bald werden sie bei diesen Erkundungen merken, dass sie auf einem Fundament aufbauen, das sich durch die früheren Erfahrungen gebildet hat. Nichts, was je erworben wurde, ist umsonst geschehen. Jedes Lernen und Wachsen hat eine Spur hinterlassen und Neues erschlossen.  

Sie kommen leichter in die innere Stille als in ihren Anfängen, sie merken, dass ihnen die Disziplin im Üben und Reflektieren leichter fällt als früher und dass sie schneller zur Gelassenheit zurückfinden, wenn sie sich mal aufregen. Sie erkennen, dass kein Schritt, der sie jemals näher zu sich selber geführt hat, umsonst war, sondern dass all diese Erfahrungen ihren Sinn haben und zum Weitergehen beitragen.  

Das Rätsel der Ungeduld lichtet sich, indem es als ein Trick des Egos verstanden wird. Ein spiritueller Weg ist nie geradlinig und eben, er kennt viel rauf und runter, unerwartete und unübersichtliche Kurven tauchen auf, und manchmal stecken wir in einem Labyrinth fest und suchen verzweifelt den Ausweg. Hindernisse aller Art stellen sich entgegen, und eine davon ist die Ungeduld. Je mehr wir diese Hindernisse verstehen, desto besser können wir mit ihnen umgehen. Was uns zuerst als lästiger Gegner erscheint, wird dann zum vertrauten Bekannten, der uns ein Stück begleitet. Die Ungeduld, die wir zur Freundin gewinnen, verwandelt sich bald in eine entspannte Genießerin des Augenblicks.  

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Mittwoch, 1. März 2023

Alles zu seiner Zeit: Über die Ungeduld in der Therapie

Immer wieder hören wir von Klienten, dass sie sich schnellere Veränderungen bei ihren problematischen Verhaltensmustern und Gefühlsabläufen wünschen. Sie wären gerne nach ein paar Stunden frei von allen Zwängen und Störungen und beklagen die Langsamkeit der inneren Entwicklung. Wir kriegen dadurch manchmal als Therapeuten den Eindruck, dass sie mit uns und dem, was wir ihnen anbieten, unzufrieden sind und machen uns selbst dann einen Druck, um schneller bessere Resultate zu erzielen. 

Es ist verständlich, dass Menschen ihre Leidenszustände so schnell wie möglich loswerden wollen. Jede Form von Leiden belastet und macht unglücklich und erzeugt verständlicherweise die Ungeduld, das Schwierige und Bedrückende möglichst schnell wieder loszuwerden. Deshalb besteht die Erwartung an die Therapeuten oder andere, die Linderung und Heilung anbieten, zügig und sicher Abhilfe zu verschaffen. 

Seelenreparatur?

Oft steckt eine Einstellung dahinter, die die eigene Seele wie ein defekt gewordenes Gerät sieht, das man in eine Werkstatt bringt, wo es vom Experten repariert wird. Diese Einstellung, die die eigene Seele zum leblosen Objekt macht, ist selber Teil des Problems. Denn es zeigt, wie weit sich jemand von sich selbst und seinem Inneren entfernt hat. Es ist aber nicht weiter verwunderlich, dass sich solche Meinungen bilden, weil sie sehr weit verbreitet sind. Wer ein Problem hat, sucht sich einen Fachmann oder eine Fachfrau, und diese haben dann die Verantwortung, dass das Problem gelöst wird. 

Zurück zur Lebendigkeit

Die Aufgabe der Therapie liegt vor allem darin, die Natur der eigenen Seele kennenzulernen. Sie ist eben kein Ding, sondern etwas sehr Lebendiges. Sie hat ihre eigene Zeitstruktur, die sich von dem unterscheidet, was unser flottes oder hektisches Denken vorgeben möchte. Die seelischen Abläufe sind viel langsamer als die in unserem Kopf. Das ist der erste Grund, warum die Heilung auf der seelischen Ebene Zeit braucht, nämlich genau die Zeit, die es braucht, und nicht die, die unser ungeduldiges Denken einfordert. Der zweite Grund ist ebenso offensichtlich: Was sich über Jahre und Jahrzehnte in unsere Seele eingegraben hat, kann nicht von heute auf morgen einfach verschwinden. Unsere Seele muss umlernen, neue Sichtweisen erwerben, alte Gewohnheiten aufgeben usw. Und jedes neue Lernen erfordert Zeit; wir haben auch nicht sofort Rad fahren oder schwimmen können, sondern haben Zeit gebraucht, bis wir diese Tätigkeiten ohne nachzudenken ausführen konnten. Reaktionsmuster, die wir im Lauf unserer Kindheit erworben haben, haben sich fest in den Netzwerken unseres Gehirns etabliert, weil sie oft und oft in unserem Leben wiederholt und dadurch gefestigt wurden. Aus jeder Verletzung und Traumatisierung sind solche Bahnungen in unserem Gehirn entstanden, die eine so große Bedeutung erlangt haben, weil sie in extrem bedrohlichen Situationen gebildet wurden. 

Veränderung und Widerstand

Daraus folgt der dritte Grund: Es gibt gegen jede Änderung Widerstände. Schließlich hat alles, woran man sich gewohnt hat, so lästig und störend es sein mag, auch seine Vorteile. Die Themen, mit denen wir in der Therapie arbeiten, sind Überlebensstrategien, die wir in der Kindheit erworben haben, um unter emotional fragilen Umständen über die Runden zu kommen. Sie haben also einmal unser Überleben gesichert. Das weiß unser Unterbewusstsein und will sie deshalb nicht so mir nichts dir nichts hergeben. Unsere Seele verfügt über ausgesprochen konservative Seiten. Je mehr Ungemach in unserem Leben passiert ist, desto stärker sind diese Seiten ausgeprägt. Sie wollen das, was einmal funktioniert hat, nicht aufgeben und glauben, dass es auch für alle zukünftigen Herausforderungen geeignet ist. Jeder Widerstand gegen Veränderung bremst das Tempo der Heilung. Wie wir wissen, können Widerstände nicht einfach ignoriert oder durchbrochen werden. Vielmehr müssen sie beachtet und für ihren langjährigen Dienst anerkannt werden. Dann jedoch gilt es, sie zu überwinden und ihnen keine Bedeutung mehr zuzumessen. Erst dann ist es möglich, die Gefühle, die mit den ursprünglichen Prägesituationen verbunden sind, zuzulassen, durchzufühlen und auszudrücken. Dafür braucht die Seele viel Zeit, Qualitätszeit, die mit Bewusstheit und Achtsamkeit begleitet wird und die am besten mit jemandem verbracht wird, der eine bedingungslose Zuwendung und Präsenz anbieten kann und der auch die notwendige Geduld aufbringt. 

Der Bann der Schnelligkeit

Ein weiterer Aspekt, der bei der Ungeduld der Menschen in Bezug auf ihre therapeutischen Fortschritte mitspielt, ist die in unserer Gesellschaft wirksame Beschleunigung: Alles soll immer schneller und schneller gehen. Im Maß dieser Beschleunigung wächst unsere Ungeduld. Wir gehen nicht mehr ins Geschäft nebenan zum Einkaufen, weil das viel mehr Zeit braucht, als wenn wir mit ein paar Klicks online bestellen, und rechnen auch dann mit einer Lieferung innerhalb kürzester Frist. Wenn es mal länger dauert, wechseln wir gleich den Anbieter. Wie an anderem Ort ausgeführt, gelingt es in Österreich nicht, Tempo 100 auf Autobahnen einzuführen, weil die Entschleunigung so viele irrationale Ängste hervorruft. Das Immer-Schneller-Werden-Müssen hat etwas Zwanghaftes und Suchterzeugendes. Wir reden ja auch vom Rausch der Geschwindigkeit, ohne dabei zu erkennen, wie das Schnelle immer mehr das Langsame verdrängt, in unser aller Leben. 

Wir leben eben in einer Zeit, die von Ungeduld geprägt und durchdrungen ist. Zeit ist Geld, je schneller etwas geht, desto mehr Geld kann damit gemacht werden. Es ist eine ökonomische und maschinelle Zeit, die uns bis in unser Unterbewusstsein hinein beeinflusst und die der Seelenzeit entgegengesetzt ist. Es ist eine Zeit, die von vorgegebenen und anonymen Anforderungen bestimmt ist, und nichts mit der Natur und ihren Rhythmen, in die auch unsere Seelen eingebunden sind, zu tun hat. 

Entschleunigung

Diese Seele in ihrer Natürlichkeit wiederzufinden, ist das Ziel des therapeutischen Bestrebens. Als Therapeuten sind wir gefordert, diese Zielrichtung immer im Blick zu behalten. Selber können wir, so gut wir es vermögen, unsere eigene Seele in ihrer Zeitform einbringen und der Klientin dabei helfen, aus der Beschleunigung der Welt auszusteigen und sukzessive langsamer und damit bedächtiger zu werden. Achtsamkeit ist untrennbar mit Entschleunigung verbunden.  

Erwartungen der Therapeuten

Doch auch als Therapeuten sind wir nicht frei vom Bann des Beschleunigungs- und Geschwindigkeitswahns. Auch wir kennen die Ungeduld mit Klienten und ihren Widerständen. Wir vermeinen ja schon zu wissen, wohin sie kommen sollten und was es dafür braucht, dass sie dort hinkommen. Wir sehen sie in unserem geistigen Auge vor uns, ruhig und gelassen, reflektiert und einsichtig, ohne Jammern und Selbstanklagen, befreit von düsteren Stimmungen und Beziehungsproblemen. Und doch kommen sie jede Woche mit gleichen oder ähnlichen Klagen, mit gleichen oder ähnlichen Gemütszuständen. Wir merken zwar gewisse Fortschritte, aber sie gehen für unser Empfinden viel zu langsam vonstatten. Vielleicht zweifeln wir dabei an unseren eigenen Künsten, vielleicht spielt auch eine unterschwellige Abwertung der Klienten mit. 

Solche oder ähnliche Gedanken sind menschlich, allzu-menschlich. Sie spiegeln die mächtige Wirkung des sozialen Umfelds wider, der sich auch reflektierte und selbsterfahrene Menschen nicht vollständig entziehen können. Diese Gedanken und die damit verbundenen Gefühle gehören aber nicht zur professionellen Haltung, die wir für diesen Beruf brauchen. Deshalb ist es wichtig für das therapeutische Arbeiten, sich die Ängste bewusst zu machen, die hinter dem Impuls zum Antreiben der Heilarbeit stecken. Dann können wir solche regressiven Anteile durch die Haltung des Vertrauens ersetzen. Diese besagt, dass es nicht an unseren Egos liegt, den Verlauf und die Dauer des Heilungsprozesses zu bestimmen, sondern an dem, was da heilen soll, also an der Seele. Wir vertrauen ihr den Prozess der Gesundung an und nehmen unsere engen und selbstbezogenen Vorstellungen, die von unbewussten Ängsten und Schamgefühlen gelenkt werden, zurück. 

Wenn uns also als Therapeuten solche Gedanken und Gefühle bewusst werden, liegt es an uns, die Gelegenheit beim Schopf packen, und dann besinnen wir uns auf unsere Seele, auf ihr unendliches Potenzial und ihre unerschöpfliche Tiefe und auf ihre ganz eigene Entwicklungsgeschwindigkeit. Damit können wir der Klientin das Vertrauen zu ihrer eigenen Seele weitergeben und ihr damit zur Geduld mit sich selbst verhelfen. Das ist der Nährboden für seelisches Wachstum und für nachhaltige Heilungsprozesse: Alles zu seiner Zeit. 

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