Samstag, 30. Oktober 2021

Die soziale Wirkung negativer Glaubenssätze

Negative Glaubenssätze prägen das Innenleben und die Außendarstellung, also das Erscheinungsbild, das wir nach außen hin abgeben. Wir nehmen eine andere Körperhaltung ein, wenn wir unter dem Einfluss eines selbstabwertenden Glaubenssatzes stehen. Die Augen schauen anders drein. Unsere Atmung und unser Herzschlag verändern sich. Vermutlich senden wir andere Duftstoffe aus. Wir stehen unter Stress und wirken beunruhigend auf andere, auf die sich der Stress überträgt, ohne dass sie es merken. Diese Außenwirkungen werden auf der unbewussten Ebene kommuniziert.

Der unbewusste Kommunikationskanal ist für das Phänomen verantwortlich, dass unsere Umgebung uns die Glaubenssätze zurückspiegelt. In diesen Fällen bekommen wir durch das Verhalten unserer Mitmenschen die Botschaft, dass es mit unseren Glaubenssätzen, also mit den selbstverleugnenden Annahmen über uns selbst, seine Richtigkeit hat. Wir erhalten die Bestätigung für unsere negative Selbsteinschätzung.

Wir haben diese Sätze in unseren frühen Lebensphasen gebildet, wie im vorigen Blogartikel beschrieben. Die Ausgangspunkte waren die Beobachtung des Verhaltens der Erwachsenen, unsere emotionalen Reaktionen auf dieses Verhalten und die Anpassung an die Botschaften der Eltern. Emotional wirksame Glaubenssätze sind also immer Resultate aus frühen kommunikativen Erfahrungen. Sie bilden dann eine Art Grundgerüst für das entstehende Selbstkonzept.

Selbstkonzept und soziale Rückkoppelung

Dieses Selbstkonzept wird zur Basis der eigenen Identität, selbst wenn es selbstschädigende Element enthält. Unser Verhalten wird vom Unbewussten so gelenkt, dass es die Bestätigung dieser Identität wahrscheinlicher macht. Deshalb kommt es zu selbstsabotierenden Handlungen, die scheinbar widersinnig sind, weil sie den bewussten Intentionen entgegenwirken. Jemand will beim Personalchef eine Gehaltserhöhung erreichen und kommt zum Termin zu spät, weil er sich mit einer attraktiven Kollegin verplaudert. Der Personalchef zweifelt an der Pünktlichkeit und Verlässlichkeit des Mitarbeiters, ist verärgert und verschiebt die Gehaltserhöhung. Die im Unbewussten gespeicherte Botschaft: „Ich bin nicht gut genug“ hat ihre Wirkung getan und für die Bestätigung gesorgt, indem sie das Einhalten des Termins sabotiert hat.

Unser Unbewusstes sendet fortwährend Botschaften aus, die im Unbewussten unserer Mitmenschen ankommen und die dann aus ihrem Unbewussten darauf reagieren. Lautet diese Botschaft z.B. „Ich bin nicht liebenswert“, so wird in den anderen Personen die entsprechende Reaktion angeregt. Sie finden die Person z.B. nicht sympathisch oder interessant und gehen ihr aus dem Weg. Aus diesem Verhalten liest das Unbewusste die Bestätigung der Annahme, nicht liebenswert zu sein.

Musterbestätigung und Heilungsversuche

Manchmal wundern wir uns, wieso wir es immer wieder mit Menschen zu tun haben, die uns regelmäßig auf die Palme bringen können – Freunde, Beziehungspartner, Kollegen, Vorgesetzte. Was uns so leicht irritiert und verärgert,  hängt mit den Glaubenssätzen zusammen, die wir in uns tragen. Unser Unbewusstes sucht die Bestätigung für diese Annahmen über uns selbst und lädt gewissermaßen unsere Umgebung dazu ein, uns diese Bestätigung zu geben. Wenn wir von uns glauben, dass wir tollpatschig sind, dann braucht es uns nicht zu wundern, wenn wir Leute um uns haben, die uns wegen jeder Unbeholfenheit oder Ungeschicklichkeit kritisieren. Wir verhalten uns in schwachen Momenten genau so, dass wir die exakt passenden Rückmeldungen bekommen, die in die Kerbe unserer inneren Selbstabwertungswunde schlagen und sie wieder aufreißen.

Unser Unbewusstes sucht Verbündete für seine Muster und knüpft Verbindungen zu anderen Menschen, die uns sympathisch erscheinen, weil sie ein ähnliches oder ein diametral entgegengesetztes selbstabwertendes Muster in sich tragen. Der Volksmund kennt beide Richtungen: Gleich und Gleich gesellt sich gerne, und das scheinbare Gegenteil: Gegensätze ziehen sich an. Was die beiden Richtungen verbindet, ist das Thema, das von einem unbewussten Glaubenssatz vorgegeben wird. Im einen Fall suchen wir gleichbetroffene Opfer, die uns im Opferstatus bestätigen. Im anderen Fall trachten wir nach einer Stellvertretung für die Täterperson, von der wir unbewusst erhoffen, diesmal nicht zum Opfer gemacht zu werden. Wir wünschen uns gerade besonders sehnlich, von denjenigen Menschen verstanden und akzeptiert zu werden, denen das am schwersten fällt – wiederum die Wiederholung von Kindheitserfahrungen.

Das Unbewusste sucht also auch Kontakt zu Menschen, die aufgrund der eigenen Prägung intuitiv spüren können, wo unsere eigenen Schwachstellen liegen, und die dann genau mit ihren Reaktionen dorthin zielen und uns in der Tiefe zu treffen vermögen. Es gibt die Erwartung nicht auf, dass es diesmal besser werden könnte und endlich kommt, was in der Kindheit so schmerzlich offen geblieben ist.

Manchmal suchen Menschen in ihren Beziehungen einmal die eine Variante und einmal die andere und oszillieren zwischen beiden Polen. Unzufrieden mit zu viel Gleichklang in der Verletztheit, also im Opferstatus, gehen sie zu jemanden, der das entgegengesetzte Muster in sich trägt und den Täter repräsentiert. Er soll endlich von der Last befreien und den Fluch aufheben, der im negativen Glaubenssatz beschlossen ist. Da hier aber trotz aller Anstrengungen das erhoffte Verständnis nicht kommt, wird wieder die erste Variante gewählt. Der Wechsel zwischen Sicherheit und Abenteuer ist das äußere Merkmal dieser Beziehungsdramaturgie. Das Unbewusste führt die Regie, solange, bis die unbewusst wirkenden Glaubenssätze gehört und verstanden werden und die Wurzelverletzungen geheilt sind.

Zum Weiterlesen:
Die Macht der Glaubenssätze
Glaubenssätze und Scham
Gefühle machen Gedanken machen Gefühle

Donnerstag, 28. Oktober 2021

Die Macht von Glaubenssätzen

In der Psychologie und Psychotherapie sprechen wir immer wieder von Glaubenssätzen (englisch: beliefs). Damit sind prägende Sätze gemeint, die einen hindernden, einschränkenden und selbstabwertenden Charakter haben. Sie wurzeln tief in der Psyche und können eine starke Macht im Innenleben gewinnen. Sie sind an praktisch allen Störungen und Erkrankungen, die wir aus dem psychischen Bereich kennen, beteiligt und liegen deren kognitiven Teil zugrunde. 

Zum Beispiel mischen sich bei Depressionen oft Glaubenssätze ein: Der niedrige, gelähmte Energiezustand führt zu Misserfolgen und Handlungsvermeidungen. Sogleich treten Selbervorwürfe auf, die wiederum das Selbstgefühl niederdrücken, zu weiteren Vermeidungen führen, die in der Folge die Selbstvorwürfe intensivieren. Diese Kreisläufe werden maßgeblich von den Glaubenssätzen, z.B. „Ich bin nicht wertvoll“ oder „Ich bin unfähig“ beeinflusst. Diese Sätze führen im Hintergrund Regie, ohne dass sie bewusst werden.

Die Glaubenssätze, von denen wir hier sprechen, sind älter als das Denken, für das wir höhere Gehirnfunktionen benötigen. Wie ist das zu verstehen? Frühe verstörende, verletzende und traumatisierende Erfahrungen führen zu starken körperlichen Reaktionen, zu denen schon bald im Lauf der Entwicklungen Gefühle oder Vorformen von Gefühlen kommen. Glaubenssätze sind dann die sprachliche Form dieser Gefühlserfahrungen, die im Unterbewusstsein abgespeichert sind.

Wir sprechen in Analogie zur Computerwelt auch von Programmierungen. Die Analogie passt insofern, als diese Sätze ihre Wirkung im Hintergrund entfalten, sich in alle Abläufe einmischen können und viele Handlungen steuern. Sind diese Hintergrundprogrammierungen defekt, ist das gesamte System arbeitsunfähig.

Die Macht der Glaubenssätze

Wie können Sätze eine derartige Macht über uns ausüben? Es sind ja nur Worte, die wir oft nicht einmal bewusst hören, die zwar irgendwo im Unterbewussten wabern, aber auch dort bleiben könnten. Es sind aber tatsächlich nicht die Worte, die so mächtig sind, sondern die Gefühle und Gefühlsmuster, die durch die Worte ausgelöst oder ausgedrückt werden. Die Sätze sind Stellvertreter für emotionale Erfahrungen, die sich im Lauf der Seelenentwicklung aufbauen und einprägen. Sie fassen zusammen, was es an Verletzungen und Traumatisierungen in der eigenen Geschichte gegeben hat. Sie können ihre Ursprünge bei unseren ganz ersten Erfahrungen haben.

Ein Beispiel: Ein Kind, das empfangen wird, aber für die Eltern zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt kommt oder in denkbar ungünstige Umstände hineingerät, nimmt den Stress der Eltern mit der Botschaft auf, nicht willkommen zu sein. Der Glaubenssatz ist dann also: „Ich bin nicht gewollt“ oder „Ich bin nicht willkommen“.

Wir wissen allerdings, dass menschliche Wesen nach der Geburt ein bis zwei Jahre brauchen, um überhaupt Sätze formulieren und ausdrücken zu können. Das Sprachzentrum im Gehirn ist erst ab einem bestimmten Reifegrad in der Lage, Worte in einen grammatikalischen Zusammenhang zu bringen. Das Worterlernen ist schon ein erster wichtiger Schritt zum Erwerb der Sprachkompetenz; das Bilden von Sätzen erfordert den Sprung auf ein höheres Komplexitätsniveau. Wie soll das aber gehen, wenn Sätze schon am Anfang des Lebens, also noch lange bevor es ein Sprachzentrum gibt, gebildet werden, noch dazu solche, die dann eine lebenslängliche Wirkung haben sollen?

Die organischen Ursprünge von Glaubenssätzen

Dazu schlage ich ein Modell vor, das diese Zusammenhänge erklären kann. Die erste Annahme, die wir dazu treffen müssen, besagt, dass Zellen über ein Gedächtnis verfügen, das vor allem Gefahrenquellen abspeichern kann, um vor künftigen Bedrohungen zu schützen. Lebewesen brauchen einen Angstspeicher, der ihnen hilft, unter wechselnden äußeren Umständen überleben zu können. Selbst wenn Einzelzellen oder einfache Zellverbände kein Gehirn mit Bereichen haben, die auf Angst spezialisiert sind, kennen sie die Emotion in einer Vorform, die dann später als Angst erlebt wird. Die einfachen Emotionen, die wir als Erwachsene kennen, haben also urtümlichere Vorfahren, Proto-Gefühle, mit denen Außen- und Innenerfahrungen koordiniert werden. Mit zunehmender Reifung entwickelt sich das Bewusstsein, durch das Gefühle dann als Gefühle erfahrbar werden.

Sprache und Gefühle 

Gehen wir eine Komplexitätsstufe weiter nach oben, kommen wir zur Sprache. Sie baut auf den Gefühlen auf und nutzt deren Struktur, um daraus die Grammatik zu bilden. Die Sprache gibt also die abstrahierte Gefühlslandschaft wieder und bildet deren Dynamik ab. Glaubenssätze sind dann nichts anderes als die abstrakten Abbilder von Gefühlserfahrungen, die sie auf den Punkt bringen und zusammenfassen. Stellen wir uns vor, ein winziger Organismus erlebt eine fortdauernde Verunsicherung, weil er sich in einer bedrohlichen Umgebung befindet, z.B. im Mutterleib einer drogenabhängigen oder alkoholsüchtigen Mutter.  Diese andauernd wirksame Angst  findet im Glaubenssatz: „Ich bin ohnmächtig und ausgeliefert“ ihren Niederschlag. Die subjektbezogene Umkehrung, in die die Urscham einfließt, lautet: „Ich bin nicht willkommen, ich bin nicht liebenswert, ich sollte besser nicht existieren.“ 

In dem frühen Stadium der Bildung des Glaubenssatzes besteht er natürlich noch nicht in der sprachlichen Form und ist auch als solcher nicht bewusst. Aber er ist gewissermaßen im Kern angelegt, sodass er, sobald die Sprache zur Verfügung steht, in diese Form gekleidet werden kann. Meist bleibt er dennoch unbewusst und äußert sich versteckt in anderen Botschaften, die im Leben als Unzufriedenheit, Niedergeschlagenheit oder anderen Missstimmungen ausgedrückt werden. 

Die unbewussten Glaubenssätze üben eine Schutzfunktion aus. Sie sollen verhindern, dass die seelischen Bereiche, in denen die traumatischen Erinnerungen gespeichert sind, geöffnet werden. Denn die Befürchtung ist berechtigt, dass ein unbeabsichtigtes Eindringen in diese Räume zu einer massiven Überflutung und Überforderung mit schmerz- und grauenhaften Gefühlen führen würde. Also sorgen die negativen, selbstabwertenden kognitiven Strukturen dafür, dass sich die betroffene Person zwar permanent schlecht fühlt, sich aber auch an diese Gefühlslage soweit gewöhnt, dass sie nichts mehr daran ändern will. 

Die Sprache wirkt zurück auf die Gefühle. Indem sie sie benennt, können sie leichter reguliert werden, aber es kommt auch dazu, dass sie über gedankliche Vorgänge schneller und vielfältiger aktiviert werden. Denn die entsprechenden Worte, aber auch die sprachlich in Sätzen formulierten Gedanken können entsprechende Gefühle hervorrufen: Wir denken an etwas, das wir vergessen haben könnten, und es treten Angstgefühle auf. 

Auf diese Weise bilden sich Rückkoppelungseffekte und Verstärkerkreise: Gedanken verstärken Gefühle, die wiederum Gedanken verstärken, usw. Die unheilvollen und qualvollen Auswirkungen solcher negativer Selbstbestätigungen kennen alle Grübler und viele Depressive oder Menschen mit Zwängen.

Die Entmachtung der negativen Glaubenssätze

Glaubenssätze sind also Symptome und nicht Ursachen für Verstörungen und Irritationen im Selbstkontakt und in der Selbstannahme. Die Ursprünge liegen in traumatischen Erfahrungen, vor allem in dysfunktionalen Entwicklungsbedingungen und unsicheren Bindungen in den Anfängen des Lebens. Wenn wir die unbewussten Glaubenssätze bewusst machen, – und oft bedarf es dazu fachkundiger Begleitung –, können wir ihre Herkunft identifizieren. Die eigentliche Heilarbeit muss an diesen Wurzeln ansetzen. 

Ein zusätzlicher ressourcenstärkender Teil der Arbeit besteht darin, dass die Glaubenssätze entmachtet werden, indem sie zunächst in ihrer Natur als Gedanken erkannt werden. Gedanken können sehr mächtig sein, sie haben aber eine „Schwäche“, sie können, sobald sie bewusst sind, umgedacht werden. Sie können also mit Hilfe des Bewusstseins in ihr Gegenteil verkehrt werden. Aus: „Ich bin nicht willkommen“ wird einfach: „Ich bin willkommen.“ 

Gedanken sind also nur dadurch machtvoll, dass sie unkontrolliert aus dem Unterbewusstsein hochsteigen und dabei auf die Gefühlslandschaft einwirken. Sie können nachträglich aber relativ leicht in die Schranken gewiesen werden, indem sie mit bewusster Achtsamkeit beendet und durch andere oder gegenteilige Gedanken ersetzt werden.

Umbau des Gehirns

Dieses Gedankentraining verhilft dazu, dass die negative Selbstbeziehung, die die Folge von frühen Störungen darstellt, auf der obersten Ebene durch eine bewusste Denkanstrengung in eine positive Selbstbeziehung umgewandelt wird. Die Einprägungen im Gehirn, also die Nervenbahnen und synaptischen Verbindungen, die durch die Glaubenssätze ausgebildet wurden, werden abgeschwächt, indem ihr Gegenteil eingeprägt wird. Darin besteht die Kraft der Arbeit mit Affirmationen. Sie helfen, das Gehirn umzustrukturieren. Sie erleichtern den Zutritt zu den frühen emotionalen Wunden. So wird es leichter, sie zu bearbeiten. 

Wenn die zentral wirksamen Glaubenssätze einmal bewusst geworden sind, können sie in ihren Auswirkungen auf das eigene Leben wahrgenommen und dort mit der entsprechenden Bewusstheit unschädlich gemacht werden. Immer wenn sie sich in die Abläufe einmischen wollen und dabei ertappt werden, kann das positive Gegenteil des negativen Satzes als Hilfsmittel herangezogen werden und im Inneren wiederholt werden. So festigt sich eine neue Gewohnheit, sich selber auf der kognitiven Ebene wertzuschätzen und zu achten. Von dieser Ebene sinkt dann langsam das neue Selbstgefühl in die tieferen Schichten der Seele.

Die Affirmation der Geburtsrechte

Die positiven Glaubenssätze bekräftigen die Geburtsrechte, d.h. die Ansprüche an das Menschsein, die die Grundlage jedes Menschenlebens und jeder menschlichen Gemeinschaft bilden. Sie spiegeln das Wesen des Menschen wider, seine Würde und die Achtung für die Besonderheit. Sie stammen aus der Stimme des Lebens zu uns selbst, des Lebens, das genau dieses Menschenleben so wollte, wie es ist und es in jedem Moment in seinem Sein und Wachsen unterstützt. 

Affirmationen sind bejahende Selbstbekräftigungen, die unsere Wesensnatur und unsere heile Selbstbeziehung ausdrücken. Sie bestärken unseren angemessenen Platz in der Gesellschaft und die gleichrangigen Beziehungen zu unseren Mitmenschen. Sie tragen zu unserem Wohlbefinden und zu unserer Lebensfreude bei.

Sie sind kein Hokuspokus, sondern Botschaften, die wir an uns selbst und an die verängstigten und verletzten Teile von uns richten. Wir beziehen uns fürsorglich und unterstützend auf uns selber. Auf Grund unserer Traumageschichte haben wir vergessen, wer wir wirklich sind und was uns im Wesen ausmacht. Mit positiven Glaubenssätzen holen wir uns unsere Würde und unsere Lebensrechte zurück.

Zum Weiterlesen:

Die soziale Wirkung negativer Glaubenssätze
Glaubenssätze und Scham
Gefühle machen Gedanken machen Gefühle
Beklagen - Selbsterzeugte Gehirnwäsche
Über die Pflicht zum Optimismus
Autarkie und Scham


Sonntag, 24. Oktober 2021

Die Revolution der Freundlichkeit

Freundlichkeit im Alltag

Metta bedeutet in der buddhistischen Tradition der Vipassana-Meditation „bedingungslose Freundlichkeit, Wohlwollen, liebevolle Güte, Mitgefühl“. In der üblichen Metta-Meditation geht es darum, sich liebevoll dem eigenen Selbst, den anderen Menschen und allen empfindenden Wesen zuzuwenden. Vielleicht geht es heute auch darum, diese fürsorgliche Aufmerksamkeit der Gesamtheit der Natur zukommen zu lassen. Allem, was ist, wird auf diese Weise Gutes gewunschen: „Mögen alle Wesen glücklich sein!“

Diese Praxis können wir auch in unseren Alltag integrieren. Sie erfordert Übung und ein wenig Mut. Vor allem geht es darum, die eigenen Gewohnheiten zu verändern und mit mehr innerer Aufmerksamkeit durchs Leben zu gehen.

Gewohntes Misstrauen 

Gewohnheitsmäßig reagieren wir misstrauisch auf unbekannte Menschen, denen wir begegnen. Unser Unterbewusstsein will klären, ob von ihnen eine Gefahr ausgeht. Wenn die Klärung eine Entwarnung ergibt, wechseln wir üblicherweise in eine neutrale Position. Allenfalls finden wir noch etwas Interessantes an der Person, das unsere Aufmerksamkeit für länger fesselt, bis uns der nächste Reiz in Beschlag nimmt. Diese Reaktionen unseres Unterbewusstseins laufen automatisch und schnell ab, meist ohne dass wir etwas mitbekommen. 

Die Bewusstheitsübung, die mit der Metta-Praxis verbunden ist, setzt an diesem Punkt an und besteht darin, statt in die Gleichgültigkeit zu wechseln, ein freundliches und zugewandtes Gefühl zu aktivieren. Wir verweilen für einen längeren Moment bei der Person und schenken ihr ein wohlwollendes Gefühl. Schließlich begegnen wir gerade einem Menschen, der ebenso wertvoll und besonders ist wie wir selbst. Wir begrüßen die Einzigartigkeit und unendliche Werthaftigkeit gerade dieser Person, ihre unzerstörbare Würde. Wenn wir so wollen, anerkennen wir die Göttlichkeit in ihr. 

Wir lassen bewusst alles weg, was wir an der Person nicht mögen, was uns nicht gefällt. Wir stellen also unsere Bewertungen und Urteile über die Person beiseite. Sie sind nebensächlich und entspringen aus unserer Sichtweise und unseren Konzepten darüber, wie ein Mensch in seinem Aussehen und Verhalten sein sollte. Über das Innere eines Menschen steht uns kein Urteil zu.

Dieser Mensch hat ein anderes Schicksal und geht einen anderen Lebensweg, und wir werden ihn vielleicht nie wieder sehen. Dennoch können wir ihm für seine Zukunft von unserem Herzen alles Gute wünschen. Wir tun das mit unseren Freunden und Bekannten, wenn wir uns verabschieden, warum nicht mit Fremden? Fremde sind nur Menschen, die wir noch nicht näher kennengelernt haben.

Wir verfügen über Prägungen, die uns sagen, dass Fremde gefährlich oder bösartig sein können und mahnen uns zur Vorsicht. Es kann tatsächlich sein, dass der Mensch, dem wir gerade freundlich begegnet sind, böse Absichten in sich trägt oder etwas Böses plant. Wir wissen es nicht. Aber selbst wenn es so wäre, müssen wir ihm solange kein Gewicht beimessen, solange es sich nicht in bösem Tun manifestiert. Unsere Aufmerksamkeit Bewusstheit richten wir auf den heilen inneren Kern, der allen Menschen zu eigen ist. Damit unterscheiden wir das Handeln vom Sein oder Wesen des Menschen und geben dem letzteren den Vorrang vor dem ersteren. Wir selber wollen ja auch lieber in unserem Sein wertgeschätzt werden, statt für unsere Fehler Kritik und Abwertung ernten.

Wir geben auch Gedanken keine Energie, die darauf gerichtet sind, was jemand anderer über uns denkt oder gegen uns haben könnte. Die Unsicherheiten über die Urteile und Bewertungen, die andere Menschen über uns haben, stellen wir bewusst beiseite. Wir wissen nie, was andere über uns denken, vor allem, wenn wir sie überhaupt nicht kennen. Meistens spiegeln sich in den Vorstellungen, dass uns andere ablehnen oder missbilligen, unsere eigenen Unsicherheiten und Selbstzweifel. 

Der Vor-Schein einer menschlichen Gesellschaft

Wir geben uns selbst ein Beispiel dafür, wie es unter Menschen sein sollte: Jedes Mitglied der großen Menschheitsfamilie verdient den gleichen Respekt und die gleiche Hochachtung, unabhängig von Geschlecht, Alter, Sozialstatus, Hautfarbe, sexueller Orientierung, politischer Einstellung. Jeder unserer Mitmenschen verdient unsere Freundlichkeit. Auf diese Weise verbannen wir das Feindliche und Feindselige aus dem Leben, das so viele Menschen einnimmt und fortwährend soziales Gift erzeugt. Wir schicken statt dessen die Botschaft in die Umgebung: „Fürchte dich nicht, ich bin dir freundlich zugewandt.“

Eine win-win-Situation

Wir verlieren bei der Alltagsübung von Metta nichts, sondern gewinnen: an Mitmenschlichkeit, Empathie und Offenheit. Wir schenken etwas aus freien Stücken, gleich, ob es der Person gerade auffällt oder nicht. Der Tag wird heller, bei uns selber und vielleicht auch bei der anderen Person. Wir freuen uns an den Mitmenschen und ihrem Sein und freuen uns dabei über uns selber.

Eine Beobachtung habe ich beim Spazierenfahren mit meinem Enkelsohn gemacht: Er sitzt im offenen Buggy und ich fahre mit ihm den Gehsteig entlang. Erwachsene begegnen uns und sie schauen auf das Kind im Rollwagen (falls sie nicht vom Bildschirm ihres Smartphones gebannt sind), und wenn sie ein Lächeln bekommen, lächeln sie sogleich zurück. Mein Enkelsohn ist ein freundliches Kind und lacht gerne andere Menschen an. Die Unbefangenheit des Kindes nimmt sie gefangen, sie können sich nicht gegen den Strom von Herzlichkeit abschotten. Ich sehe sie kommen, wie sie in Gedanken versunken sind, wie sich ihr Gesicht durch die Begegnung aufhellt und wie sie fröhlich und beschenkt weitergehen. Es ist, als hätte sie ein Zauber überrascht und verwandelt.

Das ist das wechselseitige Beschenken, das in solchen Kontakten entsteht. Ich beschenke mich mit meiner entspannten wohlwollenden Neugier. Meine Entspannung überträgt sich auf die andere Person. Ich beschenke sie durch meine bewertungsfreie Akzeptanz und Achtung und ich werde beschenkt durch die Veränderung in ihre Stimmung und Ausstrahlung, wenn mein Geschenk ankommt.

Alles, was es für diese Übung braucht, ist die Bereitschaft, aus dem Käfig der Befangenheit und Selbstzentriertheit herauszutreten und die eigene Freundlichkeit zu mobilisieren und in die Welt einzubringen. Wirken wir mit an dieser Revolution der Freundlichkeit und des Wohlwollens!

Zum Weiterlesen:
Mitgefühl hat keine Grenzen
Gibt es Grenzen des Mitgefühls?
Die Solidaritätsschranke

Die Inspiration zu diesem Artikel verdanke ich Walter Christian Klocker. Hier zu seinem Beitrag zu dem Thema.


Freitag, 22. Oktober 2021

Soziopathie und die Folgen für die Demokratie

Bei der Soziopathie handelt es sich um eine Persönlichkeitsstörung, die in modernen Klassifikationen als dissoziale Persönlichkeitsstörung bezeichnet wird. Die Hauptmerkmale sind: 

  • Die Unfähigkeit, soziale Normen einzuhalten und die Grenzen von anderen Personen zu respektieren.
  • Das Fehlen von Mitgefühl. 
  • Die Neigung zu impulsiver Aggressivität und Gewalt.
  • Die Unfähigkeit, längerfristige Beziehungen aufrechtzuerhalten.
  • Fehlendes Scham- und Schuldbewusstsein.
  • Die Unfähigkeit, aus sozialen Fehlern zu lernen.

Soziopathen erscheinen oft so, als wären sie frei von Angst und Scham, weil sie ohne Skrupel „über Leichen gehen“, also andere Menschen missachten und verletzen, scheinbar, ohne es zu bemerken oder ohne dass es ihnen nahe geht. Sie sind allerdings nur geübt im Verdrängen dieser Gefühle. Es gibt zwar Menschen, die angstfrei sind, weil sie eine genetisch bedingte oder durch eine degenerative Nervenkrankheit entstandene Störung in den Mandelkernen des Gehirns haben, aber solche Personen sind nicht machtgierig, sondern auf eine sehr naive Weise vertrauensvoll. Sie erkennen nicht, wenn sie ausgenutzt werden, weil ihnen die Angst nicht signalisiert, dass sie in Bezug auf bestimmte Menschen vorsichtiger sein sollten.

Die Soziopathie ist eine Persönlichkeitsstörung, die sich auch im Gehirn abbildet und mit einer eingeschränkten Aktivierung im Frontalhirn zusammenhängt. Diese Unterfunktion kann die Auswirkung einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer Entwicklungstraumatisierung und vielleicht auch von transgenerationalen Übertragungen sein. Hinter dieser Persönlichkeitsstörung versteckt sich eine Geschichte von Beschämungen und Demütigungen, von Verletzungen und Herabwürdigungen.

Die Angst und  die Scham stellen zwei unterschiedliche Ausdrucksformen für die zwei grundlegenden Überlebensprogramme dar: Das Programm für das individuelle und das Programm für das soziale Überleben. Eine Möglichkeit, wie sich diese Programme ausformen können, liegt in der Verdrängung beider Gefühle, und das führt dann zu einer Scham- und Angstlosigkeit, die eigentlich in der Verschüttung des Zugangs zu diesen Gefühlen besteht. Damit geht unweigerlich der Verlust von Empathie und auch von Selbstempathie einher. 

Soziopathen drängen oft nach Führungspositionen, und das ist verständlich, weil sie dort die Macht innehaben, die ihnen die Sicherheit vor Angriffen, Bedrohungen und Beschämungen garantieren soll. Deshalb ist es so wichtig, dass soziale Kompetenzen, die auch die Schamsensibilität beinhalten, bei der Auswahl von Führungskräften eine zentrale Rolle spielen. So kann verhindert werden, dass die Mitarbeiter unter asozialen Führungskräften und deren destruktiven Einflüsse auf das Betriebs- und Organisationsklima leiden müssen. 

Soziopathen in der Politik

Soziopathen oder Menschen mit starken soziopathischen Zügen gibt es auch unter den Politikern, und sie kommen in diesem Bereich besonders gehäuft vor, was sich aus der erläuterten Verbindung dieser Störung mit dem Machtstreben ergibt. Politik hat ja viel mit der Verteilung und Verwaltung von Macht zu tun.

Wie erklärt sich der Erfolg solcher offensichtlich oder versteckt agierender soziopather Politiker? Sie verstehen es, Wähler für sich zu begeistern, die ihnen dann an die Macht verhelfen? Wie ist es möglich, dass solche Personen mit substanziell eingeschränkten sozialen Kompetenzen in der Politik, in der es um die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens geht, zentrale Entscheidungsbefugnisse bekommen? Das heißt, dass wir die Verantwortung für unsere Gesellschaft Menschen anvertrauen, die charakterlich für diese Aufgabe denkbar ungeeignet sind? Wie ist diese Form der kollektiven Selbstsabotage möglich?

Schamlose Politiker und Politikerinnen sprechen all jene Wähler und Wählerinnen an, die mit ihrer Schambelastung kämpfen oder unter ihr leiden. Sie fühlen sich anderen unterlegen, wofür sie sich schämen. Sie sehen aber die politische Führungsfigur als Retter und Erlöser aus der beschämenden Situation der Unterlegenheit und Benachteiligung. Sie glauben fest daran, dass es ihnen besser gehen wird, wenn sich der soziopathische Politiker mit all seiner Macht und Durchschlagskraft für ihre Interessen (und nur für ihre Interessen) einsetzen wird. Gerne wären sie auch so durchsetzungsstark und bewundern die Rücksichtslosigkeit, mit der die eigenen Anliegen vertreten werden. Sie erhoffen sich von solchen Politikern, dass sie denen, die ihnen Beschämungen und Demütigungen angetan haben, auf Heller und Pfennig all das Böse und Gemeine heimzahlen. Sie sollen die Rache übernehmen, die ihnen zwar als rechtmäßig erscheint, für die sie sich selber aber zu schwach fühlen oder nicht den Mut aufbringen. Sie wären gerne so skrupellos und schambefreit, noch einfacher und moralischer ist es aber, diese Aufgabe an jene zu delegieren, die schon vom „Naturell“ her dazu geeigneter sind. Die Verehrung der Schamlosigkeit dient einerseits zur Aufrechterhaltung des Vorbilds und andererseits als Erleichterung, selber nicht so sein zu müssen. 

Allerdings entsteht bei vielen die Neigung, angesichts der Unverfrorenheit des Vorbilds die eigenen Schamschranken zu reduzieren und die eigene Moralität aufzuweichen. Auf diese Weise nimmt Schritt für Schritt die Bereitschaft für Rohheit und Gewaltneigung auf breiterer Basis zu. Die Moralität, die durch die Scham gesteuert ist, wird schleichend geschwächt.  Parallel verläuft der Prozess zur Entsolidarisierung, denn die Unverschämtheit besteht immer darin, die eigenen Interessen rücksichtslos, auch auf Kosten der anderen zu verfolgen. Die Gesellschaft wird mit jedem Verlust der Schamsensibilität soziopathischer, egoistischer und empathieloser. 

Demokratie und Schamverdrängung

Der politische Konkurrenzkampf um die Macht und den Einfluss auf die Steuerung der Gesellschaft ist Teil der Demokratie. Je mehr soziopathische Elemente in diese Auseinandersetzungen einfließen, desto schwieriger wird die Konsensfindung und desto emotionalisierter werden die Konflikte. Denn verdrängte Angst- und Schamgefühle führen die Regie und drängen die Vernunft, das Wissen und die Wissenschaft in den Hintergrund. Psychologisch betrachtet sind es die traumatisierten inneren Kinder der Protagonisten und ihrer Wähler, die die Geschicke einer hochkomplexen Gesellschaft und Ökonomie lenken wollen und dabei restlos überfordert sind.

Deshalb ist es demokratiepolitisch von höchster Bedeutung, dass wir einen bewussten Umgang mit der Scham in ihren vielen Varianten finden. Für das Funktionieren demokratischer Entscheidungsfindungsprozesse brauchen wir die Ausbildung und Pflege der Emotionalkultur, und hierbei besonders der Schamsensibilität, in allen Bereichen der Gesellschaft, also im Bildungssystem vom Kindergarten bis in die Erwachsenen- und Seniorenbildung, in den klassischen und modernen Medien und in den öffentlichen Diskursen. Die Macht, die in einer Demokratie vom Volk ausgeht, kann nur dann im Sinn des Gemeinwohls wirken, wenn das Volk soweit emotional erwachsen ist, dass es immun gegen soziopathische Manipulation ist und verhindert, soziopathische Persönlichkeiten in Machtpositionen zu hieven.

Zum Weiterlesen:
Homo corruptus und homo innocens
Kapitalismus und Sozialismus: Angst- und Schamorientierung
Die Solidaritätsschranke

Freitag, 15. Oktober 2021

Homo corruptus und homo innocens

Der Schriftsteller Franzobel hat den Ausdruck homo corruptus in einem lesenswerten aktuellen Feuilleton in der Neuen Züricher Zeitung auf den „gelernten Österreicher“ angewendet und damit eine Spezies Mensch gemeint, die nonchalant öffentliche Gelder in die eigene Tasche (oder in die der eigenen Partei) abzweigen, mit einem Selbstverständnis, als würde das jeder so machen und als wäre deshalb nichts daran auszusetzen – solange es im Geheimen bleibt. Im aktuellen Fall zeigt sich eine besonders perfide Variante, als die mutmaßlichen Betrüger noch dazu die Chuzpe aufbrachten, den Betrug am Steuerzahler als Betrugsbekämpfung zu kaschieren, so als würde ein Bankräuber sein Verbrecher als Initiative zu Verbesserungen der Sicherheit der beraubten Bank und ihrer Sparer rechtfertigen. 

Sobald das korrupte Treiben offenbar wird, meldet sich die Empörung bei den mutmaßlichen Tätern: Wie konnten diese bösartigen und hinterlistigen Behörden ihre auf nichts gegründeten Erhebungen bloß auf eine solche äußerst unfaire Art durchführen, nämlich indem sie private Konversationen ausheben und dokumentieren? Was für ein unverschämter Eingriff in die eigene Privatsphäre, hallt es durchs Land. Müssen wir jetzt bei jeder Mauschelei fürchten, vor den Kadi und an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden? Wo kommen wir da hin? Wir verlieren unsere gewohnte Unbefangenheit in den Grauzonen zwischen dem Legalen und dem gerade nicht mehr Legalen, in denen wir uns so wohl fühlen und so viele Dinge in unserem Sinn richten können.

Der Zorn der Verbrecher über die Aufdecker

Natürlich ärgert sich der Verbrecher, der sein Verbrechen sorgfältig plant, sodass es geheim bleibt und nie entdeckt werden kann, wenn er auffliegt. Er findet es gemein, dass die Polizei Methoden der Ausforschung benutzt, an die er nicht gedacht hat. Das ist eine Kränkung des verbrecherischen Narzissmus, der nach dem perfekten, sprich nie ausgeforschten Verbrechen strebt, damit der persönliche Vorteil ungestört lukriert werden kann. 

Wenn nun Politiker diesen Ärger in propagandistischer Absicht an die Öffentlichkeit bringen, ist das erstaunlich, weil die Selbstoffenbarung so offensichtlich ist: Schamvoll einbekennen zu müssen, dass man selbst als der Dümmere aussteigt. Da wirkt der plumpe Versuch, die, die einem diese Scham bereiten, weil sie die Unrechtmäßigkeit des Tuns aufzeigen, ihrerseits aggressiv zu beschämen, nur mehr wie ein tieferes Eingeständnis der eigenen Schuld.

Die Unschuld und ihre Vermutung

Dass bei solchen Wortmeldungen nicht alle gleich lauthals auflachen, in Fremdscham verfallen oder entsetzt den Kopf schütteln, ist nur verständlich, wenn wir bedenken, dass das Pendant zum homo corruptus im homo innocens (wörtlich: Der, der keinen Schaden anrichtet, also unschuldig ist) gefunden werden kann. Diese Spielart des Menschlichen, die ich hier einführe, pflegt den naiven Glauben an die Personen, die sie idealisiert und in einen Bereich jenseits von Gut und Böse ansiedelt. Dazu setzt sie ihren Verstand, ihre Vernunft und ihre Ethik aus und schaltet nur auf der Gefühlsebene auf Empfang. 

Wir alle haben gierige und rücksichtslose emotionale Anteile in uns, in vielen Aspekten vergraben im Unbewussten, und das macht uns verführbar für die Dynamik, die in der Öffentlichkeit aufgeführt wird. Wir alle sind korrumpierbar und hätten nichts dagegen, auf Kosten des Staates reicher zu werden, nur scheuen die meisten das Risiko aufzufliegen und meiden deshalb die entsprechenden Grauzonen. 

Wir alle lieben es, unschuldig zu erscheinen und nichts mit dem Bösen zu tun zu haben, das vor unseren Augen ausgeübt wird, solange das eigene Böse ausgeblendet bleibt. Das Böse ist irgendwo außen, innen ist alles gut. Der Politiker, der sich angesichts massiver Beschuldigungen als homo innocens präsentiert, zieht alle an, die die Leichen in ihren dunklen Kellern ebenso erfolgreich verdrängen wollen. Insgeheim ahnen sie, worum es bei dem ganzen Spiel in Wirklichkeit geht – ein vages Unbehagen, das von der Scham erzeugt wird, erinnert sie daran –, sie glauben aber auch, dass es schlimmer ist, sich der Wahrheit zu stellen als nach außen den unschuldigen Schein zu wahren.

Hinter der Rhetorik der versteckten Korruption

Ein homo corruptus muss sich darauf verstehen, von seinen Anhängern als lupenreiner Gutmensch gesehen zu werden, also als homo innocens mit versteckter Überheblichkeit und arrogantem Verächtlichmachen der Gegner. Er vermittelt effektiv eine augenzwinkernde Doppelbotschaft: Ich bin das herausragende Beispiel von moralischer Reinheit, weil ich meine Untaten so gut kaschieren kann. Seht meine Unschuld, die meiner Korruptheit übergestülpt ist. So smart wie ich bin, wird niemand an meiner Patina kratzen können. Alle, die ihr diese Doppelrolle kennt und schätzt, versammelt euch hinter mir.

Dazu braucht er die Meisterschaft in der unterschwelligen Kommunikation, also im Öffnen der unbewussten Gefühlskanäle seiner Anhänger. Dorthin kann er seine Botschaften einfüttern und sie auf diese Weise an sich binden. Die Unschuld liegt im treuherzigen Blick, der im Bauchhirn der Anhänger ankommt, um dort ein wohlig warmes Gefühl zu erzeugen: “So ein netter und freundlicher Mensch, wie arm, wenn ihm, dem Unschuldigen, soviel Ungerechtigkeit und Leid zugefügt wird.” Mit geschliffener Rede lullt er das Denken der Anbeter ein, auch und besonders indem er nur Phrasen verwendet. Die lässige Gestik vermittelt die Überlegenheit über alle Widrigkeiten und infamen Beschuldigungen.

Das Idol und die Anhänger

In der Rechtschaffenheit und Anständigkeit, die ihm vom Idol präsentiert wird, fühlt sich der angesprochene homo innocens unter Seinesgleichen. Er verehrt die glattpolierte Fassade seines Idols und nimmt ihn zum Vorbild, hinter seiner eigenen Kulisse die dunklen Geheimnisse gut zu verstecken, um sich selber damit in Sicherheit wiegen zu können. Er kämpft für die Unversehrtheit des Vorbilds, der eben kein homo corruptus sein darf, weil man selber keiner sein will, obwohl und gerade weil man einer ist.

Die Unversehrtheit des Vorbilds stärkt den Glauben an die eigene moralische Integrität und muss deshalb um jeden Preis intakt bleiben. Das Vorbild wird gegen alle Angriffe verteidigt, um nicht nur das Idol, sondern auch sich selber und die eigene angemaßte Unschuld zu schützen. Was es zu schützen gilt, ist die Fassade, hinter der gar nicht so unschuldige innere Antriebe lauern wie z.B. die Gier oder der Hass – Gefühle, die nicht da sein sollten, weil sie nicht zum Selbstverständnis eines homo innocens passen. Die Fassade steht also im Dienst der Abwehr gegen die dunklen Seelenteile und Impulse, die im frisierten Selbstbild des Unschuldigen keinen Platz haben.

Der homo corruptus und die Justiz

Der homo corruptus fühlt sich nicht nur von der Justiz gemein und schlecht behandelt, sondern muss dazu noch seine politische Macht einsetzen, um diesem Treiben ein Ende zu setzen, sodass das eigene sinistere Treiben ungestört weitergehen kann. Also werden die Behörden angegriffen und als die eigentlichen Täter hingestellt. Böse ist, wer die fleißige fabrizierte Fassade nicht glaubt und nach dem Bösen dahinter sucht, das es nicht geben darf.

Hier handelt es sich um eine wirklich bemerkenswerte und bedenkliche Variante im Spiel der Opfer-Täter-Umkehr: Die mögliche Täterschaft wird damit verschleiert, dass die Aufdecker als Täter hingestellt werden. Wir können von Glück reden, dass wir in Österreich noch Behörden haben, die vor der Rache der Aufgedeckten von der Verfassung geschützt werden. Weltweit gibt es das Phänomen der von den eigentlichen Tätern verfolgten Aufdecker der Taten, mit Julian Assange als vielleicht prominentestem Beispiel. Diktatoren nutzen ihre unbegrenzte Macht regelmäßig für diese Zwecke, während sie in Demokratien wie z.B. den USA geheim im verdeckten Hintergrund ablaufen. In anderen Demokratien wie der unseren werden stattdessen die Heroenbilder des homo innocens, hinter denen sich der homo corruptus verbirgt, gepflegt und von einer breiten Schar von blinden Anhängern, bis hin zum neuen österreichischen Bundeskanzler, verehrt.

Es ist menschlich verständlich, sich gegen Vorwürfe zu wehren, indem man diejenigen persönlich angreift, die einem bestimmte Taten vorwerfen, und ihnen schlechte Absichten unterstellt. Es ist verständlich, aber unreif, weil die eigene Verantwortung abgeleugnet wird. Und es ist besonders peinlich, wenn das in der Öffentlichkeit geschieht; erkennbar ist die Peinlichkeit und Unreife aber nur für jene, die sich nicht unter die homines innocentes einreihen. Aus Wahlergebnissen und Umfragedaten kann man ablesen, dass immerhin zwischen 20 und 25 Prozent unserer Bevölkerung in diese Kategorie fallen.

Die Dynamik der Scham

Die innere Dynamik zwischen den beiden oben skizzierten Typen enthält viele Anteile der Scham und führt unweigerlich zu einer inneren Spaltung, solange sie nicht im Bewusstsein wahrgenommen wird. Der Persönlichkeitsanteil des homo innocens übernimmt den verschämten Teil, der sich als Opfer fühlt. Der Aspekt des homo corruptus ist der unverschämte Täter, der sich gleichwohl seinerseits verschämt, aber auch verschmitzt hinter dem homo innocens verbirgt und auf diese Weise seine Schäfchen ins Trockene bringt. Der eine ist stolz auf seine Tat, weil sie ihm zum Vorteil gereicht und er dadurch seinen Narzissmus stärkt. Er delegiert die Scham an den anderen Teil, der ja einsieht, dass man ein guter Mensch sein soll und der sich auch als solchen sieht, weil das Böse ja im anderen Teil lokalisiert ist. Es braucht also eine klare und verlässliche Abspaltung, damit die Dynamik innerpersönlich reibungslos ablaufen kann.

Diese Spaltung zeigt sich im Äußeren zwischen den korrupten Politikern und ihren naiven Anhängern. Die Anhänger verkörpern in ihrem Glauben an das Vorbild die Reinheit und moralische Integrität, die sich nicht zu schämen braucht. Sie wird als „Unschuldsvermutung“ immer wieder öffentlich eingemahnt, gemeint ist eigentlich ein Unschuldsglaube oder ein Unschuldsdogma, notwendig für die Aufrechterhaltung der eigenen Integrität. 

Es ist also nur eine behauptete Schamfreiheit, die vom Vorbild und seiner Präsentation als unschuldiges Opfer übernommen wird. Denn die Scham befeuert im Hintergrund das ganze Spiel, indem sie beharrlich und unerbittlich jede Abweichung vom Weg der Achtung der Menschenwürde und der sozialen Ausgewogenheit und Gerechtigkeit aufzeigt. Das ist für die Betroffenen nie angenehm, und deshalb muss die Scham verdrängt und abgewehrt werden.

Erst wenn die Scham als Motor dieser Dynamik erkannt wird, wird deutlich, dass über sie der einzige Ausweg aus der Spaltung zwischen Korruption und Unschuld gefunden werden kann, im Inneren und in der Gesellschaft. Das Anerkennen der eigenen Schamanteile führt zur Bewusstheit über die vielfältigen Formen der Schamverdrängung und ihrer destruktiven Folgen.

Das ist aber für viele Menschen und für viele Kollektive ein langer und mühsamer Weg, weil die Scham ein geheimnisvolles Geflecht entfaltet hat, das nur mit viel Bewusstheit und Bereitschaft für das Konfrontieren der eigenen inneren Abgründe und der gesellschaftlichen Verwerfungen entwirrt werden kann. Die Anstrengungen lohnen sich aber allemal, weil durch sie das individuelle Leben befreit und die Gesellschaft menschlicher gestaltet wird – all das, was sich die narzisstischen Idole auf ihre Fahnen heften. 

Zum Weiterlesen:
Machtmissbrauch und Scham
Der Stolz der Opfer


Mittwoch, 6. Oktober 2021

Machtmissbrauch und Scham

Macht ist ein Begriff, dem wir eher mit Widerwillen und Misstrauen begegnen. In wikipedia z.B. wird der Begriff folgendermaßen beschrieben: „Macht bezeichnet die Fähigkeit einer Person oder Gruppe, auf das Denken und Verhalten einzelner Personen, sozialer Gruppen oder Bevölkerungsteile so einzuwirken, dass diese sich ihren Ansichten oder Wünschen unterordnen und entsprechend verhalten.“ Macht besteht also darin, Herrschaft über andere auszuüben, nämlich über jene, die über weniger Macht verfügen. Damit ist klar, dass die Macht nur angenehm für jene ist, die sie haben, und unangenehm für jene, die sich ihr fügen müssen. 

Das Ausüben von Macht geschieht notgedrungen in jeder Form menschlichen Zusammenlebens. Macht ist ein „Lebensmittel“ von sozialen Systemen, ein wichtiges und unverzichtbares Ingredienz von sozialer Dynamik. Menschen üben aufeinander Einflüsse aus, die vom Eigenwillen gesteuert sind. Ich will, dass du heute Abend mit mir ins Kino gehst. Weil es mir ein wichtiges Anliegen ist, setze ich meine Macht ein, um mein Ziel zu verwirklichen. Es kann sein, dass ich auf eine Gegenmacht stoße, indem die angesprochene Person sagt, dass sie lieber zuhause bleiben möchte. Macht stößt auf Macht, und es wird sich weisen, ob sich eine Seite durchsetzt, ob es einen Kompromiss gibt oder eine andere Form des Ausgleichs.

Das Machtthema ist immer präsent, wenn Menschen mit unterschiedlichen Intentionen etwas Gemeinsames erschaffen wollen. Im günstigen Fall sind beide Seiten einer Meinung, und die Machtfrage ist erledigt. In anderen Fällen, wenn sich eine Seite unterlegen fühlt, während die andere dominiert, ist damit zu rechnen, dass es zu Racheaktionen kommt. Der Machtausgleich wird dann auf indirekte, versteckte oder unbewusste Weise gesucht. Z.B. geht jemand mit ins Kino, obwohl er eigentlich nicht will und äußert sich im Lauf des Films unmutig und kritisch über die Handlung oder die Schauspieler oder die Musik, und die andere Person fühlt sich um das Vergnügen des Kinobesuchs gebracht.

Die Frage der Machtverteilung und Machtflexibilität

Probleme mit der Macht ergeben sich nicht dort, wo Machtansprüche erhoben werden, sondern dort, wo die Verfügung über die Macht ungleich verteilt ist, diese Verteilung keine nachvollziehbare Grundlage hat und nicht geändert werden kann. Der Machtmissbrauch beginnt an dem Punkt, an welchem dem oder den Adressaten des Machtanspruchs keine oder nur untergeordnete Möglichkeiten zur Behauptung der Eigenmacht zugestanden werden. In diesen Fällen ist die Machtbeziehung unsymmetrisch, eine Seite hat mehr davon als die andere. Für solche Fälle bräuchte es eine Begründung und eine zeitliche Begrenzung, damit eine stabile Ordnung erhalten bleiben kann. Z.B. haben Eltern mehr Macht über die Gestaltung der Lebensumstände als die Kinder. Die Begründung ist, dass die Kinder noch nicht über genug Erfahrung, Wissen und Einsicht verfügen, um die Wahl des Wohnortes zu bestimmen. Diese Macht der Eltern endet mit dem Erwachsenwerden der Kinder, die dann selbst über ihren Wohnort bestimmen. Oder eine Regierung beschließt freiheitseinschränkende Maßnahmen, um einer Epidemie Herr zu werden; sobald die Krankheit eingedämmt ist, müssen die Freiheiten wiederhergestellt werden.

Ein höheres Maß an Macht ist ein von der Gemeinschaft geborgtes Gut. Es wird Personen im besonderen Maß zugebilligt, die mehr Verantwortung für die Gemeinschaft tragen, z.B. dem Anführer eines Stammes, dem Klassensprecher in der Schule oder dem Chef eines Unternehmens. Es kann prinzipiell immer entzogen werden, sobald der Träger der Macht die Verantwortung schuldig bleibt. Der Anführer, der sich nicht bewährt, wird durch jemand anderen ersetzt; die Klassensprecherin, die sich zu wenig für die Klasse einsetzt, wird abgewählt. In der Wirtschaft ist es der Gedeih oder Verderb des Unternehmens. Über die Beobachtung, wie die mit der Macht verknüpfte Verantwortung ausgeübt wird, kontrolliert die Allgemeinheit die Machtträger.

In Demokratien gilt der Grundsatz, dass jedem Akt der Machtausübung eine Kontrolle übergeordnet ist, die ihren Missbrauch verhindern soll. Gesetze, die von der Mehrheit in der Volksvertretung beschlossen wurden und für alle gelten, können durch den Verfassungsgerichtshof außer Kraft gesetzt werden. Regierungen, die Maßnahmen durchsetzen, können von der Volksvertretung abgesetzt werden. Usw.

Wo es allerdings den Machtträgern gelingt, die Macht bei sich festzuschreiben, also sich das geborgte Gut anzueignen, wird die Kontrolle ausgehebelt. Damit eröffnet sich ein Spielraum für individuelle Willkür, denn die Machtträger können selber bestimmen, inwiefern sie ihre Macht im Sinn der Gemeinschaft oder für ihre eigenen Zwecke ausüben. Die Macht wird dann missbraucht, wenn sie ohne Verantwortung für die Gemeinschaft, die die Macht verliehen hat, und stattdessen willkürlich praktiziert wird. 

Die Scham als Machtregulatorin

Machtmissbrauch ist mit Scham verbunden. Immer dort, wo ein soziales Gefälle offenbar wird, das durch individuelle oder kollektive Willkür entstanden ist, meldet sich die Scham bei denen, die dafür verantwortlich zeichnen. Wir wollen miteinander gleichrangig sein und uns auf Augenhöhe begegnen. Wenn wir andere durch das Behaupten der eigenen Macht herabstufen und zurücksetzen, macht uns die Scham auf die soziale Grundausrichtung aufmerksam: Die wechselseitige Achtung in der Gleichrangigkeit. Ungerecht ausgeübte Macht erzeugt Schuld- und Schamgefühle. 

Warum gibt es dann überhaupt solche Phänomene? Müsste nicht die Scham dafür sorgen, dass sich Machtgefälle ausgleichen? Die Menschen haben wirksame Gegenmittel gegen das lästige Schamgefühl ersonnen oder erspürt. Um es nicht wahrnehmen zu müssen, stehen verschiedene Formen der Schamvermeidung und Schamabwehr zur Verfügung. Machtmenschen, also solche, die gerne die Macht an sich ziehen und zu Machtmissbrauch neigen, müssen gut in diesen Formen bewandert sein. Denn sonst würde sie die Scham zurückpfeifen, sobald sie die Grenzen zum Machtmissbrauch überschreiten.

Solche Abwehrformen der Scham sind z.B. die Arroganz, mit deren Hilfe man sich einreden kann, etwas Besseres zu sein und deshalb auch besser zu wissen, was für andere gut ist, oder die Gier, die einen Überlebensimperativ über die Moral stellt und die Macht zur Erreichung der eigenen Ziele in Dienst nimmt, oder die Angst, dass ohne die eigene Machtausübung alles schlechter wird. 

Schamverlust und Machtmissbrauch

Es ist also der Verlust der Schamsensibilität, der den Machtallüren Tür und Tor öffnet. Ohne Schamkultur gibt es keine Bändigung von überschießenden und respektlosen Machtansprüchen. Ohne Scham gibt es keinen Rechtfertigungsdruck auf die Machtmenschen. Sie könnten tun und lassen, was sie wollen, wenn sie einmal die Macht an sich gerissen haben, wofür es ja jede Menge an Beispielen aus Geschichte und Gegenwart gibt. 

Schamsensibilität kann auch als soziales Gewissen bezeichnet werden: Ein Gespür dafür, wie das soziale Gebilde in Hinblick auf die Machtausübung beschaffen sein muss, um allen ihren Mitgliedern Sicherheit und Akzeptanz zu geben, im speziellen, welche Begrenzungen die Macht braucht und wie sie durchsetzbar sind. Dort, wo Macht zur Willkür wird, weil sie keiner sozialen Kontrolle unterliegt, entsteht Unsicherheit und Instabilität, die schließlich zur Desintegration des Sozialgebildes führt. 

Deshalb ist die Achtsamkeit auf die eigenen inneren Schamreaktionen von grundlegender Bedeutung für eine funktionierende Gesellschaftsordnung, in ihren kleinen Formen (Beziehungen, Familien) über Organisationen, Firmen, Vereinen bis zu nationalen und übernationalen Gesellschaften. Die Scham ist eine Instanz in den Individuen, sie kann aber durch gesellschaftliche Usancen und Deformationen in den Individuen reduziert oder umgedeutet werden, z.B. über ein Bildungssystem, das soziale Ungerechtigkeiten ignoriert, bagatellisiert oder rechtfertigt, oder über Medien, in denen die Machtrepräsentanten verherrlicht werden, oder über Erziehungsvorgänge, bei denen die Kinder manipuliert oder unterdrückt werden.

Der Verlust oder die Verwirrung des inneren Spürens ist eine der Auswirkungen von Machtmissbrauch, sowohl bei den „Tätern“ als auch bei den „Opfern“. Macht wird missbraucht, um Schamgefühle abzuwehren, und dieser Missbrauch bewirkt seinerseits akute Blindheit und Taubheit gegenüber der Scham. Bei denen, die die Macht in missbräuchlicher Weise ausüben, muss die Scham stillgelegt werden, und das geschieht am besten dadurch, dass die Innenbeziehung reduziert wird, dass also das innere Spüren abgestellt wird. Bei denen, die der Macht unterworfen sind, meldet sich auch die Scham, die wegen der Ausweglosigkeit des Ausgeliefertseins entsteht und mit vielen anderen Gefühlen interagiert, wie z.B. mit der Angst vor dem/der/den Mächtigen, mit dem Schmerz über die schlimme Position und mit der Wut, die die Situation verändern möchte. Je aussichtsloser die Umstände sind, desto mehr gehen die Gefühle im Kreis und verwirren die Betroffenen.

Verwirrte lassen sich leichter regieren als die, die in ihrem Inneren spüren können, was eine gerechte und faire und was eine angemaßte und selbstbesessene Form der Machtausübung ist. In unserem Inneren wissen wir, wie und wann Macht menschengerecht ausgeübt wird und wo sie ihre Grenzen hat. Wir erkennen, wann diese Grenzen überschritten werden. In unserem Inneren finden wir die Schamgefühle, die uns helfen, diese Klarheit zu finden. 

Die Eigenmacht

Wir brauchen zusätzlich noch das Gespür für unsere Eigenmacht, die aus unserer Würde stammt: Das Geburtsrecht, das wir innehaben, geachtet und respektiert zu werden, unseren Platz einzunehmen und unsere Grenzen zu wahren. Mit der Kraft, die aus der Würde erwächst, kommt der Mut, mit dem wir gegen ungerecht und willkürlich aufgezwungene Macht kämpfen und kämpfen müssen. Wo Machtallüren überhand nehmen und Machtansprüche entgleisen, braucht es mutigen Widerstand, der die Verhältnisse wieder zurecht bringt. Ausufernde Macht kann nur mit Gegenmacht eingedämmt werden. Deshalb gilt es, sich der eigenen Macht zu vergewissern, die darin besteht, die eigenen Grenzen zu sichern, die Grenzen der anderen zu respektieren und die Expansionsbestrebungen, die diese Grenzen verschieben wollen, in die Schranken zu weisen.

Auf dem Weg zur Gewaltfreiheit

Die Macht bedient sich verschiedener Mittel zur Durchsetzung, an deren Ende die Gewalt steht. Wenn wir gegen überzogene Machtansprüche unsere Gegenmacht einsetzen, sollten wir Mittel wählen, die auf der Skala zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit näher der letzteren stehen, als die Mittel, gegen die wir uns zur Wehr setzen, d.h. wir sollten gewaltfreiere Wege einschlagen als jene, gegen die wir uns einsetzen. Nur so können wir dazu beitragen, dass einerseits die Macht ihre Grenzen bekommt und andererseits daraus keine eskalierenden Machtkämpfe entstehen. Wichtig ist es also, die emotionale Ladung zu reduzieren und abzupuffern, die uns entgegengebracht wird. Auf diese Weise können wir zur Klarheit in der Grenzziehung und zur Entspannung der Konfliktsituation beitragen. 

Die Reduktion von Gewalt beinhaltet auch die Aufrechterhaltung der Achtung und die Wahrung der Menschenwürde der Person oder der Personen, gegen die wir uns abgrenzen. Je näher ein Konflikt zu Gewaltmaßnahmen kommt, desto schneller gerät die Integrität der Gegner ins Abseits. Das Weiche besiegt das Harte, wie es im Taoismus heißt, allerdings nur wenn es von innerer Festigkeit und Klarheit durchdrungen ist.

Zum Weiterlesen:
Helden ohne Mythos