Montag, 24. Januar 2022

In der Welt der Wahrscheinlichkeiten

Was sollen wir mit Wahrscheinlichkeiten? Wir wollen genau wissen, was auf uns zukommt. Wir wissen z.B., dass wir durch eine Corona-Impfung wahrscheinlich besser aussteigen als ohne: Wir haben ein geringeres Ansteckungsrisiko und Aussichten auf einen leichteren Verlauf der Krankheit, außerdem sind die Impfrisiken niedriger als die Erkrankungsrisiken. Alles spricht also fürs Impfen, und dennoch sagen viele, dass sie die Impfung für riskanter einschätzen als eine mögliche Erkrankung. Sie vertrauen also nicht auf die Wahrscheinlichkeitsberechungen, sondern auf andere, subjektive Abschätzungen der Risiken, in die sie selektiv ausgewählte Informationen, die die eigene Position stärken, einfließen lassen.  

Jede Wahrscheinlichkeitsberechnung enthält einen Unsicherheitsbereich. Auch wenn 98% von einer Methode profitieren, könnte ich unter den 2% sein, denen sie nicht hilft. Wir hätten gerne die absolute Sicherheit zu allem, was uns selber und unsere Zukunft anbetrifft. Nur kann uns die Wissenschaft diese Sicherheit nicht bieten, sondern nur Wahrscheinlichkeiten. So stehen wir immer wieder vor Entscheidungen ohne ausreichende Absicherung. Wir sollten uns einer Operation unterziehen und werden über die möglichen Risiken aufgeklärt und spüren die Angst vor ungewissen Folgen. Zugleich hoffen wir auf Besserung. Wir brauchen den Mut zum Risiko und müssen uns letztlich auf uns selber verlassen und die Verantwortung für die Entscheidung übernehmen. 

Unschärfen und Ambivalenzen 

Wir befinden uns in der Welt des Relativen, in der es keine absoluten Sicherheiten und Wahrheiten gibt. Aus der Welt der Quantenphysik wissen wir um die Unschärfe und Ambivalenz, die im Grundgefüge unseres Universums wirksam ist. Nicht einmal die Grundbausteine der Welt verhalten sich verlässlich und berechenbar. Auch hier gelten Wahrscheinlichkeiten. Das war die große Enttäuschung, die mit den physikalischen Entdeckungen in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einhergeht. Die Hoffnung auf ein durchgängiges physikalisches Modell, das auf der Gravitation beruht und alle Phänomene berechenbar macht, ist gescheitert. Andererseits wissen wir jetzt, dass dieses wunderbare Universum trotz oder wegen dieser Grundunsicherheiten entstanden ist und weiterbesteht. 

Die Probleme, die uns die Wahrscheinlichkeit auferlegt, erinnern an die grundsätzliche Unsicherheit , die wir alle mit unserem Leben haben. Wir suchen nach Sicherheiten, die es in dem Grad nicht gibt, wie wir es brauchen würden, um uns ganz angstfrei fühlen zu können. Relative Sicherheiten sind auch relative Unsicherheiten. Die Wahrscheinlichkeit macht uns nur darauf aufmerksam, wie Sicherheiten im relativen Bereich beschaffen sein können. Sie sind an ihren Rändern immer mit Unsicherheiten behaftet. Viele der menschlichen Anstrengungen im Lauf der Geschichte bestehen in nichts anderem, als diese Unsicherheiten zu reduzieren. Doch die Hoffnung, dass diese Fahnenstange ein Ende hätte, ist illusorisch.  

Wir brauchen nur an das aktuelle Virus denken, das uns verschmitzt daran erinnert, auf welch unsicheren Beinen unsere Existenz ruht. Niemand hätte vor etwas mehr als zwei Jahren geahnt, in welche Unsicherheiten diese Entwicklung die gesamte Menschheit stürzen wird. Wir alle waren stolz auf die moderne Wissenschaft und Medizin und dazu noch auf all die alternativen Heilwege, die uns so viel Sicherheit in gesundheitlichen Belangen versprochen haben. Und doch zeigt sich, dass es bei all dem, was wir wissen, genauso vieles nicht wissen. Bei allem Zuwachs an Wissen wächst zugleich die Einsicht in das, was wir nicht wissen, mit. Gewissermaßen wissen wir immer so viel, wie wir nicht wissen, wobei nicht einmal das sicher ist. 

Es ist Teil der systemischen Vernunft, aus Beschränktheiten in Folge der Begrenztheit des menschlichen Erkennens Vorzüge zu gewinnen. Die Allgegenwart der Wahrscheinlichkeit, die uns ein fortwährendes Abwägen aufbürdet, verhilft uns zu einem Wirklichkeitsverständnis, das in der Relativität des Erkennens und Wissens gründet. Die Einsicht in die Vorläufigkeit und Korrigierbarkeit jeder Einflussnahme auf die Wirklichkeit verschafft dem menschlichen Geist mehr Flexibilität und öffnet mehr Möglichkeiten für das Handeln. Wir üben uns in Unsicherheitstoleranz.

Zwischen Wahrscheinlichkeiten und Ängsten 


Häufig oszillieren wir zwischen den Zahlen und den Gefühlen hin und her, zwischen Wahrscheinlichkeiten und Ängsten. Wir befürchten z.B., dass wir die Person sind, die aus einer Million Geimpfter diese oder jene schlimme Nebenwirkung erleiden muss, oder dass wir die Person sind, die aus ein paar Tausenden Ungeimpfter an Covid sterben muss. Wir hoffen, dass wir mit drei Impfungen davonkommen oder dass uns das Virus übersieht, obwohl oder gerade weil wir nicht geimpft sind. Wir setzen auf unser Immunsystem, im einen Fall dass es die Impfungen gut verkraftet und durch sie unangreifbar wird, im anderen Fall dass es ohne zusätzlichen Anreiz vor jedem Virenbefall schützt. Wir fürchten und hoffen alles Mögliche, und nichts bietet uns eine endgültige Sicherheit. 

Das einzige Hilfsmittel gegen die Unsicherheiten liegt in der Konfrontation mit den Ängsten, die hinter unserem Drang nach absoluter Sicherheit stecken. Die Ängste sind Reaktionen unseres Gehirns und Nervensystems auf äußere Unsicherheiten, die sich mit früheren Bedrohungen unseres Lebens auf einer unbewussten Ebene verbinden und von ihnen verstärkt werden. Wenn es uns gelingt, die Ängste in uns zu beruhigen und in ihren Wurzelsituationen, also in unserer Frühgeschichte zu befrieden, dann wächst unser inneres Vertrauen, sodass wir auch in Situationen der Unsicherheit handlungsfähig bleiben. 

Auf dieser Basis können wir die Einsicht nutzen, dass wir keine richtigen oder falschen Entscheidungen treffen können, sondern nur solche, die für uns selber und für die sozialen Zusammenhänge, in denen wir stehen, im Moment angemessen und vertretbar erscheinen. Unsere Entscheidungen sind der selben Ungewissheit unterworfen wie alle anderen Vorgänge in der Wirklichkeit. Wir verfügen nur über Wahrscheinlichkeitsabschätzungen und nicht über absolute Sicherheiten. Befreit von der bedrängenden und dominierenden Macht der Gefühle können wir all die anderen Areale unseres Gehirns oder Bewusstseins aktivieren, die uns ihre Informationen und Einsichten für das Entscheiden zur Verfügung stellen. Wir denken dann bei unseren Entscheidungen nicht mehr nur an uns selbst und an unser subjektives Überleben, sondern auch an all die anderen und deren Überleben. 

Die Konfrontation mit der Endlichkeit 


Es ist die Konfrontation mit unserer Sterblichkeit, unserer Endlichkeit, die sich in jeder Unsicherheit äußert. Unser Drang nach Sicherheit ist im Grund ein Drang nach Unsterblichkeit, die uns allerdings nicht zusteht. Es ist ein kostbares Element des Menschseins, das im Geheimnis des Todes steckt. Denn der Tod gibt dem Leben erst seine tiefste Bedeutung. In der Bescheidenheit und Selbstbeschränkung, die angesichts der Unausweichlichkeit des Todes auftreten, findet der Mensch zu sich selbst. Nicht die Überheblichkeit, die im Streben nach absoluter Sicherheit enthalten ist, sondern im Eingeständnis der eigenen Begrenztheit und im Annehmen der Ängste, die damit verbunden sind, liegt das menschliche Maß. 

Die Bewusstheit über die eigene Endlichkeit und ihre Unausweichlichkeit führt uns aus der Enge der Selbstbezogenheit heraus, in die uns unsere Ängste einsperren. Wir öffnen uns für die Ängste und Bedürfnisse der anderen Menschen, anstatt nur an die Absicherung des eigenen Überlebens zu denken. Wir bedenken mit, welche Auswirkungen unsere Entscheidungen auf unsere Mitmenschen haben. Außerdem können wir den größeren Horizont miteinschließen, der die Natur umfasst. 

Das Virus als Lehrmeister der Endlichkeit 


Auch wenn uns das Virus in einer Hinsicht dazu zwingt, Masken zu tragen, demaskiert es uns in anderen Hinsicht: Es reißt uns die Maske von Sicherheit und Gewissheit weg, die uns unsere vermeintlichen Fortschritte zu immer mehr Macht und Glück vorgegaukelt hat. Wir können nicht länger an den Illusionen festhalten, alles unter Kontrolle zu haben, bzw. alles unter Kontrolle zu kriegen. Selbst wenn wir uns an windige Theorien anhängen, die uns scheinbar Sicherheit geben, weil sie die Bösewichter, die hinter den Verunsicherungen stecken sollen, namhaft machen wollen, erinnert uns das Virus dauernd daran, dass uns keine Theorie sicherer machen kann. Sicherheit gibt es nur im Seelenfrieden, der in der bedingungslosen Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit besteht. 

Zum Weiterlesen:

Vom Anfang des Universums zum Nichtwissen
Akzeptieren, was ist: Leben und Tod
Das spielerische Universum


Freitag, 21. Januar 2022

Vom Anfang des Universums zum Nichtwissen

Welchen Sinn macht es, wenn wir uns mit dem Anfang des Universums beschäftigen, außer, wir sind Physiker oder Kosmologen, deren Beruf und Berufung darin besteht, diese Anfänge zu erforschen? Ich möchte hier einen Aspekt näher beleuchten, der für unser Selbst- und Weltverständnis von Bedeutung ist: Die Frage nach der Existenz eines Schöpfergottes. 

Am Anfang war der Urknall, so wissen wir es seit geraumer Zeit, und fragen gerne keck, was denn davor war, schließlich muss es ja etwas gegeben haben, was da geknallt hat. Mit der Frage haben wir allerdings ignoriert, was die Physiker, die auf den Urknall gekommen sind, dazu herausgefunden haben: Mit diesem Ereignis beginnt das Universum, und mit dem Universum beginnen Raum und Zeit. Wir sind es gewohnt, dass jedem Krach eine Ursache zugrundeliegt – die Nachbarn haben Streit, jemand hat sein Handy nicht auf lautlos gestellt, usw. Überhaupt alles, was passiert hat, ein Vorher und ein Nachher, wir sind gar nicht in der Lage, uns irgendetwas als zeitlos oder als unverursacht vorzustellen.  

Unsere Wahrnehmung, unsere Vorstellungen, unser Handeln – alles ist in Raum und Zeit, wie auch der Körper, mit dem und durch den das alles abläuft, in Raum und Zeit existiert, als dreidimensionales Gebilde mit einer Geschichte. Deshalb ist die Frage nach der Ursache des Urknalls verständlich; sie stammt aber aus den Gewohnheiten eines Lebens in Raum und Zeit; bezogen auf die Anfänge führt sie allerdings ins Leere und bringt uns dazu, die Grenzen unseres Existierens anzuerkennen. Wir sind gewissermaßen eingesperrt in Raum und Zeit. Was darüber hinausgeht, ist nur mit Hilfe von mathematischen Modellen darstellbar. Jede Vorstellung oder Idee, die wir uns von Raum- und Zeitlosigkeit bilden, ist eine raum-zeitliche Vorstellung oder Idee, von der wir versuchen, das Raum-Zeitliche wegzudenken oder wegzuhalluzinieren, aber das alles passiert in Raum und Zeit. Wir kommen aus diesem Rahmen nicht heraus, weil wir ihn überall mithaben, wo immer wir unterwegs sind: Im Spüren, Fühlen, Vorstellen, Denken, Intuieren usw.   

Es gibt also einen absoluten Anfang des Universums, der vor ca. 13,8 Milliarden Jahren das Universum „aus dem Nichts“ entstehen ließ. Wohlgemerkt: Auch dieses Nichts ist eine abstrakte Idee unseres raum-zeitlich geprägten Denkens. Wir können weder wissen noch verstehen, was “vor” dem Urknall war, weil es kein Vorher gibt. Denn jedes Vorher erfordert Zeit, die es da noch nicht gegeben hat. Weil wir in diesem Universum entstanden sind, sind wir raum-zeitliche Wesen, deren Erleben untrennbar an diesen Rahmen gebunden ist. 

Seither gibt es Raum und Zeit, seither dehnt sich das Universum aus und schafft immer mehr Raum, während die Zeit weitergeht, solange dieses Universum noch besteht. 

Unser raum-zeitliches Gehirn

Mit unserem Gehirn sind wir in der Lage zu abstrahieren, uns also von der sinnlich wahrgenommenen Wirklichkeit zu lösen und Allgemeinbegriffe zu bilden. So bezeichnet z.B. das Wort „Idee“ etwas, das wir nicht in unserer Umgebung irgendwo finden können, sondern das als Realität in unserem Kopf existiert. Auch wenn eine Idee scheinbar keinen Raum einnimmt, gibt es sie nur, weil wir über ein räumliches Gehirn verfügen. Außerdem hat sie nur insoweit Bedeutung, als sie Auswirkungen auf das Leben im Raum hat. Alle Allgemeinbegriffe sind also raum-zeitliche Konstruktionen. 

Mit unserem Gehirn sind wir weiters in der Lage zu verneinen. Wir können also vor alles, was wir denken, ein Nicht- stellen, und schon ist es negiert. Da wir über diesen Denkmechanismus verfügen, sind wir übrigens in der Lage, die Anfänge des Universums zu verstehen, wofür wir die Begriffe von positiver und negativer Energie benötigen. Die Verneinung, die wir im Denken vornehmen, ist wiederum nur dann wirkungsvoll, wenn sie sich auf die Realität auswirkt.  

Universelle Gesetze 

Die universelle Geltung der Naturgesetze, also im Universum geltend. Das Universum verhält sich gesetzeskonform, bzw. sind die Gesetze das, was die Menschen an Regelmäßigkeiten berechnen und entdecken konnten und was durch Vorhersagen, die dann eintreffen, bewiesen werden kann. Die Entwicklung des Universums ab seinem Anfang hat eine Folgerichtigkeit, die es erlauben, Schlüsse auf die weitere Entwicklung zu ziehen. Die Entwicklung des Universums ab seinem Anfang hat sich nach diesen Richtlinien verhalten. Oder, umgekehrt betrachtet, konnten die Forscher herausfinden, welche Richtlinien im Universum gelten, sodass die Abläufe nach- und vorausberechnet werden können. Zu diesen Regeln zählen neben der Gravitation die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Es fehlen der Physik noch ein paar Bausteine, um alle Phänomene in mathematische Modelle einordnen zu können und zu verstehen. Nach all den Fortschritten in den letzten hundert Jahren scheint es nicht mehr allzu lange zu dauern, bis alle wichtigen Puzzlesteine für ein geschlossenes physikalisches Weltmodell gefunden sind. 

Die Fragen nach der Funktionsweise des Universums kommen aus unserem Verstand, der eben verstehen und erklären will, um die Angst vor dem Unbekannten zu bannen. Die kosmologischen Fragen haben als Folge der Forschungen genialer Menschen weitgehend zufriedenstellende Antworten erhalten. Wie die Welt funktioniert, wissen wir in den Dimensionen, die die Physik untersucht, sehr umfassend. Unser Verstand kann also froh sein und die Arbeit der Wissenschaftler bewundern. 

Der Luxus eines Schöpfergottes

Wir können verstehen, warum die Physiker keinen Schöpfergott mehr brauchen, wie er z.B. im Alten Testament beschrieben wurde. Er ist ein Luxus, entsprungen der Fantasie unseres Verstandes. Er kann nichts zum weiteren Verständnis der Welt oder zu deren Weiterbestehen beitragen. 

Der Schöpfergott wäre nichts anderes als ein Exekutor der Gesetze, die ohne ihn auch bestehen. Er hätte höchstens die Freiheit, eine andere Welt nach anderen Gesetzen zu schaffen, aber müsste sich dann wieder genauso daran halten. Für den menschlichen Verstand, der verstanden hat, was es bei diesen Abläufen zu verstehen gibt, der die Logik nachvollziehen kann und der daraus Schlüsse für die Zukunft ziehen kann, die dann überprüft werden können, ist keine weitere Instanz notwendig, die da sagt: „Aber das habe alles Ich gemacht.“  

Jeder ist frei, eine solche Instanz einzuführen und an sie zu glauben, wie es auch freisteht, an andere Schöpfungsmythen als den biblischen zu glauben. Es bleibt aber nichts als eine reine Glaubensentscheidung, die einen Schöpfergott einführt und ihm eine Existenz zuspricht. Und ein Gott, dessen Existenz vom Glauben von Menschen abhängt, ist ein Widerspruch in sich. 

Schon Immanuel Kant, der als erster die Beschränktheit der menschlichen Erkenntnis in ihrer ganzen Tragweite untersucht hat, hat den Schöpfergott weggekürzt, weil die Annahme seiner Existenz in unlösbare Antinomien der menschlichen Vernunft verstrickt. Er konnte dann noch Gott als Postulat der praktischen Vernunft, also als Garanten einer moralischen Ordnung unter den Menschen für unverzichtbar erklären. In theoretischer Hinsicht hingegen, also was die Fassenskraft des Denkens anbelangt, bleibt es nach Kant unentscheidbar, ob ein absolutes Wesen existiert oder nicht; es lassen sich Gründe dafür wie dagegen finden. Damit wurde einem intellektuellen Zugang zum Beweisen der göttlichen Existenz ein Riegel vorgeschoben. 240 Jahre später können wir aus den Erkenntnissen der modernen Physik ableiten, dass wir ein solches Wesen für die Entschlüsselung und das Nachvollziehen der Grundgesetze des Universums nicht brauchen und dass es zum Verstehen der Welt nichts beiträgt. 

Die Rücknahme der Verantwortung

Es scheint zwar, dass es menschlichen Sehnsüchten entspricht, ein übermächtiges Wesen hinter den Abläufen des Universums anzunehmen. Oft fühlen wir uns hilflos und ohnmächtig angesichts der Herausforderungen des Lebens und wünschen uns eine allmächtige Figur, die uns beisteht. Diese Vorstellung hilft unserem Bedürfnis nach Sicherheit und erlaubt uns, nicht ganz erwachsen werden zu müssen. Ein Teil der Verantwortung für die misslungenen Ereignisse in unserem Leben und in der Menschheitsgeschichte lassen sich auf diesen Gott überwälzen. Wir können uns ausreden auf unsere Inkompetenzen, Schwächen und Bequemlichkeiten. 

Ohne Schöpfergott im Rücken, als Backup und Notnagel für die Härtefälle unseres Lebens sind wir hingegen ganz auf uns alleine gestellt. Wir müssen die Verantwortung für dieses Universum mit aller Kraft, mit Engagement und mit Mut für die Konsequenzen auf unsere Schultern nehmen. Es liegt an uns als Menschheit, ob wir es schaffen, unseren Heimatplaneten so zu verwalten und zu gestalten, dass er uns weiterhin als Heimat dienen kann, oder ob wir uns selbst ein vorgezogenes Ende antun, indem wir im Jetzt die Ressourcen verbrauchen, die für unser Überleben in der Zukunft notwendig sind. Auch in dieser Problematik ist ein Schöpfergott keine Hilfe; wir wissen es ohnehin, wie es steht, und wir wissen auch, was zu tun wäre. Unser Handeln auf Nachhaltigkeit umzustellen können nur wir selber. Ein Gott würde höchstens den Rat geben: Mach, was gut ist für die Menschen und für das Universum. Also nichts Neues, nichts, was wir selber nicht schon wüssten. 

Die Tür zum Nichts

Die Frage nach den Ursprüngen des Universums wirft uns ganz auf uns selber zurück. Wir entkommen der Beschränktheit nicht, die in diesem Universum grundgelegt ist. Wir sind den universellen Gesetzen vollständig unterworfen, auch wenn wir sie entschlüsselt und technisch in vielen Bereichen handhabbar gemacht haben. Diese Gesetze legen auch fest, dass wir sterblich sind, als Individuen und als Menschengattung, als Natur und als Universum. Was aus dem Nichts” entstanden ist, geht ins Nichts” zurück, ohne eine Spur zu hinterlassen. 

Das Akzeptieren dieser Endlichkeit und Begrenztheit bringt uns freilich an eine Tür, die zu öffnen riskant ist: Sie ist nämlich eine Falltür. Hinter ihr befindet sich ein Nichts, denn sie führt uns ins Jenseits des Begreifens und Verstehens, ins Jenseits der Worte und Zahlen, in einem Bereich, über den und in dem wir keine Kontrolle haben. Wir verstehen plötzlich, dass es nichts zu verstehen gibt, dass es nichts zu erklären gibt, sondern dass alles so ist, wie es ist. Wir haben keine Fragen mehr und brauchen keine Antworten.  

Wir sind im Bereich der Weisheit, von wo Lao Tzu zu uns spricht: 

Der Mensch richtet sich nach der Erde. 
Die Erde richtet sich nach dem Himmel. 
Der Himmel richtet sich nach dem Sinn. 
Der Sinn richtet sich nach sich selber. 
(Tao Te King 25) 

Zum Weiterlesen:
Letzte Fragen ohne Antwort
Der Anfang der Welt und das spekulative Denken
Das spielerische Universum


Mittwoch, 12. Januar 2022

Geld, das Symbol der Autarkiescham

Die Scham, die damit verbunden ist, das eigene Leben aus eigenen Kräften schaffen zu müssen, heißt Autarkiescham. Sie drückt sich in dem Glaubensprogramm aus, nichts wert zu sein, wenn man es alleine nicht schafft. 

Die Verfügung über Geld ist ein Symbol oder sogar Synonym für Freiheit und Autarkie in unserer Gesellschaft. Geld öffnet alle Türen und ist der Schlüssel für den Zugang zu wichtigen Ressourcen, die wir zum Überleben und leben benötigen. Wenn wir kein Geld haben, brauchen wir jemanden, der uns erhält oder der uns Geld gibt. Ohne Geld sind wir also abhängig vom Wohlwollen von anderen und können uns selbst nicht erhalten.

In unserer Gesellschaft wird deshalb auch der Wert eines Menschen in den meisten Alltagsabläufen über Geld definiert, und das geht bis zur Frage der Überlebensberechtigung: Wer genug davon hat, kommt überall durch, wer mehr als genug davon hat, kann sich Luxus leisten, wer nicht genug davon hat, muss im Mangel leben, und wer nichts davon hat, muss darum betteln, um überleben zu können. Bettler erinnern uns an den schamvollen Zustand, der entsteht, wenn wir ohne Geld sind; Bettler werden aus manchen Städten vertrieben, weil sie uns darauf aufmerksam machen, an welch dünnem Faden unsere eigene wirtschaftliche Existenz hängt. Wir wollen nicht sehen, wie abhängig wir sind. Und wir wollen nicht sehen, wie ungerecht die Ressourcen und der Zugang zu Geldquellen in der Welt verteilt sind. Außerdem wollen wir die eigene Scham nicht spüren, die uns befällt, wenn wir Unseresgleichen im Elend sehen.

Der Mangel an Geld beschämt

Die Autarkiescham ist wie von selbst und unweigerlich aktiv, sobald ein Mangel an Geld auftritt. Wir fühlen uns weniger wert, so als würden wir zu einer minderen Klasse von Menschen gehören. Alle anderen sind autark, sie können sich leisten, was sie brauchen und wollen, wir selber müssen uns einschränken und sind im äußersten Fall abhängig von Almosen, also von der Willkür der Vermögenden.

Diese Schamform wirkt ins Sozialsystem hinein, das deshalb geschaffen wurde, um die Existenz möglichst vieler Mitglieder der Gesellschaft abzusichern und auch jenen, die es nicht schaffen, sich selbst zu erhalten, oder die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können, noch einen Notgroschen zukommen zu lassen. Das Überleben soll für alle auf einem untersten Niveau garantiert werden. Doch sollten sich jene, die „der Allgemeinheit auf der Tasche liegen“, dafür schämen, denn die Scham könnte sie motivieren, sich aus der Not herauszuziehen. Verstärkt wird die Schambelastung dadurch, dass die anderen, die genug haben, auf sie mitleidig und verächtlich herabschauen. Es ist also eine beschämende und beschämte Situation, kein Geld selbst zu erwirtschaften und von mehr oder weniger gnadenhalber gewährten Zuwendungen abhängig zu sein.

Selbst Arbeitslose leiden unter dieser Scham. Zwar handelt es sich theoretisch um einen Versicherungsvorgang: In die Arbeitslosenversicherung einbezahltes Geld wird im schlagenden Fall zurückgezahlt. Aber viele davon Betroffene reagieren mit Schuld- und Schamgefühlen, die immun gegen die rationale Einsicht sind, dass einem das Arbeitslosengeld zusteht und keine Gnadengabe ist. Sie haben das Existenzsymbol der kapitalistischen Gesellschaft internalisiert: Existieren darf, wer genug Geld hat, um es sich leisten zu können. Existieren darf, wer sich selbstständig die notwendige Menge Geld erwirtschaften kann. Wer das nicht schafft, ist es zwar noch wert, am Leben erhalten zu werden, zumindest dort, wo es einen Sozialstaat gibt. Aber er soll sich dafür schämen. Diese Schamverordnung hat den Zweck, einen Druck zu erzeugen, der die Betroffenen dazu zwingen soll, sich „zusammenzureißen“ und wieder zu wirtschaftlich wertvollen Elementen der Gesellschaft zu werden.

Wenn wir Glück hatten, spielte die Autarkiescham keine Rolle in der frühen Kindheit. Wir sind mit dem Grundgefühl aufgewachsen, dass die Grundbedürfnisse abgedeckt sind: Nahrung, Kleidung, Wohnung usw. sind einfach da. Unter anderen, prekären Umständen ist diese Schamform von Anfang an da: Ein Kind wird geboren, und die Eltern wissen nicht, wie sie es wirtschaftlich schaffen sollen. Das Kind spürt die Ängste und Sorgen der Eltern und fühlt auch, dass es dafür verantwortlich ist. Es schämt sich dafür, dass es da ist und die Nöte der Eltern verursacht, was eine Form der Urscham darstellt. Außerdem wird die Grundlage gelegt, dass sich, sobald ein Verständnis für Geld und seine Macht entwickelt ist, die Autarkiescham einstellt. Sie ist also häufig eine Ableitung aus einer Existenzscham, indem Existenz und Geldbesitz gleichgestellt werden, eine Gleichung, die zu den Leitlinien des kapitalistischen Systems gehört. 

Selbst wenn unsere Anfänge frei von Existenzängsten und Versorgungssorgen waren, kann die Autarkiescham in Verbindung mit dem Geld später auftreten. Kinder sammeln häufig die ersten Erfahrungen mit der Bedeutung des Geldes, wenn sie Taschengeld bekommen. Sie fangen dann an, ihren Geldbesitz mit dem ihrer Kolleginnen im Kindergarten und in der Schule zu vergleichen. Diese Vergleiche bringen entweder Stolz oder Scham im Schlepptau mit sich: Stolz, wenn der Anschein entsteht, finanziell besser dazustehen als andere Kinder, und Scham, wenn es umgekehrt ist. 

So wachsen die Kinder in eine Gesellschaft hinein, in der der finanzielle Status einen wichtigen bis ausschlaggebenden Anteil am Selbstwert verkörpert. Die Lebens- und Entfaltungschancen werden nach diesem Maßstab bemessen, und wer hier schlecht abschneidet, kommt schwerlich ohne Schamgefühle damit zurecht. Das Leistenmüssen wird zum Antrieb, um diesen unangenehmen Gefühlen zu entrinnen, und führt in vielen Fällen zur Selbstausbeutung, getrieben von Versagensängsten.

Die vielen Burnout-Erkrankungen, die vielen psychosomatischen Erkrankungen und die vielen depressiven Störungen, die zu unrühmlichen Kennzeichen der modernen Welt geworden sind, treten als Folge des inneren Drucks auf, der durch die Autarkiescham ausgelöst wird. Wir sollten uns gegenseitig darin bestärken, dass der Wert von Menschen nicht über Geld definiert werden darf, und wir sollten uns dafür einsetzen, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse so gestaltet werden, dass niemand durch den Rost fallen und in eine schamvolle Armut geraten kann. Wir können selber nur schamfrei in einer Gesellschaft leben, in der alle genug zum Auskommen haben. Es ist ein zentraler Teil der Menschenwürde, ohne Existenzängste ein gutes Leben führen zu können.

Dienstag, 11. Januar 2022

Verschwörungstheorien und Normalitätsscham

Auch wenn es schon lange Verschwörungstheorien gibt und sie immer wieder einen mächtigen Einfluss auf die Gesellschaft und Geschichte ausgeübt haben – ich denke hier nur an die vielen Mythen, die zum Zweck der Entfachung der Judenfeindschaft seit dem Mittelalter erfunden wurden –, stehen wir doch in letzter Zeit in Zusammenhang mit der Pandemie stark im Bann dieses Phänomens. Was sich in der Debatte um den Klimaschutz und um die Regierungsführung des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump geoffenbart hat, wurde seit der Ausbreitung des Corona-Virus mittlerweile zum allgegenwärtigen Diskussionsthema. Denn ein Großteil der Gespräche, die die Menschen führen, dreht sich um die Pandemie, und dabei ist es kaum mehr möglich, Inhalte, die aus dubiosen Quellen stammen, zu vermeiden. Die Lage ist inzwischen so unübersichtlich, dass es einem Laien schwer möglich ist, hieb- und stichfeste, auf Fakten beruhende Aussagen zu treffen. Die Aufgabe, wissenschaftlich valide Erkenntnisse von Spekulationen und Extrapolationen aus Einzelbefunden zu unterscheiden, ist zwar notwendig, um sich in dem Feld orientieren und sinnvolle Positionen beziehen zu können, aber zeitaufwändig und mühsam.

Hier geht es um die Frage, warum Menschen dazu neigen, Verschwörungstheorien zu entwickeln bzw. ihnen Glauben zu schenken. Was treibt sie dazu, nicht den allgemein für verlässlich geltenden wissenschaftlichen Quellen zu vertrauen, sondern Einzelpersonen und Einzelmeinungen? Welche Rolle spielt die Scham in diesem Zusammenhang? Ich möchte für diesen Zweck den Begriff der Normalitätsscham einführen. Diese Schamform tritt auf, wenn sich jemand nicht wohl fühlt, wenn er sich als gewöhnlich, normal oder durchschnittlich wahrnimmt. Nichts Besonderes zu sein, ist schambesetzt; stolz kann man nur sein, wenn man auf etwas verweisen kann, was sonst niemand hat oder kann. Es gibt Menschen, die es brauchen, etwas Einzigartiges darzustellen und sich von allen anderen abzuheben. Es ist, als ob sie nur scheinen können, wenn Scheinwerfer auf sie gerichtet sind. Natürlich ist jeder Mensch auf seine Weise einzigartig, aber nicht alle brauchen den Beweis und die Bestätigung dafür, die den früher erlittenen Mangel an Bedeutsamkeit ersetzen sollen.

Die Angst vor der Durchschnittlichkeit

Wie hängt diese Schamform mit Verschwörungstheorien zusammen? Die Spur ist schnell gefunden. Denn ein wiederkehrendes Argument bei solchen Gedankengebäuden lautet, dass es zwei Wahrheitsquellen gibt: Den „Mainstream“ mit seinen gleichgeschalteten Medien einerseits, und das alternative Wissen mit seinen „alternativen Fakten“, das von der Mehrheitsmeinung unterdrückt wird andererseits. Die alternativen Wissensträger werden oft als Opfer dargestellt oder präsentieren sich selbst auf diese Weise: Sie werden nicht gehört, sie werden nicht zu Debatten oder zur politischen Entscheidungsfindung eingeladen, sie werden wegen ihrer Meinung gekündigt oder sogar verfolgt. Mit den Opfern eines anonymen „Systems“ identifizieren wir uns leicht, vor allem wenn wir eine Empfänglichkeit für die passive Opferscham und den korrespondierenden Opferstolz in uns tragen. 

Das Misstrauen gegenüber der Mehrheitsmeinung hat eine Verbindung zur Normalitätsscham. Was normal ist, verdient Skepsis, was aus der Norm fällt, ist interessant und lehrreich. Mit einer alternativen Sichtweise, die aus einem Eck kommt, das die Mehrheit übersieht, haben wir einen Vorteil und stehen besser da. Wir haben den Durchblick, der allein dadurch schon sinnhafter ist, dass er der Mehrheitsmeinung widerspricht.

Soweit haben wir es mit Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmungspsychologie zu tun: Das Seltene, nicht Vorhersehbare hat mehr Bedeutung als das Regelmäßige und Gewohnte. Wenn es irgendwo im Raum kracht, schauen wir hin und wollen wissen, was los ist. Es könnte ja eine Gefahr drohen. 

Ideologie und Scham

Aber die Theorien werden dann zur Ideologie, wenn sich die Scham einmischt. Sie muss abgewehrt werden und dann verwandelt sich eine einfache Wahrnehmungspriorität in eine zentrale innere Gestalt, um die herum sich ein Weltbild aufbaut. Dieses innere Bild ist emotional aufgeladen, weil es der Gefühlsabwehr dient. Diese Aufladung tarnt sich als Wichtigkeit und missionarischer Eifer, so als ginge es um Leben und Tod. Psychologisch betrachtet, wurde also eine Überlebensstrategie aktiviert: Ich habe den Schlüssel zur Überlebenssicherung gefunden und darüber muss ich jetzt alle informieren und überzeugen. 

Die Auserwählten und die Masse

Um den exklusiven Zugang zur Wahrheit zu verteidigen, wird die Mehrheit oft als dumm, ignorant und naiv dargestellt. Manchmal wird sie mit Schafen, denen irrtümlicherweise geringe Intelligenz zugebilligt wird, und mit Lemmingen verglichen, die sich einer Legende (die aus einem Disneyfilm stammt) zufolge massenweise in den Selbstmord stürzen. Die Gegner mit dummen Tieren zu vergleichen (auch wenn die Vergleiche den Tieren gegenüber unfair sind), bringt einen selber in die Position des überlegenen Vernunftwesens. Wer die allgemeinen Wahrheiten vertritt, hat Scheuklappen auf, ist das arglose Opfer von dunklen Machenschaften und macht sich zum nützlichen Idioten der Machteliten, die im Hintergrund alle Fäden ziehen. Der ganze Ruhm des Aufklärers der bösen Umtriebe fällt auf den, der aufdeckt, was im Verborgenen hinterhältig Schaden anrichten will. Der Stolz dessen, der alles durchschaut hat und es besser weiß als alle anderen, ist der psychische Lohn für den Verschwörungserfinder und für seine Gläubigen. Materiellen Lohn gibt es meist auch genug, wie diverse Recherchen herausgefunden haben. Es gibt viele reiche Leute, die solche Mythenbildner finanzieren, weil sie sich davon Vorteile für die eigene Reichtumsmehrung und die dafür notwendige politische Macht erwarten. In dieser Hinsicht sind also die Verschwörungsanhänger die willfährigen Erfüllungsgehilfen für diese Finanziers.

Religiöse Denkschablonen

Wenn die Allgemeinheit schon allein deshalb im Unrecht ist, weil sie die Mehrheit bildet, folgt daraus, dass das Heilswissen nur von einer Minderheit stammen kann. Eine Denkschablone, die in diesem Zusammenhang mitspielt, stammt aus der Religionsgeschichte: Die Erlösung kommt nie aus der normierten und bornierten Mehrheit (nicht von den „heuchlerischen Pharisäern“), sondern über Außenseiter, die angefeindet und z.T. verfolgt wurden, die aber der bornierten Mehrheit mutig den Spiegel vorgehalten haben. Alle großen Religionsgründer (Buddha, Christus, Muhammad) sind diesen Weg gegangen und haben Großes bewirkt.

Eine zweite religiöse Denkschablone ist die der Auserwählung. Esoterisches Wissen im ursprünglichen Sinn war ein solches, das nur einer eingeweihten Kleingruppe zugänglich war und nur im engsten Kreis weitergegeben werden durfte. Die, die an der Botschaft des Erlösers teilhaben, sind besonders begnadete Menschen, weil sie über ein exklusives Wissen verfügen. Sie unterscheiden sich von allen anderen Menschen, weil sie die Avantgarde darstellen: Sie sind in einen Bereich des Geheimnisses des Lebens eingedrungen, den sonst niemand kennt. Sie sind unter den vielen anderen die Auserwählten.

Die dritte Denkschablone besteht darin, dass die Wahrheit „einleuchtet“ und beim bloßen Anhören überzeugt. Sie ist einfach und braucht keine anstrengenden Studien, um verstanden zu werden. Alles, was nicht sofort intuitiv ankommt, weil es genaueres Nachdenken und komplexere mentale Fähigkeiten erfordert, kann nicht von Wert sein, sondern ist gedacht, die Menschen zu verwirren und in die Irre zu führen. Auserwähltes Wissen 

Ideologie und Wissenschaft

Allerdings geht es bei den Themen, um die sich die Verschwörungsmythen ranken, nicht um Religion, sondern um Gesundheit, Klimaentwicklung usw., also um Themen, die durch die wissenschaftlichen Forschungen erst in ihrer Dringlichkeit erkannt wurde und auf der Basis eines gesicherten Wissens gesellschaftlich gelöst werden müssen und nur auf dieser Basis gelöst werden können, wozu Ideologien und Religionen nichts beitragen können. Im Gegenteil: Alle ideologischen oder religiösen Einflüsse in diese Themen helfen nicht bei der Problemlösung, sondern verkomplizieren die Diskussion und verwirrten viele Menschen, wodurch die Probleme zusätzlich verschärft werden. 

Die Mythenerzähler greifen die Wissensbasis an, indem sie wissenschaftliches Wissen mit nichtwissenschaftlichem Wissen gleichsetzen bzw. sogar überordnen. Damit gibt es keine verbindlichen Standards mehr, mit denen freie Erfindungen und fakten- und evidenzbasierte Erkenntnisse unterschieden werden können. Und das ist auch das Ziel dieser Bestrebungen. Wissenschaftliches Wissen ist gewissermaßen der Hauptfeind der Verschwörungstheoretiker. Deshalb wird auch gerne behauptet, dass die Wissenschaftler von irgendwelchen Geldgebern gekauft sind und deshalb alle Studien und Forschungsergebnisse Fälschung und arglistige Täuschungen darstellen. Je mehr die Wissenschaften diskreditiert werden, desto leichter ist es, die eigenen Behauptungen am Meinungsmarkt durchzusetzen. Die Wissenschaften, die aus dem Zusammenwirken von Tausenden von Forschern bestehen, werden als Summe von Einzelmeinungen dargestellt – das ist ein wichtiger Teil, gewissermaßen der zentrale Hebel bei allen Verschwörungstheorien. Denn das Evidenzmonopol, das die Wissenschaften in der modernen Gesellschaft errungen haben (die es nicht geben würde, wenn es keine Wissenschaften gäbe), ist der natürliche Gegner aller Ideologien und Mythen. 

Natürlich treffen diese Aktionen die Wissenschaften nicht direkt, die weiter im Rahmen ihrer ausgefeilten Normen und Standards Forschung betreiben und die Forschungsergebnisse laufend weiterentwickeln und verbessern. Aber es betrifft die öffentliche Wirksamkeit der Wissenschaften und damit ihre Zukunft. Wenn große Teile der Gesellschaft zur Überzeugung gelangen, dass Wissenschaftler nur in ihre eigene Tasche wirtschaften und falsche und manipulierte Ergebnisse produzieren, dann macht es auch keinen Sinn mehr, die wissenschaftliche Forschung mit öffentlichen Geldern zu finanzieren. Außerdem sehen sich Regierungen zunehmend genötigt, alternative Wahrheitsbehauptungen ebenso in ihren Entscheidungen zu berücksichtigen wie die Wissenschaften, weil sie ja die verschiedenen Bevölkerungsteile vertreten wollen und von diesen gewählt werden.

Der Kampf gegen die Komplexität

Es geht also Verschwörungstheoretikern darum, mehr Macht und Einfluss auf die Öffentlichkeit zu nehmen, und sie nutzen zur Mobilisierung ihrer Anhängerschaft die psychischen Mechanismen der Normalitätsscham. Sie wollen den wissenschaftlichen Konsens zerstören und rütteln damit an den Grundpfeilern der Moderne. Die Vereinfachungen, die typisch für solche Mythen sind (ein Bösewicht oder eine Gruppe von Verschwörern steckt hinter allem Übel, ein Wissenschaftler weiß alles besser als all die anderen…), fachen die Hoffnung an, dass wir mit den Mitteln des vormodernen Denkens die Probleme der Gegenwart lösen können. Die Realität belehrt uns permanent eines anderen: Die Zusammenhänge sind komplex, und deshalb sind auch die Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, um die Probleme zu lösen, komplex.

Das aktuell grassierende Virus ist ein Lehrmeister für die Komplexität, weil es zwar eines der einfachsten Lebewesen ist (es weist nicht einmal alle Eigenschaften eines Lebewesens auf), aber durch seine Mutationsfähigkeit laufend neue Bedingungen schafft. Die Erforschung dieser Variationen und ihrer Auswirkungen muss laufend evaluiert und aktualisiert werden, und das geht nur, wenn Tausende von Wissenschaftlern zusammenarbeiten, die es gewohnt sind, komplex und vernetzt zu denken. Sie präsentieren dann die Erkenntnisse, und die Politiker müssen dann in Verbindung mit den Komplexitätsforschern und anderen Experten ihre Entscheidungen treffen. Die Menschen, die an die Mythen glauben statt an die Komplexität der Wirklichkeit, sind dann misstrauisch, wenn sie sich auf komplexe Bedingungen einstellen müssen, die zudem immer wieder angepasst und verändert werden. Verschwörungswissen ist stabil, Wirklichkeitswissen muss flexibel sein, weil sich die Wirklichkeit dauernd verändert. Verschwörungswissen ist emotional, Wirklichkeitswissen ist nüchtern. Dem Virenproblem und auch den anderen großen Herausforderungen der Menschheit werden wir nicht mit starrem und emotional geladenem Wissen Herr. Vielmehr müssen wir uns der Komplexität stellen, mit einem forschenden und lernenden Geist und nicht einem, der auf Gefühlserlebnisse und Auserwähltheitsfantasien ausgerichtet ist.

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