Dienstag, 29. September 2020

Emotionale Gleichheit

Gleichheit ist ein zentrales Element für eine menschenwürdige Gesellschaft. Intuitiv wissen wir, dass es keine fundamentalen Unterschiede zwischen Menschen geben darf, weil wir im Grunde alle gleich viel wert sind, deshalb die gleiche Wichtigkeit haben und auch gleichermaßen an der Gesellschaft teilhaben sollen. Der Gedanke der Menschenwürde, die allen ohne Unterschied zukommt, hat den Vorhang zerrissen, der seit Beginn der Jungsteinzeit, als sich die Gesellschaft in Schichten differenzierte, die Grundgleichheit versteckt gehalten hat. In den meisten Verfassungen ist die Idee der Gleichheit verankert und bildet seit ihrer Proklamation in der Aufklärung einen wichtigen Antrieb zur Reform der Gesellschaft, insbesondere im Sozialbereich. Die formale Gleichheit vor dem Gesetz soll durch eine Chancengleichheit ergänzt werden, so zumindest der Leitgedanke sozialistischer Parteien, dem sich aber auch Mitte- und Rechtsparteien nach Bedarf anschließen.

Die „Listening Society“ nach Hanzi Freinacht, die eine künftige metamoderne Gesellschaftsform darstellt, fügt diesen Gleichheitsebenen noch eine weitere hinzu: die emotionale Gleichheit. Gleichheit braucht es nicht nur in Hinblick auf die materiellen Lebensbedingungen, sondern auch für das Innenleben.

Forschungen haben ergeben, dass sozialer Ausschluss und Ablehnung so wehtun kann wie physischer Schmerz, wie eine Ohrfeige. Jemand wird einer Zurückweisung ausgesetzt und die gleichen Muster im Gehirn werden aktiviert wie bei einer körperlichen Verletzung. Dazu kommt, dass jede solche Verletzung die Empfänglichkeit für solchen Schmerz in der Zukunft erhöht und die innere Bereitschaft für Gefühle von Rachsucht, Neid und Aggressivität steigert.

Menschen, die in früher Zeit viel von diesen Verletzungen erleben mussten, haben es deshalb schwerer, zu einer inneren Zufriedenheit zu finden als jene, die in dieser Hinsicht auf die Butterseite des Lebens gefallen sind. Sie müssen viel mehr Energie aufwenden, um die Anforderungen der Gesellschaft zu erfüllen als jene, die in dieser Hinsicht privilegiert sind.

Hanzi Freinacht spricht davon, dass die Gesellschaft nicht nur zwischen Reichen und Armen auseinandertriftet, sondern auch zwischen denen, die viel Glück in ihrem Leben finden und jenen, die davon nur wenig haben. Denn die Glücklichen sind auch erfolgreicher und sammeln mehr Freunde um sich als die Unglücklichen. Sie bekommen mehr Anerkennung und stärken damit ihren Selbstwert, Aspekte, die im Leben der Unglücklichen rarer gesät sind. Sie tun sich leichter, alternative Lebensformen zu erproben und nachhaltig zu konsumieren.

Es gibt viele verstärkende Faktoren, durch die die Glücklichen ihr Glück und die Unglücklichen ihr Unglück steigern, ähnlich wie es leichter ist, als Reicher noch mehr Vermögen anzuhäufen als wenn man gar keines hat. Die Glückskreisläufe haben die Tendenz, sich zu automatisieren, gleich wie die Unglücks-Teufelskreise.

Das Unglücklichsein vermindert die Lebenschancen drastisch. Es kann die Lebenszeit verkürzen und ist die Wurzel vieler Krankheiten und Leidenszustände, am augenfälligsten bei den Depressionen. Unglückliche Menschen sind weniger produktiv und leistungsfähig. Sie kreisen mehr in sich selbst und tun sich schwer, ihre Energie nach außen zu bringen, Ideen zu entwickeln und Neues zu schaffen. Ihre Lebenszeit ist häufig durch die Sicherung der Existenzbedingungen und durch das Zurechtkommen mit den inneren Problemen ausgefällt.

Unglück belastet nicht nur die betroffenen Menschen und ihre Umgebung, sondern auch das Sozialsystem und damit die Gesellschaft als Ganze. Innerlich belastete Menschen können weniger zur Gesellschaft und ihrer Weiterentwicklung beitragen; ihre Initiativkraft, Produktivität und Kreativität fehlen der Allgemeinheit.

Alles nur Schicksal?

Die vorherrschende Taktik und Einstellung besteht darin, dass die unglücklichen Menschen für ihr Schicksal verantwortlich gemacht werden – jeder ist an seinem Glück oder Unglück selber schuld. Diese Auffassung verstärkt die Unterschiede und Ungleichheiten. Die Glücklichen brauchen sich nicht mit den Unglücklichen zu befassen, und die Unglücklichen bekommen zu ihrem Unglück noch die Verantwortung dafür aufgehalst. Unglück wird als persönliche Schwäche, als persönliches Versagen, als Mangel an Lebenskompetenz definiert und zusätzlich mit Scham beladen. Der Ausweg heißt dann einfach, dass sich die unglückliche Person zusammenreißen soll, um aus der selbstverschuldeten Schwäche herauszukommen. Wenn sie es nicht schafft, braucht sie sich nicht zu beschweren und kriegt nur einen Platz irgendwo am Rand der Gesellschaft. Ins Zentrum gehören die, die den Leistungsnormen des Wirtschaftssystems entsprechen können.

Es geht hier nicht darum, die Eigenverantwortung für das eigene Innenleben zu leugnen. Unglück kann auch als Ausrede vor dieser Verantwortung verwendet werden, und die Bereitschaft, das Schicksal in die eigenen Hände nehmen, kann eine Wende bewirken. Die Befreiung vom Leiden ist eine individuelle Aufgabe, die wir so oder so in unserem Leben meistern müssen.

Es geht in diesem Text vielmehr um die gesamtgesellschaftliche Ebene, die ebensowenig geleugnet werden darf. Es geht um die Verantwortung, die das Schicksal der Gemeinschaft mit dem Schicksal seiner Mitglieder verbindet und die sowohl im Ganzen wie im Einzelnen übernommen werden sollte.  Dazu ist es notwendig, aus der neoliberalen Denkdoktrin der verordneten Individualisierung des Glücks herauszutreten.

Unglückserzeugende Strukturen

Die Verantwortung erwächst daraus, dass die Unterschiede in der emotionalen Grundausstattung nicht nur ein individuelles Schicksal sind, das die einen mehr und die anderen weniger betrifft, sondern dass sie wesentlich durch soziale Strukturen mitverursacht und beeinflusst werden. Die soziale Schicht, in die ein Mensch hineingeboren wird, wirkt sich direkt auf die Glückschancen aus. Die nachhaltige Änderung dieser Bedingungen ist erforderlich, damit sich das Glück weiter in die Gesellschaft hinein ausbreiten kann und mehr und mehr Menschen in den Genuss von Lebensfreude kommen können.

Die Entwicklung zu einer emotionalen Gleichheit kann demnach nur hergestellt werden, wenn diese Gesamtverantwortung bewusst ist und in Angriff genommen wird, wenn also die Gesellschaft ihre Zuständigkeit für das Glücksniveau ihrer Mitglieder übernimmt und die Strukturen danach ausrichtet.

Es sind also politische Änderungen erforderlich, die auf die Herstellung der Chancengleichheit und des Ausgleichs zwischen unterschiedlichen Ausgangsbehinderungen hinarbeiten.

Die Implementierung von empathischer Solidarität verläuft entlang der Scheidelinie zwischen der individualisierten Ego-Kultur und der Gemeinwohlorientierung. Nebenbei bemerkt, zeichnet die Corona-Zeit diese Linie besonders deutlich: Sollen möglichst viele Leben gerettet und Krankheitsfälle vermieden werden oder geht es darum, die Wirtschaft möglichst wenig einzuschränken? Die meisten Regierungen haben die erstere Option gewählt. Wir leben also nicht in einer völlig entsolidarisierten Welt, auch das zeigt sich in dieser Krise.

Glück und Gesundheit

Glück ist ein zentraler Teil und Faktor der Gesundheit, denn der Zustand der inneren Ausgeglichenheit, der mit Glück verbunden ist, ist auch förderlich für unseren Körper. In dem Maß, wie sich die Gesellschaft der Gesundheit der Einzelnen annimmt, braucht es auch die Fürsorge für das Glücklichsein. Effektive und menschengerechte Gesundheitspolitik ist auch Glückspolitik.

Häufig sind wir unglücklich, wenn wir krank sind. Der Körper ist im Ungleichgewicht, und gleich hängt auch die Seele schief. Andererseits sind wir aber nicht automatisch glücklich, wenn wir gesund sind. Dazu braucht es offensichtlich noch viel mehr Faktoren, die stimmen müssen. Das hängt damit zusammen, dass Gesundheit im üblichen Verständnis mit dem Funktionieren des Körpers gleichgesetzt wird. Menschen brauchen aber auch gesunde Beziehungen, Arbeitsstätten, Bildungseinrichtungen, Umweltbedingungen, Sozialmaßnahmen und politische Verhältnisse. Und dafür kann jeder Einzelne seinen kleinen Beitrag liefern, aber es kann nicht ohne die gesellschaftlichen Institutionen gehen, die über eine wesentlich mächtigere Hebelwirkung verfügen.

Körperliches und seelisches Leid sind gleichwertig

Im Vergleich zur körpermedizinischen Versorgung hinkt die psychohygienische Gesundheitsvorsorge in unseren Breiten noch immer weit nach. Offensichtlich haben Gesellschaft und Politik noch viel zu wenig verstanden, wie ausschlaggebend der innere Zustand für die körperliche Gesundheit und Leistungsfähigkeit ist. Die Entlastung der Psyche gilt für viele als individueller Luxus und nicht als gesellschaftliche Notwendigkeit und zentrale Säule im Sozial- und Gesundheitssystem.

Noch immer herrscht die Meinung vor, dass die Behebung von körperlichem Leid selbstverständlich von der Gesellschaft übernommen wird, während seelisches Leid dem Einzelnen überlassen wird und nur marginal von der Sozialversicherung, also von den Finanzmitteln aller Mitglieder unterstützt wird. Eigenartigerweise haben wir noch immer nicht verstanden, was es heißt, eine körperlich-seelisch-geistige Einheit zu sein, offensichtlich leiden wir kollektiv an einer Dissoziation, die das Körperliche vom Rest abspaltet. Das Eine ist gesellschaftlich weitgehend akzeptiert und wird mit Mitgefühl bedacht; das Andere ist Anlass für individuelle Scham und gilt als Stigma. Der Mensch unserer Zeit darf krank werden und für seine Heilung soll gesorgt sein. Er muss aber psychisch intakt bleiben, sonst verfällt er der Ausgrenzung.

Das Ziel der emotionalen Gleichheit kann nur erreicht werden, wenn sich das kollektive Bewusstsein in dieser Richtung weiterentwickelt und die Verwobenheit und Austauschbarkeit von körperlichen und seelischen Leidenserfahrungen aufgenommen hat, sodass die entsprechenden Regulationsstrukturen entstehen können: Ein breites und frei zugängliches Netz der psychosozialen Versorgung mit dem gleichen Stellenwert wie die traditionell medizinischen Versorgungsinstitutionen.

Zum Text von Hanzi Freinacht

Zum Weiterlesen:
Metamodernismus - eine Übersicht


Montag, 21. September 2020

Die Kraft der Zerstörung

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Zwei Gesichter hat die Kali, die hinduistische Göttin der Zerstörung. Sie symbolisiert den Untergang des Alten, das weichen muss, um dem Neuen Raum zu geben. Zu diesem Zweck schafft sie Chaos, wo eine überholte Ordnung bestanden hatte und bringt alles durcheinander, was vorher fein säuberlich getrennt war, damit sich neue Konstellationen bilden können.

Sie hat aber auch, wie alle Götter im Pantheon, eine Schattenseite, da ihre Zerstörungskraft keine Grenze kennt und unweigerlich übers Ziel schießt, wenn es keine anderen Kräfte gibt, die ihr Einhalt gebieten. Jede Zerstörung um ihrer selbst willen mündet schließlich in einer Selbstzerstörung.

Die Dynamik, die durch gewaltsame Zerstörung entfesselt wird, ist schwer zu kontrollieren, was sich in der mythischen Geschichte von Shiva und Kali ausdrückt. Kali tanzt unbändig auf dem Schlachtfeld, „trunken vom Blut ihrer Feinde“, und ihr Gemahl Shiva kann ihr Toben nur beenden, indem er sich hinlegt wie eine Leiche. Als sie auf ihm tanzt, erkennt sie, wer er ist, und hält inne. Vor Schreck und Scham über ihr Tun streckt sie die Zunge heraus.

Es bedarf eines radikalen Einschnitts, um die Dynamik einer unkontrollierten Zerstörungssucht zu unterbrechen. Die entfesselte Rücksichtslosigkeit und Unmenschlichkeit kann nur durch die konzentrierte Rückbesinnung auf das Menschliche eingegrenzt werden. Die Schamreaktion ist die innere Antwort auf die Vernichtung des Menschlichen, die im Außen angerichtet wurde.

Die Kraft von Kali

Ein anderer Mythos besagt, dass Shiva seine Lebenskraft Kali verdankt. Shiva wäre nur ein Leichnam, wenn er nicht Kali in sich hätte. Kali ist also ein zentraler Anteil von Shiva. Die Kraft der Zerstörung ist ein unverzichtbarer Teilaspekt der Lebendigkeit, dessen Geheimnis wir erst verstehen lernen müssen und dessen Handhabung eine lebenslange Lernaufgabe darstellt.

Kali ist auch eine Repräsentanz der mütterlichen Energie, die jedem Menschen ins Leben hilft. Diese Energie ist die schöpferische Kraft, die gewissermaßen aus dem Nichts Neues in die Welt setzt. Dagegen ist die zerstörende Kraft jene, die neuem Leben Raum verschafft, indem Altes vernichtet wird. In vielen anderen Mythen und Traditionen wird das Zerstörerische, auch im Zusammenhang mit Gewalt, dem Männlichen zugeordnet, das ja physisch im Durchschnitt das stärkere Geschlecht darstellt und genetisch mit mehr Aggressionshormonen ausgestattet ist. Andererseits gibt es auch das Phänomen der emotionalen Zerstörung, z.B. von Sicherheit und Vertrauen bis hin zum Auslöschen des Selbst, die auch, aber nicht nur von Frauen verübt wird.

Das Mütterliche gibt das Leben; was gibt, kann es auch wieder nehmen. Es ist diese Macht über das Leben, das Angst bereitet und Respekt einflößt. Aus diesem Grund bilden sich oft intensive und lebenslang wirksame Abhängigkeiten der Kinder (beiderlei Geschlechts) von den Müttern, Abhängigkeiten der Geschöpfe von den Schöpferinnen, denen das Leben geschuldet ist.

Der Bann dieser Macht kann erst durchbrochen werden, wenn der fantasierte Inhalt dieser Dynamik durchschaut ist. Erwachsenwerden heißt sich von der internalisierten Zerstörungskraft des Mütterlichen zu emanzipieren. Es gelingt umso besser, als die Angst vor der Zerstörung nicht durch eigene Akte der Zerstörung kompensiert werden muss.  Denn gerade die Zeit der Ablöse von der Macht des Mütterlichen in der Adoleszenz ist für das Ausbrechen von destruktiven Exzessen anfällig, so übermächtig ist die urmütterliche Verfügung über das eigene Leben verankert.

Die Furie des Verschwindens

In den Wirtschaftswissenschaften gibt es den Begriff der schöpferischen oder kreativen Zerstörung. Wenn in der Wirtschaft neue technische Erfindungen erfolgreich eingesetzt werden, müssen alte Strukturen verschwinden, wie z.B. die Heimweber durch den mechanischen Webstuhl oder das Druckergewerbe durch die Digitalisierung. Auch Karl Marx war der Meinung, dass überkommene Produktionsformen verschwinden müssen und dass deshalb der Kommunismus mit Sicherheit auf den Kapitalismus folgen wird.

Er folgt mit dem Konzept einer zwingenden Entwicklungslogik in der Geschichte dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der den Ausdruck von der „Furie des Verschwindens“ geprägt hat. Nach seiner Auffassung ist alles Geschehen von dialektischen Strukturen gelenkt: Das Positive wird durch das Negative zerstört, und beides wird dann in einer Synthese aufgehoben: In einem dreifachen Sinn: bewahrt, verbessert und beseitigt. Alles, was ist, muss sich in sein Gegenteil verkehren und findet daraus zu einer höheren Gemeinsamkeit. Oder: Jede Ordnung verschwindet irgendwann im Chaos und daraus erwächst dann eine geläuterte höhere Form der Ordnung.

Das ist auch ein weit verbreitetes Verständnis der Macht von Kali und der Notwendigkeit von Zerstörung. Was ist, wird irgendwann einmal unnötig, verbraucht oder schädlich, wie der schönste Salat einmal verrottet. Was nicht mehr tauglich ist oder nicht mehr in die Gegenwart passt, muss beseitigt werden, wenn es nicht von selber verschwindet. Wenn es als überflüssiges Relikt aufbewahrt wird, steht es nur im Weg und unterbindet die Erneuerung. Wie der Körper laufend Zellen abbaut und durch neue ersetzt, braucht es auch auf allen anderen Ebenen die Abbauprozesse, damit die Aufbauprozesse Platz bekommen, um wirken können.

Die Nutzung der Zerstörungskraft

Zerstörung ist also ein notwendiger Aspekt des Wachsens. Die Frage ist nur, wie die Kraft der Zerstörung konstruktiv genutzt werden kann, also wie die destruktive Kraft so eingegrenzt werden kann, dass sie dem Leben und seiner Mehrung dienlich ist. Es gibt eine Nähe zum Gefühl der Wut, das immer Teil der Zerstörungskraft ist. Beim Umgehen mit der Wut geht es nicht darum, wutlos zu werden, sondern die Wut in Bahnen zu lenken, sodass die sozialen Beziehungen bestehen bleiben. Ähnlich brauchen wir für den Umgang mit der Zerstörungskraft ein Bewusstsein über ihre Grenzen und über ihre Begrenzbarkeit. Die tragenden Strukturen und Werte der menschlichen Gemeinschaft müssen erhalten bleiben.

Zerstörung ist manchmal notwendig, um einer schleichenden Zerstörung entgegenzuwirken, wenn z.B. ein angefaulter Zahn entfernt wird. Innere Muster und gesellschaftliche Strukturen, die der Weiterentwicklung im Weg stehen und sie behindern, müssen entfernt werden, und manchmal geht das nicht ohne Gewalt, also gegen den Willen der etablierten Strukturen. Machtpositionen, die um ihrer selbst willen einbetoniert sind, müssen gesprengt werden, über kurz oder lang.

Was lehrt uns Kali also? Das Leben besteht auch darin, das Wechselspiel zwischen Chaos und Ordnung zu meistern. Wenn Ordnungen starr und selbstbezogen werden, sind sie nicht mehr dienlich und müssen aufgebrochen werden. Wenn das Chaos die Lebensgrundlagen angreift, müssen Ordnungsstrukturen eingezogen werden. Jedes Leben kennt Phasen des Chaos und Phasen der Ordnung. Die Lebenskompetenz besteht darin, die richtigen Zeitpunkte für den Übergang vom einen zum anderen zu erkennen und beide Phasen konstruktiv zu nutzen. Diese Kompetenz ist auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene notwendig. Die Göttin Kali und ihre Mythen erinnern uns daran.

Kali und Covid

Die aktuelle Situation stellt ein spannendes Wirkungsfeld für die Kali-Energie dar. Teile der Wirtschaft und des Geschäfts- und Kulturlebens sind stark reduziert oder zerstört. Viele Tätigkeiten finden online im Homeoffice statt, Büroräume werden nicht mehr benötigt. Statt Geschäftsreisen werden Videokonferenzen abgehalten usw.

Während ganze Sektoren der Gesellschaft ins Chaos gestürzt werden, herrschen auf anderen Ebenen neue Ordnungsstrukturen. Die tagtägliche Disziplin im Abstandhalten und Maskentragen wurde eingeführt und wird fast weltweit eingehalten. Der Staat übernimmt Ordnungsfunktionen, die bis ins Privatleben hineinreichen. Neues, vorher unvorstellbares Chaos, neue, vorher unvorstellbare Ordnung. Shiva und Kali im Tanz. Wir Menschen sind mittendrin und haben den Eindruck, auch die Götter wissen nicht wirklich, worauf alles hinausläuft. Also bleibt uns nichts anderes, als uns auf diesen Tanz einzulassen und uns mit unseren Energien, Impulsen und Ideen mitzubewegen und im Vertrauen auf eine höhere Regie weiter auf unsicherer See zu navigieren. Wie bei jedem Tanz, so intensiv und chaotisch er auch sein mag, gibt es eine Mitte, um die herum sich alles dreht, und dort herrscht tiefer Friede.

Samstag, 19. September 2020

Emotionalisierung durch emotionale Kälte - ein aktuelles Beispiel

Müssen Politiker die emotionale Kälte kultivieren, um eine vernünftige Politik zu gestalten? Oder geht es darum, wertbefreit Wählerstimmen zu ködern, ohne Rücksicht auf Menschlichkeit?

Der österreichische Außenminister Schallenberg spricht davon (In der Zeit im Bild 2, 10. September 2020), die Debatte um die Migration anlässlich des Flüchtlingslager auf Lesbos zu deemotionalisieren und zu „rationalisieren“, also sie von den Gefühlen weg zur Vernunft zu bringen. Vernunft heißt für ihn, die Ereignisse von 2015 wieder herbei zu beschwören: „Jedes Mal, wenn ein Schiff auftaucht oder ein Zwischenfall in einem Lager ist, gibt es sofort das Geschrei ‚Verteilung‘. … Es geht jedes Mal um ein paar Kinder oder um 13 000, und dann sind es 50 (Tausend), das ist leider Gottes ein realistischer Pragmatismus.“ 

Der Pragmatismus Schallenberg’scher Prägung besteht also darin, keine Emotionen zu beachten und vor allem kein Geschrei zuzulassen, die Türen fest verschlossen halten und statt dessen Geld und Decken schicken – das schafft ein paar heimische Arbeitsplätze und Firmengewinne. Dazu ein Kommentar von Cornelius Obonya im Standard: „Wenn man Decken und Zelte und ein wenig Geld ins Südliche schickt, dann sieht man die Menschen nicht mehr, weil die sind ja dann unter der Decke.“ 

Wenn wir aber die Grenzzäune nur einen Spalt breit aufmachen und 100 Kinder hereinlassen, käme unweigerlich die große Flut. Das ist für den Außenminister keine Spekulation oder Hypothese, sondern vor dem Eintreten schon eine Realität. Realistischer Pragmatismus nach Schallenberg ist die Vorwegnahme einer Realität, um sie in der Gegenwart schon in den Ansätzen zu ersticken. Die Realität im Kopf dient damit nichts anderem als der Angsterzeugung, die die Abschottungspolitik rechtfertigen soll.

Der Außenminister ist emotionslos im Sinn der emotionalen Kälte, einer Abwehrform der Scham. Obwohl emotionslos, geht es ihm um nichts anderes, als zu emotionalisieren, indem er Ängste schürt. Realistischer Pragmatismus ist die demagogische Behauptung, die eigenen Fantasien wären real, eine Aufforderung zur vorweggenommenen Angst und Katastrophenpanik. Und eine Verleitung zur geistigen Verwirrung, die Gegenwart mit einer fantasierten Zukunft zu verwechseln.

Dem zitierten Gott wird diese Haltung und der Mensch, der sie vertritt, sicher leid tun, wenn es ein Gott der Liebe ist. Selbst der Interviewer Armin Wolf erschien geschockt angesichts dieser Aussagen und warf dem Außenminister Zynismus vor, prallte aber ab: Es sei kein Zynismus, sondern eben realistischer Pragmatismus.  

Hinter der emotionalen Kälte verbirgt sich die Scham. Die Zustände im Flüchtlingslager Moria, das wir uns jetzt, da es abgebrannt ist, endlich merken müssen, waren und sind beschämend, für jeden, der in Europa ein ausreichendes und sicheres Leben führt. Die Scham knüpft an jene an, die uns befallen hat, als plötzlich hunderttausende Menschen mit Rucksäcken, Kinderwägen und Rollstühlen an den Grenzen standen, verzweifelt und hoffend. Um dieser Scham ja nicht wieder zu begegnen, wird der Deckmantel der Menschenverachtung und des Ekels über alle gebreitet, die sich anmaßen, an ihrem elenden Flüchtlingsschicksal etwas verbessern zu wollen.

Denn die Schamverdrängung von vor fünf Jahren wollen wir uns auch nicht mehr antun, die im Angstszenario des zusammenbrechenden Sozialsystems bestanden hat. Wie soll der Staat so viele Eindringlinge versorgen und all die Leistungen, derer wir uns erfreuen, aufrechterhalten? Die Ängste waren unberechtigt, aber sie haben die Scham übertönt. Also wird jetzt im Vorfeld gleich die Angst in Stellung gebracht, damit wir uns nicht schämen müssen, wenn wir die Bilder des verkommenen und überfüllten Flüchtlingslagers über den Bildschirm huschen.

Nichts gelernt seit 2015?

Das Ringen zwischen unmenschlichem „Pragmatismus“ und Menschlichkeit, in dem kurz die Menschlichkeit Oberhand bekam, hat letztlich die Abschottungspolitik für sich entschieden, und diesen Sieg wollen sich die Sieger nicht nehmen lassen.

Die Frontlinien der emotionalen Reaktionen auf die aktuellen Vorgänge sind die gleichen wie 2015: Die naiven Gutmenschen gegen die pragmatischen Zyniker. Fünf Jahre ohne Lernen, ohne innere Veränderung, was für ein Luxus, die wir uns leisten können, weil unsere Wohlstandssicherheit nur an der Oberfläche angekratzt wurde, ein kleiner Lackschaden. 

Die Katastrophe als Folge der Flüchtlingswelle ist ausgeblieben. „Wir“ haben das geschafft. Die Wirtschaft ist weiter gewachsen, die Löhne und Sozialleistungen sind gestiegen, die Pensionen kommen nach wie vor aufs Konto, die Kriminalität hat sich nicht wesentlich verändert, keine Katastrophe weit und breit. Sicher gibt es Schwierigkeiten, manche der 100 000 Migranten, die Österreich aufgenommen hat, tun sich leichter, manche schwerer. Der Arbeitsmarkt und das Bildungssystem haben viel zu tragen, aber es ist auch viel Arbeits- und Leistungskraft und Intelligenz in unser Land geströmt. Und Tausende Einheimische haben ihr Herz geöffnet, ihren Mut zusammengenommen und sind über ihren Schatten gesprungen, um den Neuankömmlingen zu helfen und ihnen unter die Arme zu greifen, bis sie Fuß gefasst haben. Es gab eine Welle der Hilfsbereitschaft, die nichts mit einer Katastrophe zu tun hatte, sondern ein kräftiges Lebenszeichen der Menschlichkeit darstellte.

Doch einigen geht es jetzt nur darum, dass die traumatische Erfahrung von damals, die durch die Fantasie einer Katastrophe erzeugt wurde, uns niemals wieder beunruhigen dürfe. Wer will schon retraumatisiert werden? Lieber emotional kalt und ungerührt das Elend verdrängen, als die Ängste von damals wieder spüren zu müssen. 100 unbegleitete Kinder, also Kinder, die ihre Familie verloren haben, aus Moria könnten die alten Panikgefühle wieder wachrufen. Also schicken wir Decken und Geld hin, damit das menschliche Leid weg von uns bleibt und wir es nicht in der Nähe der eigenen Haut spüren zu müssen.

Push und Pull

Da ist die Rede von Push- und Pullfaktoren, die auch Teil dieses realistischen Pragmatismus sind. Wenn 100 Kinder ins Land kommen und freundlich aufgenommen werden, dann spricht sich das herum und erzeugt einen Pull. Nur sind die Pullfaktoren keine Realität, die faktisch nachgewiesen werden könnte, sondern ein Konstrukt, dessen Wirksamkeit in der Wissenschaft kritisch bewertet wird. Ich denke mir, wenn ich nur ein paar Stunden in einem derartigen Lager verbringen müsste, hätte ich einzig und allein den Push-Faktor, dort rauszukommen, gleich wohin. Möglicherweise war dieser Effekt so mächtig, dass er zum Anzünden des Lagers geführt hat. Aber Herr Schallenberg hat da offenbar eine andere Erfahrung.

Symbolpolitik

Immer wieder ist dazu noch die Rede von der Symbolpolitik. Politik ist immer Symbolpolitik, deshalb ist das Schlagwort nicht geeignet, um damit andere Meinungen zu diskreditieren. Ein paar Migrantenkinder ins Land zu holen, sei ja nur ein Symbol ohne humanitäre Folgen, der Tropfen auf den heißen Stein. Die Migratenfrage bleibt dadurch ungelöst. Natürlich hätte ein derartiger Schritt auch Symbolwirkung: Ein Symbol für Menschlichkeit und für Hoffnung. 100 Schicksale werden zum Besseren gewendet. Den Schritt nicht zu setzen und die Aufnahme von Flüchtlingen zu verweigern, ist auch Symbolpolitik, nämlich die Symbolisierung von Unmenschlichkeit und Hoffnungslosigkeit und 100 Menschen nicht zu helfen. Die Migratenfrage bleibt dadurch genauso ungelöst und kommt nicht einmal einen minimalen Schritt weiter. Im Gegenteil, die österreichische Regierung (zumindest in ihrem türkisen Teil, der ja alle relevanten Ministerien umfasst: Innen-, Außen- und Integrationsressort) verstärkt die Spaltung innerhalb der EU und geht auf die Seite der osteuropäischen Länder, die jede Aufteilungsquote von Migranten ablehnen. Österreich positioniert sich als einziges Land in dieser Gruppe mit europäischem Spitzenwohlstand. 

Im Kontrast dazu haben viele Einzelpersonen, Gemeinden und Städte ihre Bereitschaft bekundet, einen Akt der Solidarität und der Menschlichkeit zu setzen. Das zeigt, dass dieses Land mehr verdient als unmenschliche Spitzenpolitiker, die mit hohlen Phrasen die Ängste der Menschen in diesem Land schüren, und dass es möglich ist, Menschlichkeit und Politik zu verbinden – eine Hoffnung, die wir nie aufgeben sollten.