Montag, 20. Februar 2012

Autofahren und Bewusstheit

Jede elfte Autofahrt in Österreich ist kürzer als einen Kilometer, jede zweite kürzer als fünf Kilometer und zwei Drittel sind kürzer als zehn Kilometer.
Einen Kilometer zu Fuß zu gehen, erfordert ca. 15 Minuten, verbraucht null nichterneuerbare Ressourcen und produziert null Abgase. Wie oft setzt sich Herr/Frau Österreicher – Herr/Frau Mitteleuropäer – Herr/Frau Erste-Weltbewohner ins Auto, wenn er/sie genauso gut die eigenen Beine und Füße für die Fortbewegung nutzen könnte, die uns die Natur für diesen Zweck gegeben hat?
Gewohnheiten und Bequemlichkeiten zählen hier vermutlich mehr als Eitelkeiten, nachdem der Autobesitz schon lange eine Selbstverständlichkeit beim großen Durchschnitt ist. Viele haben einen Sperrklinkeneffekt eingebaut – einmal eine Strecke, z.B. für den Einkauf, mit dem Auto zurückgelegt, die Bequemlichkeits-Erfahrung gemacht, und schon wird dafür jedes Mal wieder das Auto verwendet.
Mehr Bewusstheit zu schaffen bedeutet, solche automatisierte Entscheidungen wieder „rückzubauen“: Ein Verhalten, das sich als problematisch und als schädlich herausgestellt hat, das durch seine Eigendynamik außer Kontrolle geraten ist (wie bei jeder Suchterkrankung), kann dadurch korrigiert werden, dass jede Entscheidung bewusst getroffen wird: Jetzt nutze ich das Auto, weil es aus dem oder dem Grund nicht anders geht. Und jetzt nutze ich das Auto nicht, weil ich die Strecke auch zu Fuß oder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel bewältigen kann, auch wenn es mehr Zeit braucht.
Nachweislich sind die Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel mit weniger Stress belastet, und keines Nachweises bedarf es, dass die Fortbewegung auf den eigenen zwei Beinen gesünder und gesundheitsvorsorgender ist als ein noch so bequemer Autositz.
Wenn wir Entscheidungen bewusst treffen, führen wir Gründe und Rechtfertigungen an. Dieser Mehraufwand erhöht die kognitive Dissonanz: Wir „spüren“ jedes Mal deutlicher, dass wir andere wichtige Überzeugungen zurückstellen. Wir dürfen dabei diese Überzeugungen (z.B., dass es wichtig ist, die eigene Gesundheit durch Bewegung zu stärken, und dass es wichtig ist, möglichst wenig Ressourcen zu verbrauchen) nicht schwächen, was passiert, wenn wir ein schädliches Verhalten unbewusst einschleifen lassen. Deshalb ist es gut, die Entscheidung mit einem Zusatz zu koppeln: Ich entscheide mich, diesmal das Auto für die Strecke X zu nutzen, auch wenn die Alternative dazu stressfreier, gesünder und ressourcenschonender wäre.
Darum ist es wichtig, dass auch öffentlich immer wieder darauf aufmerksam gemacht wird: Ja, Autofahren ist umweltschädlich. Damit werden wir immer wieder daran erinnert: Je weniger wir das Auto nutzen, desto mehr schonen wir die Atmosphäre und leisten einen Beitrag zur Verbesserung der Lebenschancen zukünftiger Generationen. Dadurch werden wir unterstützt, uns selber immer wieder darauf aufmerksam zu machen.
Verhaltensänderungen erfordern Bewusstheit und sie brauchen Zeit – Wieviel Zeit hat unsere Atmosphäre noch?

Vgl: Ökologie und Ausreden

Samstag, 18. Februar 2012

Materialien zur Epigenetik

Die relativ junge Forschungsrichtung der Epigenetik lehrt uns einerseits, dass Gene ein- und ausgeschaltet werden, und andererseits, dass solche Muster des Ein- und Ausschaltens von Genen weitervererbt werden können. Sie liefert also eine Erklärung dafür, dass Veränderungen in der Therapie bis auf die Zellebene „hinunter“ wirken können (und müssen, um dauerhaft zu sein) und auch dafür, warum wir Probleme mit uns tragen, die von vorigen Generationen stammen.

Gene und Epigene

Die Zellen erledigen ihre Aufgaben in dauernder Kommunikation mit ihrer Umgebung. Aber auch innerhalb der Zellen finden viele Prozesse des Informationsaustausches statt, und besonders wichtig sind solche, die die Aktivierung des genetischen Codes (des Genoms) anbetreffen, der im Zellkern gespeichert ist. Die meisten Gene (ca. 58 000 von 80 000) spulen nicht automatisch ihr Programm ab, sondern werden ein- und ausgeschaltet wie ein Radioapparat. Welche Bedingungen wirken auf solche Schaltvorgänge ein und wie können diese beeinflusst werden? Mit dieser Thematik beschäftigt sich die Epigenetik.
Spannende Ergebnisse liefert diese Forschungsrichtung, weil sie aufzeigt, wie veränderungsfähig alle Organismen sind. Sie widerspricht dem genetischen Determinismus, der behauptet, dass wir von den Genen gesteuert wären, sodass wir an unseren Schwierigkeiten und Problemen im Grund nichts ändern könnten, weil diese von Anfang an schon fixiert wären. Wir wissen dagegen jetzt, dass sich die meisten Gene entsprechend den jeweiligen Erfordernissen ausdrücken (Genexpression).
Ein großes Forschungsprojekt in England ergab, dass die Söhne von Vätern, die schon vor der Pubertät geraucht hatten, überdurchschnittlich dick wurden, während bei den Töchtern keine diesbezüglichen Abweichungen vorkamen.
Weiters wurde erkannt, dass sich Epigene, also die „Gen-Schalter“, viel leichter verändern lassen als die Gene selbst. Gene können nur mit sehr aufwändigen und schwierigen Operationen im Genom korrigiert werden, während Epigene z.B. schon durch eine Veränderung von Verhaltensweisen moduliert werden können, d.h. entweder in ihrer Aktivität gesteigert oder zurückgefahren werden.
Außerdem konnte nachgewiesen werden, dass epigenetische Signale von den Eltern auf die Kinder, möglicherweise sogar auf die Enkelkinder weitergegeben werden können. Wie die Alten sungen, zwitschern die Jungen, nicht nur, weil sie es hören und nachahmen, sondern weil sie es in ihrem epigenetischen Repertoire schon mitbringen. Freilich funktioniert das auch umgekehrt: Die Untugenden der Vorfahren oder möglicherweise deren ungelösten Lebensprobleme werden ebenso weitervererbt, als wären sie in den Genen verankert.

Was ist Epigenetik? Einige Definitionsversuche:


„Der nur wenige Mikrometer (0,005 mm) große Zellkern enthält rund zwei Meter DNA. Wir versuchen, die Mechanismen zu verstehen, die in Anbetracht des winzigen Volumens des Zellkerns den Zugang zur DNA ermöglichen.“

„Den Unterschied zwischen der Genetik und der Epigenetik kann man wahrscheinlich mit dem Unterschied zwischen dem Schreiben und dem Lesen eines Buchs vergleichen. Nachdem ein Buch geschrieben ist, ist der Text (die Gene oder die in der DNA gespeicherte Information) in allen an den interessierten Leserkreis verteilten Kopien der gleiche. Jedoch wird jeder einzelne Leser des Buchs die Geschichte auf etwas unterschiedliche Weise interpretieren, mit sich im Laufe der Kapitel unterschiedlich entwickelnden Gefühlen und Erwartungen. In sehr ähnlicher Weise ermöglicht die Epigenetik verschiedene Interpretationen einer festen Vorlage (das Buch oder der genetische Code), was je nach den variablen Bedingungen, unter denen die Vorlage betrachtet wird, zu unterschiedlichen Lesarten führt.“

„Informationsmanagement im Zellkern bedeutet, dass ein Teil der genetischen Information im Genom sehr, sehr eng verpackt ist. Dann wieder gibt es genetische Informationen, die sich jederzeit in einem aktiven Zustand befinden müssen, so genannte Haushaltsgene (house-keeping genes) zum Beispiel. Daher ist die Epigenetik ein wenig wie das Informationsmanagement zu Hause: das, was man immer wieder braucht, räumt man nicht weg, aber alte Schulhefte hebt man in Kartons verpackt auf dem Dachboden auf.“
(Haushaltsgene sind solche, die dauernd „eingeschaltet“ sind und für die Aufrechterhaltung des Dauerbetriebes notwendig sind.)

Einige Grundbegriffe:


Genexpression: Umschreiben (transkribieren) der Gene in RNA und dann Umwandeln (Translatieren) in Proteine
DNA-Sequenz: Vier organische Basen: Adenin (A) paart sich mit Thymin (T), Cytosin (C) mit Guanin (G). Die DNA-Sequenz eines Gens bestimmt die Aminosäurenzusammensetzung eines Proteins.

Ein paar eindrückliche Beispiele aus der Forschung:

Enkel entwickeln Diabetes


Der englische Genetiker Marcus Pembrey erforschte die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Erkrankungen in einer abgelegenen Stadt Nordschwedens. Dabei zeigte sich, dass die Enkel von Männern, deren Kindheit in eine Zeit des Überflusses fiel, mit größerer Wahrscheinlichkeit Diabetes entwickelten – verknüpft mit dem höheren Risiko eines frühen Todes. Das galt jedoch nur für die männliche Linie, die Enkeltöchter blieben verschont. Sie wiederum waren betroffen, wenn sich ihre Großmutter väterlicherseits überreich ernährt hatte. In diesem Fall kamen die Enkelsöhne gesund davon.
Das bedeutet, dass die Umweltbedingungen der heute Lebenden Einfluss auf die Nachkommen haben. Pembrey nimmt an, dass die Nahrungsfülle epigenetische Spuren auf den Geschlechtschromosomen X und Y hinterlässt. Wie weitere Analysen nahelegen, hängen die Auswirkungen in den Folgegenerationen vom "Timing" ab – vom Alter, in dem die erste Generation den Überfluss genoss. Die Großmütter der am stärksten betroffenen Enkeltöchter erlebten die üppigen Zeiten im Uterus oder in der Kindheit – also genau in der Phase, in der sich die Keimzellen in den Eierstöcken entwickeln. Bei Männern dagegen fiel die kritische Spanne in das Ende der Jugendjahre - eine entscheidende Zeit für die spätere Spermienbildung. Diese Studien lassen vermuten: Ernährung, Verhalten und Umweltbedingungen der heute Lebenden haben einen immensen Einfluss auf die Gesundheit der Nachkommen – auch weit entfernter.
Und daraus folgt: Wir müssen in dieser Hinsicht Verantwortung nicht nur für unsere Kinder, sondern auch für unsere Kindeskinder übernehmen. Entsprechend könnten einige heute verbreitete Krankheiten weit zurückliegende epigenetische Ursachen haben.
Ein kanadischer Psychologe vertritt die These, dass unser epigenetisches Erbe eine Reihe von Persönlichkeitsmerkmalen – darunter Temperament und Intelligenz – beeinflusst. Deshalb dauere es vermutlich mehrere Generationen, um in einer Bevölkerung die Folgen wieder wettzumachen, die Armut, Krieg und Vertreibung im epigenetischen Code hinterließen. Das zeigen viele praktische Erfahrungen, wie wir sie z.B. in der Aufstellungsarbeit machen.

Drogensucht und Epigenetik


Ein weiteres Beispiel aus der Forschung zeigt, dass psychoaktive Drogen den epigenetischen Code unserer Hirnzellen umschreiben können. Die Lernfähigkeit des Gehirns ist ein schrittweiser Prozess, der ständig Ereignisse mit Ergebnissen bis zur Bildung assoziativer Erinnerungen verknüpft. Psychoaktive Drogen, die eine Belohnung verschaffen, stimulieren diesen Lernkreislauf, sodass bei Suchterkrankungen das auf Belohnung basierende Lernsystem in krankhafte Übersteuerung übergeht und zu zwanghaftem Verhalten führt. Regelmäßiger (chronischer), zwanghafter Drogenkonsum verstärkt daraufhin die gelernte Assoziation und verschlimmert das Problem.
Auf körperlicher Ebene fördert das Lernen die Stärke von Verbindung und Kommunikation zwischen bestimmten Hirnzellen. Man glaubt, dass das Einschalten von Genen, die den physischen Umbau der Verbindungen kontrollieren, daran beteiligt ist.
In Gehirnzellen wird eine Anzahl an Genen nach der Verabreichung von Drogen wie Kokain eingeschaltet, und neue Forschungsergebnisse zeigen, dass dieser Umschaltmechanismus epigenetische Modifikationen einschießt – chemische Veränderungen entweder an der DNA (die die Gene kodiert) oder an mit der DNA assoziierten Proteinen (Histone).
Epigenetische Modifikationen verändern, wie gesagt, nicht den DNA-Code selbst, sondern beeinflussen eher die Verfügbarkeit des Codes für die Faktoren, die ihn ablesen und in sein Produkt übersetzen. Daher können epigenetische Modifikationen ein Gen zugänglich machen und so den Umfang steigern, in dem es abgelesen wird (die Menge des Produkts vergrößern) oder es unzugänglich machen, d.h. es tatsächlich abschalten. Es wurde nun gezeigt, dass Kokain zu einer Acetylierung der Histone an Genen führt, die es damit einschaltet - eine Modifikation, die bekanntermaßen mit zugänglicher, aktiver DNA assoziiert ist.
Kokain verändert nicht nur den epigenetischen Status von Genen, sondern veranlasst auch bestimmte epigenetische Modifikationen, die abhängig von der Häufigkeit des Drogenkonsums sind. Bestimmte Gene werden durch seltene (akute) Verabreichung eingeschaltet, während andere nur nach chronischem Gebrauch (wie bei einer Suchterkrankung) aktiviert werden. Manche werden in beiden Fällen eingeschaltet. Bei durch akuten Konsum eingeschalteten Genen werden die Histon-H4-Proteine acetyliert, bei chronischem Drogengebrauch die Histon-H3-Proteine. Gene, die durch beide Formen der Drogeneinwirkung aktiviert werden, weisen H4-Acetylierung zu Beginn der Kokainexposition auf und wechseln zu H3-Acetylierung, wenn der Drogenkonsum chronisch wird.
Interessanterweise bleibt die durch beständige Kokaineinwirkung veranlasste H3-Acetylierung bei einer Anzahl von Genen auch lang nach der Absetzung der Droge aufrecht. Diese anhaltende molekulare Markierung könnte daher zu einer Daueraktivierung der Gene und einer Anhäufung ihrer umbauenden Produkte führen, was im Gegenzug die langfristigen körperlichen Veränderungen erklären könnte, die notwendig sind, um die Hirnzellverbindungen während Lern- und Suchtprozessen zu stärken.

Epigenetik und Krebs


Das Epigenom steuert, welche Abschnitte unserer DNA aktiv sind. Unser Genom wickelt sich um Histone, zelluläre Spulen, die von Enzymen mit Molekülen wie Acetyl und Methyl markiert werden. Die Markierungen und Wicklungen legen fest, welche Gene eingeschaltet sind und welche nicht. Die richtige Regelung der Gene hält die Zellen in Ordnung, aber ein Agieren außerhalb der Norm verursacht ein unsoziales Verhalten der Zellen. Veränderungen im Verhalten zweier epigenetischer Enzyme scheinen bei vielen Krebsarten eine Rolle zu spielen, indem sie die falschen Gene einschalten. Es hat sich als nützliche Anti-Krebs-Strategie erwiesen, mit Medikamenten die Balance zwischen diesen Enzymen wieder herzustellen.
Viele Krankheiten haben eine bekannte genetische Komponente, können aber durch die Epigenetik modifiziert werden. Epigenetische Faktoren wie die DNA-Methylierung sind wesentlich praktikablere Ansatzpunkte für Behandlungen, denn die Art und Weise, wie DNA methyliert wird, lässt sich viel leichter ändern als die zugrunde liegende DNA-Sequenz. Nicht funktionierende Methylierung kann dazu führen, dass Gene nicht zum Schweigen gebracht werden und dann Krebs produzieren.   
Trächtige Mäuse kriegen Folsäure und B12 (enthält viele Methylverbindungen): Junge kriegen braunes Fell statt gelbes. Dabei wird das „Agouti-Gen“, das für das Gelb zuständig ist, methyliert und verringert dessen Expression. Die Sequenz des Gens wird dabei nicht verändert.
Eine Extraportion Vitamin B12, ein bisschen Folsäure, eine Prise Cholin - allesamt Stoffe, die sich in vielen in Apotheken erhältlichen Nahrungsergänzungsmitteln finden. Randy Jirtle von der Duke University im amerikanischen Durham und sein Mitarbeiter Robert Waterland setzten die aufgepeppte Diät dicken, gelben Mäusen vor, die in der Wissenschaft unter dem Namen Agouti-Mäuse laufen. Das Agouti-Gen in ihrem Erbgut ist es, das den Tieren ein gelbes Fell verleiht, sie gefräßig macht. Die Weibchen bekamen das Futter zwei Wochen vor der Paarung und während der Schwangerschaft. Wenn Agouti-Mäuse Nachwuchs bekommen, wird dieser normalerweise ebenso gelb, ebenso fett und ebenso krankheitsanfällig, wie es die Eltern sind. Die Mehrzahl der Nagerkinder in Jirtles Experiment schlug jedoch aus der Art: Sie waren überwiegend schlank und braun. Außerdem fehlte den Sprösslingen die Veranlagung für Krebs und Diabetes. Durch einen subtilen Prozess war das Agouti-Gen abgeschaltet worden. Und das, ohne einen einzigen "Buchstaben" im Erbgut der Nager umzuschreiben.

Drei Milliarden Bausteine im Erbgut


Wenn Genetiker von Mäusen sprechen, meinen sie meist auch den Menschen. Das menschliche Erbgut: drei Milliarden Bausteine, etwa 25.000 Gene, dazwischen eine Unmenge scheinbar sinnloser Sequenzen, insgesamt ein zwei Meter langer Faden aus Desoxyribonukleinsäure (DNS). Dieses Riesenmolekül gilt heute weithin als Bauplan für den menschlichen Körper. Aber es werden Anweisungen benötigt, wann welcher Schritt auszuführen ist. So enthält eine Leberzelle dieselben genetischen Informationen wie eine Gehirnzelle, dennoch erfüllen beide völlig unterschiedliche Aufgaben, produzieren beide spezielle Eiweiße in typischen Mengen. Zwar kann man gewisse Details dieses Differenzierungsprozesses durch das Regiment von Steuerungs-Genen erklären, die in den DNS-Faden integriert sind. Doch seit Jahren mehren sich die Hinweise darauf, dass die Aktivität vieler Gene auch von außen beeinflusst wird: Bestimmte Proteine heften sich an die DNS und helfen, jenes Enzym in Position zu bringen, das den genetischen Code abliest.

Schalter, die Gene an- und ausknipsen


Wie dieses Merken funktioniert, ist Gegenstand der Epigenetik. Epigenetische Marker stecken nicht in den Buchstaben der DNS selbst, sondern auf ihr: Es sind chemische Anhängsel, die entlang des Doppel-Helix-Strangs oder auf dem "Verpackungsmaterial" der DNS verteilt sind. Sie wirken als Schalter, die Gene an- und ausknipsen. In den vergangenen Jahren haben Epigenetiker große Fortschritte im Verständnis dieser übergeordneten Steuermechanismen erzielt. Dabei wurde immer klarer, dass das Epigenom für die Entwicklung eines gesunden Organismus ebenso wichtig ist wie die DNS selbst. Deutlich wurde bei den Forschungen auch, dass das Epigenom durch äußere Einflüsse weit leichter als die Gene verändert werden kann. Die größte Überraschung aber ist: Epigenetische Signale werden von den Eltern an die Kinder weitergegeben.
Die neuen Entdeckungen erschüttern das bisherige Wissen über Genetik und gängige Vorstellungen von Identität. Sie stellen also in Frage, was gemeinhin angenommen wird: dass die DNS unser Aussehen, unsere Persönlichkeit und unsere Krankheitsrisiken bestimmt. Die These "Die Gene sind unser Schicksal" ist bei vielen zur Überzeugung geworden. Solche eindimensionalen Vorstellungen aber sind nun obsolet. Denn selbst wenn Menschen exakt über die gleichen Gene verfügen, unterscheiden sie sich häufig in den Mustern der Genaktivität und damit auch in ihren Eigenschaften.
Derzeit arbeiten Wissenschaftler intensiv daran, die biochemischen Mechanismen der epigenetischen Steuerung zu enthüllen. Einer der Regelvorgänge, so hat sich dabei herausgestellt, setzt am "Verpackungsmaterial" der DNS an. Denn der Erbfaden liegt nicht lose im Zellkern, sondern ist auf zylindrische Proteine - "Histone" - gewickelt, und zwar derart, dass eine Kette mit Perlen wie bei einem Rosenkranz entsteht. Damit Enzyme die Informationen des Erbcodes lesen und abschreiben können, muss die betreffende Region der DNS für sie zugänglich sein. Zugang finden sie nur, wenn die Erbsubstanz in lockerer Form vorliegt. Um dies zu ermöglichen, müssen die Histonproteine bestimmte Anhängsel tragen. Sind diese dagegen nicht vorhanden, ist die Erbsubstanz dicht gepackt, und das Gen bleibt inaktiv. Viele Details dieses Schaltvorgangs sind allerdings noch nicht entschlüsselt.
In weiteren Studien gelang es Meaneys Team sogar, die frühkindliche Prägung umzukehren: Der Wirkstoff Trichostatin A machte ängstliche Nager stressresistenter, mit der Aminosäure L-Methionin wurden "mutige" Ratten zaghafter. Diese Ergebnisse bieten erstmals eine Erklärung für die Mechanismen, mit denen Umweltfaktoren auch komplexe Verhaltensweisen verändern. Und sie verdeutlichen ebenfalls, dass das Epigenom von Säugetieren nicht nur in der Entwicklungsphase, sondern auch noch in höherem Alter formbar ist. Dass wir also auch noch als Erwachsene an ihm "arbeiten" können, sei es durch Medikamente oder Nahrungsmittel. "Die Experimente bestätigen die Wichtigkeit der Umwelt bei der Entwicklung eines Lebewesens", sagt Michael Meaney. Nun sucht der Forscher beim Menschen nach ähnlichen Phänomenen. Die Erbgut-Abschnitte, die durch liebevolle Aufzucht bei Ratten programmiert werden, kommen, glaubt Meaney, in ähnlicher Form auch im Humangenom vor.
Frauen, die im Hungerwinter 1946/47 geboren wurden, kamen mit einem geringen Geburtsgewicht zur Welt und brachten später auch besonders kleine Kinder zur Welt, obwohl es nun wieder genug zu essen gab. Die Enkel der Kriegsgeneration litten unter einem höheren Krankheitsrisiko. Wie kann es sein, dass Veränderungen, die durch die damaligen Lebensbedingungen hervorgerufen wurden noch in den nachfolgenden Generationen zu finden sind?

Histone


Ein wichtiger Bestandteil, um Aufschluss über eine solche Art der Vererbung zu geben, sind Histone, eine Art Verpackungsmaterial für die DNA. Histone sind Proteine, die je nachdem, welche chemische Gruppe sie tragen, ob sie methyliert oder acetyliert sind, Gene dauerhaft deaktivieren oder aktivieren können. Bei der Zellteilung geben Histone ihr Eigenschaft an die Tochterzellen weiter. So bleibt die genetische Information und auch die epigenetische Information erhalten. Es wird angenommen, dass Methylierung, Acetylierung oder auch andere Formen der Histonmodifikation, wie Phosphorylierung, Sumoylierung und Ubiquitinylierung durch äußere Faktoren, wie Umwelteinflüsse und Ernährung beeinflusst werden. Ein Beispiel bietet die Fruchtfliege Drosophila melanogaster, die weiße Augen hat und ihre Embryonen bei 25 Grad Celsius aufzieht. Wird die Umgebungstemperatur der Embryonen für kurze Zeit auf 37 Grad Celsius erhöht, schlüpfen Fliegen mit roten Augen. Werden diese Fliegen untereinander gekreuzt, ist ein Teil der Nachkommen wieder rotäugig, obwohl auf eine weitere Wärmebehandlung verzichtet wurde. Eine Gruppe von Forschern von Renato Paro, Professor für Biosysteme am Department of Biosystems Science and Engineering (D-BSSE), kreuzten diese Fliegen über sechs Generationen und immer wieder kamen Rotäugige zur Welt. Jedoch blieb die DNA-Sequenz des Gens, welches für die Augenfarbe verantwortlich ist, bei Eltern und Nachkommen gleich.

Vererbung von Traumatisierung


Auch wenn die schlimmsten Befürchtungen über die psychologischen Folgen des 9/11-Attentats in New York nicht eintrafen, so litt doch eine geschätzte 1/2 Mio der Einwohner an Symptomen posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS). Unter den Zehntausenden, die den Ereignissen direkt ausgesetzt waren, befanden sich 1.700 schwangere Frauen, von welchen einige ebenfalls an PTBS-Sypmtome entwickelten. Wie sich zeigte, wurden diese Symptome zum Teil auf deren Kinder übertragen, wie Rachel Yahuda, Professorin der Psychiatrie und Neurologie an der Traumatic Stress Studies Division im Mount Sinai Medical Centre, New York, veröffentlichte.
Ausgangspunkt waren Messungen des Stresshormons Cortisol an Speichelproben betroffener schwangerer Frauen. Dieser Level war bei Frauen, die keine Symptome von PTSD aufwiesen, signifikant niedriger als bei den anderen. Die Kinder der Frauen zeigten später ähnliche Unterschiede bei den Messungen, wobei die Unterschiede dann am größten waren, wenn die Mütter sich im letzten Schwangerschaftsdrittel befanden. Diese Unterschiede zeigten sich auch bei Messungen der Stresskompensation – auch hier fand man höhere Belastungen der Kinder, deren Mütter den traumatisierenden Ereignissen ausgesetzt waren und PTBS-Symptome entwickelten, und auch hier zeigten sich die stärksten Symptome bei den Kindern, deren Mütter diese während dem letzten Schwangerschaftsabschnitt erlebten. Doch wie ist dies möglich?
Forschungsergebnisse der letzten 10 Jahre legen nahe, dass derartige Effekte vermutlich auf epigenetischen Mechanismen beruhen. Epigenetik ist das Studium der erblichen Veränderungen in der Genaktivität, die nicht aufgrund von Veränderungen in der DNA-Sequenz erfolgen. Die Epigenetik zeigt, wie Gene mit Umweltfaktoren interagieren, und wird mit vielen Veränderungen der Hirnfunktionen in Verbindung gebracht.
Eine wichtige Studie in diesem aufstrebenden Gebiet, veröffentlicht im Jahr 2004, zeigte, dass die Qualität der Brutpflege von Ratten erheblich das Verhalten der Sprösslinge im Erwachsenenalter beeinflusst.
Rattenjungen, die von ihrer Mütter während der ersten Woche des Lebens regelmäßig umsorgt und geleckt wurden, konnten im späteren Leben besser mit Stresssituationen und angstmachenden Situationen umgehen als Junge, zu denen wenig oder kein Kontakt aufgenommen wurde. Diese Ergebnisse selbst wären nicht so neu, doch man fand bei weiteren Untersuchungen heraus, dass diese Effekte durch epigenetische Mechanismen, die Ausdruck des Glucocorticoid-Rezeptors, die eine zentrale Rolle bei der Reaktion des Körpers auf Stress verändern vermittelt werden, verursacht wurden. Die Analyse der Gehirne von eine Woche alten Jungen offenbarte Unterschiede in der DNA-Methylierung (einem Prozess, bei dem die DNA chemisch modifiziert wird). Methylierung beinhaltet das Andocken kleiner, Methyl-Gruppen’ benannte Moleküle, welche aus einem Kohlenstoffatom und drei Wasserstoffatomen bestehen, auf bestimmte Abschnitte in die DNA-Sequenz eines Gens.
Welpen, die ein hohes Maß an Pflege und lecken erhielten, zeigten höhere Methylierung in jenen Regionen der DNA, die die Aktivität des Glukokortikoid-Gens regulieren, die wenig behüteten dagegen eine deutlich geringere, mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Stressverarbeitung. Auch Yehuda und ihre Kollegen stellten 16 unterschiedliche Gene fest, die bei den Müttern mit PTSD-Symtpomen. Einige dieser Gene regulieren die Funktion der Glucocorticoid-Rezeptoren und zwei – FKBP5 und STAT5b – hemmen direkt ihre Aktivität. Bei Personen mit PTSD ist die Aktivität dieser Gene reduziert, was die hohe Glukokortikoid-Rezeptor-Aktivität bei dieser Störung erklären könnte. Ähnliche Effekte wurden seither auch bei Missbrauchs-Opfern, Kriegsveteranen und Opfern des Nazi-Holocaust festgestellt.
Geringe Cortisol-Level stehen offenbar in direktem Zusammenhang mit dem Risiko, an Folgeerscheinungen traumatischer Erfahrungen zu erkranken, und die Veränderungen in den betreffenden genetischen Markern samt ihren Konsequenzen für die Stressbewältigung sind scheinbar in der Lage, auf Folgegenerationen übertragen zu werden. Diese epigenetischen Faktoren könnten im Zusammenhang mit genetischen Variationen erklären, warum manche Menschen leichter an PTSD-Folgen erkranken als andere.
In der tierexperimentellen Studie wurden die epigenetischen Modifikationen und die damit verbundenen Änderungen an den Glucocorticoid-Rezeptoren im Hippocampus, beobachtet – einer Hirnregion, die für Lernen und Gedächtnis zuständig ist. Epigenetische Marker könnten demnach bei der Bildung von traumatischen Erinnerungen dauerhaft angelegt werden. Vor kurzem berichteten Forscher von der University of Pennsylvania, dass epigenetische Marker durch zwei Generationen von Mäusen übertragen werden können, was darauf hindeutet, dass Kinder, die den Alptraum des World Trade Center-Angriffes noch in der Gebärmutter von ihren Müttern ‘erbten,’ sie wiederum an ihre eigenen Kinder weitergeben könnten.

Dieser Beitrag ist eine Materialsammlung in Zusammenhang mit einem Artikel, der in der ATMAN-Zeitung 1/2012 erschienen ist.

Quellen:

Clara Naudi: Epigenetik und Aufstellungen. In: Praxis der Systemaufstellungen 2/2011, S. 52 – 57
Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers: Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. München: Piper 2004
http://www.psychotherapiepraxis.at/pt-blog/tag/epigenetik/, aufgerufen am 24.1.2012
US National Library of Medicine auf: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/sites/entrez?orig_db=PubMed&db=pubmed&cmd=Search&term=neuron%5BJour%5D%20AND%2048%5Bvolume%5D%20AND%20303%5Bpage%5D%20AND%202005%5Bpdat%5D, Original: 28. Oktober 2005, aufgerufen am 24.1.2012
http://www.geo.de/GEO/mensch/medizin/53101.html?p=4 17.1.2012

Vgl. Kindliche Traumatisierung verändert die Gene

Gibt es eine weibliche Evolution des Bewusstseins?

Die weitere Frage einer Leserin zu meinem Buch: Vom Mut zu wachsen:
Gibt es weibliche/männliche Bewusstseinsstufen, oder eine männliche/weibliche Art, Bewusstseinsstufen zu leben, zu integrieren?
Gibt es eine eigene weibliche Form der Evolution des Bewusstseins?

 
Antwort:
Ich denke dazu, dass die Logik des Ablaufs der Bewusstseinsevolution geschlechterübergreifend ist. Beide Geschlechter und ihr Zusammenwirken haben diese Entwicklung ausgestaltet. Auch wenn es so ausschaut, als würden die Männer im überwiegenden Teil der Geschichte den Ton angeben, gibt es keine Männer ohne Frauen, die sie zur Welt bringen und großziehen. Es findet ein permanenter Austausch zwischen Männern und Frauen auf jeder Stufe statt, in den die Frauen ihre Werte, Gefühle und Sichtweisen einbringen. Nur erscheint die Geschichte die längste Zeit als männlich, weil fast nur Männer über Männer geschrieben haben.
 
Es wäre interessant und möglich, eine eigene Männer- und Frauen-Evolutionsgeschichte zu beschreiben. Sie würde jeweils unterschiedliche Schwerpunkte innerhalb der einzelnen Stufen in den Vordergrund stellen, z.B. die Aspekte der Kindererziehung, die Rolle der Mutterschaft, das weibliche Selbstverständnis oder das Frauenbild auf den einzelnen Stufen. Wenn die Entwicklung aus der weiblichen Sicht beschrieben würde, würden also weiblich geprägte Bilder oder Themen in den Vordergrund gestellt, um die Entwicklung zu erläutern. Es könnten z.B. auch die einzelnen Stadien der Entwicklung anders benannt werden, wenn sich dies aus einer spezifischen Sichtweise als sinnvoller erweist; an der Grundstruktur der Entwicklung  würde das nach meiner Ansicht nichts ändern.

Die Rolle der Frauen in der Evolution des Bewusstseins 2

Im Blogbeitrag vom 16.1.2012 bin ich auf die Frage einer Leserin meines Buches "Vom Mut zu wachsen" eingangen. Hier eine weiterführende Frage der Leserin:
Frauen haben also einige Bewusstseinsstufen nur sehr passiv miterlebt. Sie waren also am Rande des Geschehens? Haben sie die Bewusstseinsstufe trotzdem erreicht? Oder haben sie die 2. und 3. Bewusstseinsstufe erst mit ihrer Emanzipationsbewegung nachgeholt?

Antwort:
Aus der Sicht der Nachgeborenen betrachtet, könnten wir bedauern, dass die Frauen bei früheren Schritten der Bewusstseinsentwicklung nur am Rand des Geschehens mit dabei waren. Vermutlich wäre vieles friedlicher und kreativer abgelaufen. Aber die rückwärtsgewandte Spekulation ist kein einträgliches Geschäft in der Sinnproduktion.
Frauen waren klarerweise immer mit beteiligt an allem Geschehen und an den bahnbrechenden Entwicklungen, doch kann dieser Beitrag schwerer identifiziert werden, u.a. deshalb, weil fast alle überlieferten Namen aus der vormodernen Zeit männlich sind – keine Frau, die eine Religion begründet hätte, keine Heerführerin, die Reiche eroberte, keine Wissenschaftlerin, die neue geistige Horizonte öffnen konnte, und nur ganz wenige Künstlerinnen, von denen wir wissen. Der Beitrag der Frauen liegt im Schatten der offiziellen und der öffentlichen Entwicklung. Wir wissen nicht, was Frauen zu den Männern sagten, die in die Schlacht zogen, welche Ideen von Aristoteles aus Gesprächen mit Frauen stammten, wie die Frauen damit umgingen, dass sie von der athenischen Demokratie ausgeschlossen waren usw.

Dennoch waren auch die Frauen im Übergang zur zweiten emanzipartorischen Bewusstseinsstufe neuen Herausforderungen ausgesetzt, die sie ebenso wie die Männer und zusammen mit diesen gemeistert haben. In den Ackerbaukulturen waren die Frauen als Arbeitskräfte genau so wie die Männer gefordert. Ihre spezifische Form des Heldentums entwickelten sie in Extremsituationen, wie sie die neue Bewusstseinsstufe hervorbrachte. Sie bestand z.B. in der Sicherung des Überlebens einer Restfamilie, bei der der Mann auf dem Schlachtfeld geblieben war, oder in der Sicherung der Nahrung, wenn die Männer auf See unterwegs waren oder als Händler auf einer Fernreise, eine Seuche, die eine alleinerziehende Mutter zurücklässt... Sie bestand auch in der Aufrechterhaltung der emotionalen Bindungen angesichts der elementaren Risiken, die diese Bewusstseinsstufe mit sich brachte.

Der Verlust der wechselseitigen Absicherung und Unterstützung der Stammesgesellschaft erforderte auch bei den Frauen die Entwicklung neuer Einstellungen und Werte und die Mobilisierung neuer Ressourcen. Damit leisteten sie selbstverständlich einen wesentlichen Beitrag zum Aufbrechen alter Strukturen und zur Errichtung , in der Regel gewissermaßen in der zweiten Reihe und vermutlich nur wenig als Initiatorinnen und Bahnbrecherinnen für neue Orientierungen, jedoch häufig als unterstützende gute Seelen der Männer im Rampenlicht.

Was die dritte hierarchische Bewusstseinsstufe anbetrifft, fällt das Phänomen auf, dass Frauen, die an die Spitze der Macht kommen (was sehr selten vorkommt), diese Macht häufig in sehr männlicher Form mit ebenso viel Brutalität ausüben. Es scheint, als hätte in diesem Aspekt die Bewusstseinsstufe eine stärker prägende Kraft als die Geschlechtszugehörigkeit.

Abgesehen von den obersten Schichten, in denen aufgrund der Erbfolge Frauen auch zentrale Herrschaftspositionen einnehmen konnten, wird auf den mittleren und unteren Hierarchierängen die Unterordnung der Frauen unter die Männer mittels gesetzlicher Regelungen zementiert. Die Erinnerung an die tribale Ebenbürtigkeit ist unter den Zwängen der Sicherung des immer prekären Lebensunterhalts offensichtlich weit zurückgetreten.
Die Hexenverfolgungen des späten Mittelalters und der Neuzeit können auch als Versuche verstanden werden, Frauen, die in Anknüpfung an tribale Wurzeln eine von der Hierarchie unabhängige Stellung einnehmen wollten, zu unterdrücken. Mit der Tilgung der Spuren der Stammesgesellschaften wurde auch die Gleichstellung der Frauen systematisch beseitigt. Es gibt kaum Berichte über Frauen, die sich dieser Abstufung entgegensetzten, zum einen, weil dieser Prozess über Tausende Jahre ablief, zum anderen, weil auch die Männer bei der Aufrichtung der bürokratischen Systeme ganz wesentliche Freiheitsrechte einbüßten.

In den Aufgabenteilungen zwischen den Männern und Frauen kann man auch von einer ausgeglichenen Bilanz der Ausbeutung sprechen, die institutionalisierten Mächte wie die Naturgewalten, Kriege, Seuchen und sonstige Bedrohungen des Überlebens bewirkten, dass weder Männer noch Frauen viel Zeit zum Verschnaufen oder Entspannen blieb. Bauern wie Handwerker hatten genug zu tun, um das Überleben und im besten Fall einen bescheidenen Lebensstandard zu sichern. Luxus und Zeitverschwendung war auf die obersten Schichten beschränkt. Im öffentlichen Auftreten, im Bildungswesen, in der Wirtschaft sowie im Privat- und Strafrecht wurde die Dominanz der Männer überhaupt nicht in Frage gestellt und war zusätzlich durch die jeweiligen Rechtsordnungen und die entsprechenden Rechtsideologien abgesichert. Deshalb kamen die Männer auch wesentlich leichter in die Rollen der Akteure des Geschehens.

Ich finde es nicht ganz ausreichend zu sagen, dass die Frauen die Schritte der Evolution erst im Zug ihrer Emanzipationsbestrebungen seit dem 19. Jahrhundert nachvollzogen haben. Auch wenn sie seit der zweiten Bewusstseinsstufe in den Hintergrund der Entwicklung getreten sind, haben sie an der Entwicklung in einer indirekt gestaltenden Rolle teilgenommen. Die vielfältigen Einflüsse, die sie sicherlich ausgeübt haben, u.a. in ihrer dominanten Rolle als Kindererzieherinnen, lassen sich schwer fassen, aber sollten keinesfalls unterschätzt werden. Was die Frauen im Zug der Emanzipationsbewegung nachholen mussten und zum großen Teil schon nachgeholt haben, ist die Übernahme von aktiven und direkt gestaltenden Rollen, wie das z.B. Hillary Clinton oder Angela Merkel tun. Damit können sie auch die Gefühls- und Wertmuster, die das emanzipative und das hierarchische Bewusstsein geprägt haben, handelnd nachvollziehen und möglicherweise in einer spezifisch weiblichen Form ausgestalten.

Mittwoch, 15. Februar 2012

Wie wir unser Ich aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erschaffen

Betrachte dich und die Menschen in deiner Umgebung. Sie tun nichts anderes. Sind sind nur damit beschäftig, ihr Selbst zu kreieren. Sie sprechen andauernd mit diesem sich verändernden, wachsenden Wesen und versuchen so, es zu formen.
Dabei laufen hauptsächlich drei Prozesse ab. Zum einen sprechen die Menschen im Kopf über ihre Vergangenheit und rekonstruieren sie: Sie verändern sie in Gedanken, löschen das aus, was zu dem Wesen, das sie zu erschaffen versuchen, nicht passt, und gewichten das, was ihnen weiterhilft. Zum anderen denken sie an die Zukunft, sie stellen sich vor, was sie tun werden, wie sie aussehen werden, was sie besitzen werden und wie andere auf sie reagieren werden.
Die dritte Sache, mit der sich die Menschen beschäftigen, stellt ihre Verbindung zur Gegenwart her. Unbewusst registrieren sie, wie andere ihr Wesen und ihre Handlungen beurteilen, und reagieren dann ihrerseits wiederum auf diese Beurteilungen. Manche davon bestätigen ihr Selbstbild, während andere es zerstören. Menschen merken, ob andere sich von ihnen angezogen fühlen oder nicht. Wenn sie mit anderen zusammen sind, die ihre Selbstbild nicht bestätigen, entsteht ein Gefühl, das man als Abneigung gegen diese Person bezeichnen würde. Wenn Menschen jedoch umgekehrt von ihrer Umgebung bestätigt werden, entwickeln sie ein Gefühl der Zuneigung für die anderen. Auf diese Weise verbinden Menschen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, um die eigene Persönlichkeit zu erschaffen. Wenn du aufmerksam hinschaust, wirst du feststellen, dass diese Prozesse in jedem Menschen und in jeder Situation ablaufen. Sieh dich um. Du wirst viele interessante Beispiele dafür finden.
Aber wenn du diesen Prozess durchschaut hast, wirst du auch erkennen, dass es noch ein weiteres Selbst gibt, das zwar von all dem weiß, aber unabhängig davon ist. Das ist dein innerstes Selbst und dort beginnt die wahre Freiheit, das Wunderbare.

Olga Kharitidi: Das weiße Land der Seele. München, List Verlag 1966, S. 188 - 190

Sonntag, 12. Februar 2012

Der Schmäh mit dem Biofleisch

Wer gerne Fleisch isst und Eier zum Frühstück hat und sich als Tier- und Umweltfreund versteht, greift zu Bio-Eiern und Bio-Fleisch, ja, natürlich! Das Gewissen ist beruhigt, die kleinen Bauern, die ihre Tiere noch beim Namen rufen, werden unterstützt und den Agrarkonzernen wird eins ausgewischt.

Leider ist der gewissenhafte Fleischkonsument damit schon der Werbung der Bio-Lebensmittelindustrie aufgesessen. Mit dem Titel „Der große Bio-Schmäh“ hat Clemens Arvay ein Buch zur Bio-Industrie veröffentlicht (Wien, Ueberreuter), in dem dieser Widerspruch aufgezeigt wird. Darin geht es vor allem um die Bio-Fleisch- und Eiererzeugung, die unter dem Preisdruck der Supermarktketten zu Umständen in der Tierhaltung geführt hat, die denen der „normalen“ Fleischproduktion immer ähnlicher werden. Die „glücklichen“ Hühner und Kühe sind Produkte der Illusionsmaschinerien der Werbung und kommen in der Wirklichkeit kaum mehr vor; auf den Bio-Tellern landen die Reste der geschlachteten Tiere aus Massentierhaltung mit wenig mehr Freiheiten oder Artgerechtigkeiten als die traditionell gehaltenen. Arvay beschreibt „eine Bio-Welt der automatischen Vogelnester, des Mittwochs als Bio-Schlüpftag, der Kükenfließbänder und der Todeskarusselle.“ Die Biorinder leben dumpf angekettet in ihren Ställen, in denen sie elektrisierte Metallbügel daran hindern, ihren Kot anderswo als in den vorgesehenen Rinnen abzugeben, bis ihr tristes Leben am Schlachthof im Akkord endet.

Die Luft wird dünn für den ökologie- und tierschutzbewussten Fleischkonsumenten. Wer die Produkte dieser Industrie kauft, finanziert sie (mit). Weshalb überhaupt noch Fleisch essen, wenn wir damit so viel Schaden anrichten – an den Tieren und an den Menschen? Weshalb müssen wir 1,5 Milliarden Rinder (mal 500 kg Gewicht) auf unserem Planeten mit wertvollem pflanzlichem Futter ernähren, damit eine dünne Oberschicht in den entwickelten Ländern ihre Alltagsbraten verspeisen kann, während die Unterschichten hungern und verhungern, weil für sie dann nichts mehr übrig bleibt? Wiederum: Wer Fleisch kauft, investiert in dieses Ungleichgewicht und in den Fortbestand des Hungers auf der Welt.

Was kann ein Fleischesser zur Rechtfertigung vorbringen? Dass es ihm schmeckt und dass er sich schon so daran gewöhnt hat, dass es alle anderen auch tun, dass er ohnehin nicht so viel Fleisch isst, und was denn das schon ausmacht, und dass es viele andere Ursachen gibt, die Schuld sind am Klimawandel und am Hungerproblem...  Das sind wohl nur dürftige Argumente, aber bessere finde ich nicht – liebe/r LeserIn, wenn du eine triftigere Begründung für das Fleisch- und Eieressen vorbringen kannst, bitte ich darum!

Wenn nicht, dann ist vielleicht heute der Tag, an dem du, geneigte/r LeserIn die Entscheidung fällst, hinfort ohne Fleischkonsum ein gesundes Leben zu führen, und dann willkommen im Club, wir werden immer mehr!