Mittwoch, 27. Januar 2021

Selbstzweifel und Scham

Jeder Zweifel, den wir an uns selbst anbringen, fügt uns eine Beschämung zu. Wir sagen uns, dass wir nicht in Ordnung sind, so, wie wir sind. Wir sollten anders sein, doch wissen wir nicht, wie genau das sein wollte und wie wir das hinbringen könnten. Hartnäckige Gewohnheiten hindern uns daran, schleichende Ängste stellen sich in den Weg, zwanghafte Gedanken lassen uns nicht weiterkommen. 

Wir schämen uns, dass wir nicht besser sind, als wir sind. Und wir schämen uns wegen der Unsicherheit uns selbst gegenüber. Zunächst einmal sollten wir weniger mangelhaft sein und darüber hinaus sollten wir nicht an uns selber zweifeln. Und schließlich sollten wir uns nicht für all das schämen. Jede Scham, die wir uns selber zufügen, wird zur Quelle einer neuen Scham: Die Scham darüber, dass wir uns für uns selbst schämen. Jede Scham ist zugleich Nahrung für den Selbstzweifel.

Jeder Zweifel nagt am Selbstwert, führt ihn weg von seiner Mitte und lässt ihn in Richtung Scham kippen. Wir schwächen uns selbst, wenn wir uns in Zweifeln verspinnen, und beschädigen die Selbstbeziehung.

Autonomie versus Scham und Zweifel

In Erik H. Eriksons bekanntem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung ist die zweite Phase der Kindheitsentwicklung durch die Spannung zwischen Autonomie einerseits und Scham und Zweifel andererseits geprägt. Scham und Zweifel sind Regulatoren für die Entwicklung zur Selbständigkeit, die im zweiten und dritten Lebensjahr des Kindes im Zentrum steht. Nach diesem Modell gehen sie Hand in Hand. Sie können zu Hemmschuhen für die Ausbildung der Autonomie werden, wenn sie zu sehr von den Eltern verstärkt werden. Viele schambesetzte Selbstzweifel können in dieser Phase grundgelegt worden sein und ein Leben lang nachwirken.

Jedoch ist der völlige Mangel an Scham und Zweifel auch nicht ratsam. Denn dann entwickelt sich Haltungen der Schamlosigkeit und der Selbstüberschätzung, die ebenso nicht fürs Leben dienlich sind. Was wir aus dieser Phase mitnehmen sollten, ist ein starkes Gefühl für die eigene Autonomie, die sich aber auch selber in kritischen Situationen in Frage stellen kann und bei Fehlern mit Scham reagiert.

Angst – Scham – Zweifel: Ein verknotetes Dreieck

Spätestens seit dieser Entwicklungsphase sind Zweifel und Scham miteinander verbunden, und im Hintergrund sind es Ängste, die die Regie führen. So kommt es zu einem Wechselspiel zwischen diesen drei Kräften, das auch qualvolle Züge annehmen kann:

Der Zweifel ist eine kognitive Ausdrucksweise von Angst, und Scham ist die emotionale Komponente des Zweifels. Da die Scham die soziale Seite der Angst darstellt, schließt sich der Kreis. Schamgefühle lassen einen an sich selbst zweifeln, und das kann einem dann schon Angst machen. Für Ängste schämen wir uns immer wieder mal, was wiederum die Selbstzweifel nährt. Von Selbstzweifeln können wir uns schwer befreien, wenn sie sich einmal im eigenen Inneren eingenistet haben, ebenso wie von toxischen Schamgefühlen und chronifizierten Ängsten.

Wir kennen diese Zusammenhänge aus den Werken vieler Schriftsteller vor allem des 20. Jahrhunderts, am eindrucksvollsten ist die Ausweglosigkeit, zu der die Verzahnung dieser Gefühle führt, bei Franz Kafka dargestellt. 

Selbstzweifel und Weltzweifel

Der Zweifel kennt generell zwei Richtungen: Es gibt den Selbstzweifel und den Zweifel an allem anderen, was nicht das Selbst ist, den wir den Weltzweifel nennen können. Der eine Zweifel geht nach innen und der andere nach außen. Allerdings beginnt der Zweifel immer beim Selbst. Die Abläufe und Geschehnisse im Außen sind solange kein Gegenstand für den Zweifel als die Selbstbeziehung intakt ist. Diese Beziehung wird brüchig, wenn ihm von innen oder von außen beständig Zweifel entgegengebracht werden. 

Der Weltzweifel ist ein abgelenkter oder kompensierter Selbstzweifel, gedacht für die Entlastung des Selbst. Häufig sieht der Weltzweifel das eigene Selbst als Opfer oder Spielball äußerer Entwicklungen, die scheinbar jeden Zweifel rechtfertigen. Manchmal kommen beide Zweifelsrichtungen nebeneinander vor oder es kommt zu einem Schwanken vom einen zum andern, das dann irgendwann in den Abgründen des Pessimismus und Negativismus endet. 

Der Selbstzweifel ist der gedankliche Vollzug einer tiefersitzenden Angst und Scham, während der Weltzweifel auf eine überindividuelle Ebene abzielt. Er stellt  die Wirklichkeit in Frage und möchte sie mit Scham belegen, erwischt dabei aber auch das Selbst, das ja Teil der Wirklichkeit ist. Er stellt also eine komplexere Abwehrform der Scham dar, die im Selbstzweifel unvermittelter zum Ausdruck kommt. 

Der Zersplitterung entkommen

Der Zweifel fragmentiert, zerteilt also, was an sich ganz ist. Deshalb zerstört er die ganzheitliche Weltsicht und zerstückelt die Selbstbeziehung. Gerade dort liegen die Auswege aus dem Gefängnis des Zweifels: Die Rückkehr aus dem vergifteten Denken in die direkte Erfahrung dessen, was gerade ist. Was ist, ist da, gleich ob wir daran zweifeln oder nicht. Die Erfahrung ist uns in jedem Moment zugänglich, indem wir z.B. unsere Atmung wahrnehmen oder unsere Aufmerksamkeit auf einen anderen Bereich unseres Körpers richten. Erfahrungen sind immer, innerhalb ihrer Grenzen, ganz, unzerteilt. Wir können nur ganze Katzen oder Bäume sehen, und selbst wenn wir uns auf Teile fokussieren, wie die Augen der Katze oder das Blatt eines Baumes, erkennen wir wiederum diese Teile als Ganzheit.

Die direkte, unmittelbare Wirklichkeitserfahrung ist also die einfachste Kur gegen den Zweifel. Sie kann im Wahrnehmen bestehen, nach innen oder nach außen, oder im fließenden Bewegen, Tanzen und Singen. All das sind einfache körperliche Formen der Selbstvergewisserung und der Verankerung in der Gegenwart, die es braucht, wenn wir aus den Schlingen des Denkens und der damit verbundenen belastenden Gefühlsketten aussteigen wollen. 

Zum Weiterlesen:

Der notorische Selbstzweifel
Vom Sinn und Unsinn des Zweifelns
Der Zweifel als Prüfstein für das Ego


Sonntag, 24. Januar 2021

Der notorische Selbstzweifel

Ich kriege nie einen guten Job, die richtige Freundin, genug Geld. Ich werde es nie schaffen, zufrieden zu sein oder gar glücklich. Ich schneide immer schlechter ab als die anderen. So viel ich mich auch bemühe, ich komme nie über einen Durchschnitt hinaus. Nichts kriege ich auf die Reihe.

So oder so ähnlich klingt der Selbstzweifel, der gerne in Form von Loops seine Kreise im Kopf zieht. In therapeutischen Belangen hört es sich z.B. so an, wenn sich Klienten bei der Therapeutin beschweren:

Ich werde dieses Muster nie los, soviel habe ich schon probiert, immer wieder kommt es. Das schaffe ich nie. Alles, was ich da schon ausprobiert habe, hat nicht geholfen. Ich war schon bei so vielen Therapeuten, aber bin nicht weitergekommen. Ich komme immer wieder zum gleichen Punkt, trotz all der Bemühungen es zu verändern.

Der notorische Selbstzweifel

Zweifel ist eine Angst, die sich ins Denken übersetzt hat, wie schon in einem früheren Artikel beschrieben. Bei wiederkehrenden Selbstzweifeln sind es chronische Ängste, die diese Gedankenschleifen befeuern. Sie machen das Zweifeln zur Gewohnheit, damit sie nicht als Ängste gespürt werden müssen, was noch unangenehmer wäre.

In den Zweifeln vor einem und im Verzweifeln am Weiterkommen im Leben spiegeln sich Kindheitserfahrungen, in denen die Ängste entstanden sind, die sich dann später im Zweifeln kognitiv manifestieren. Eltern haben ihre Zweifel an der Entwicklung ihrer Kinder, vor allem, wenn sie nicht ihren Vorstellungen und Erwartungen gemäß verläuft. Damit bleiben sie den Kindern die emotionale Unterstützung schuldig, das Vertrauen, das die Kindern brauchen, um die eigenen Fähigkeiten und Kräfte zu entwickeln. Die Eltern investieren vielleicht viel in Förderung, Zusatzbildung oder Nachhilfe bei ihren Kindern, wenn aber die emotionale Sicherheit fehlt, wird es für ein Kind viel schwieriger, sich zu behaupten und zu entwickeln. Das wiederum führt zur Verstärkung des Zweifels und des Erwartungsdrucks seitens der Eltern.

Solche Themen bilden häufig den Hintergrund von Konflikten, die dann in der Pubertät kulminieren, der Zeit, in der die Jugendlichen ihren Lebensweg selbst in die Hand nehmen wollen. Die Eltern stützen sich auf ihre längere und umfangreichere Lebenserfahrungen, während die Jugendlichen den Eindruck haben, die Alten haben keine Ahnung von der Welt, in der sie leben und auf die sie sich vorbereiten. In diesen Konflikten mischen frühe Prägungen mit, sowohl solche, die die Eltern aus ihrer Kindheit mitgebracht haben, als auch solche, die die Jugendlichen im früheren Alter erlebt haben. Es ist ein gesundes Zeichen, wenn die Jugendlichen in diesem Alter das Eigenrecht auf ihre Entwicklung zurückfordern, Erwartungen, die für sie nicht passen, zurückweisen und den Zweifeln der Eltern keine Gefolgschaft leisten.

Zweifel und Verzweiflung

Verzweiflung tritt auf, wenn der Zweifel nichts mehr fruchtet. Vermutlich kommen alle Eltern zeitweise an solche Punkte mit ihren Kindern: Mein Kind wird nie durchschlafen, reden, sauber werden usw. Sie vergleichen vielleicht mit anderen Kindern in der Bekanntschaft und Verwandtschaft und fürchten, dass das eigene Kind in einem Bereich zurückbleibt und damit eine schlechte Basis für das weitere Leben hat. Solche Zweifel sollten die Eltern für sich behalten und nicht den Kindern vorwerfen. Sie sollten darauf achten, dass sich das Zweifeln nicht in den Vordergrund spielt, sondern dass sie es als Symptom von Überlastung und Erschöpfung verstehen. Stärker muss immer das Vertrauen sein, dass sich alles gut und in seiner Zeit entwickeln wird. Dann wird dem Kind ein Vertrauen vermittelt, das es als Basis für das Weitergehen übernehmen kann.

Wenn die Zweifel allerdings notorisch auftreten und immer wieder mit Verzweiflung angeheizt werden, wenn also massivere Ängste von Seiten der Eltern mitwirken, können sie im Kind als gewohnheitsmäßige Selbstzweifel unbewusst abgespeichert werden. Eltern, bei denen der Zweifel am Wachsen ihrer Kinder das Vertrauen überwiegt, bringen meist ein Misstrauen aus der eigenen Geschichte mit: Ein Misstrauen, das sie sich selber gegenüber aufbringen und das ebenso auf die Kinder gerichtet ist. Sie hatten Eltern, die wenig Vertrauen in sich selbst als Eltern und in das Aufwachsen ihrer Sprösslinge hatten.

In der Folge tritt im Leben der Kinder oft ein Schwanken zwischen Vertrauen und Zweifeln auf, wobei die Zweifel phasenweise selbstquälerische Ausmaße annehmen können, oft in Zusammenhang mit äußeren Krisen oder Misserfolgen. In extremeren Situationen kippt dann leicht der Zweifel in die Verzweiflung und bewirkt unter Umständen Verzweiflungshandlungen oder Verzweiflungsunterlassungen.

Mangel an Geduld

„Wo Geduld und Demut ist, da ist weder Zorn noch Aufregung.“ (Franz von Assisi)

Zweifel werden häufig von Ungeduld angetrieben. Was sich nicht gleich und sofort im gewünschten Sinn verändert, schürt Zweifel an den eigenen Fähigkeiten. Statt an deren Verbesserung zu arbeiten, wählt der Zweifel die Selbstgeißelung, die Selbstbestrafung mittels Selbstabwertung. 

Geduld ist nicht jedermanns Sache, hört man oft. Ist es so, dass die einen mehr davon haben als die anderen? Gibt es also die Geduldigen oder die Ungeduldigen? Wir sind ungeduldig, wenn wir unter Anspannung stehen, wenn wir dringend etwas erledigen müssen, wenn wir unter Druck stehen. Wir glauben, etwas Wichtiges zu versäumen, und schon werden wir ungeduldig. Sobald der Druck abfällt, ist die Ungeduld weg. In der Ungeduld bildet sich die Unzufriedenheit der Eltern mit dem eigenen Werden ab, in der Geduld das Mitgefühl mit sich selbst und mit dem eigenen Entwicklungstempo.

Geduld ist also geprägt von der Abwesenheit von Stress, getragen von Vertrauen und Zuversicht: Alles kommt und geschieht, wenn die Zeit reif ist. Selbstzweifel dagegen entstehen aus Druck und Unruhe und erzeugen wiederum Stress. Geduld streckt die Zeit in die Länge, Zweifel ziehen sie zusammen. Geduld ist langatmig, Zweifeln verleitet zur Kurzatmigkeit.

Selbstzweifel enthalten Lernchancen

Manchmal gelingt es, Selbstzweifel in Veränderungspläne umzumünzen. Das ist der kreative Ausweg aus der Qual des Zweifelns: Nachzuschauen, worauf der Selbstzweifel zielt und sich zu fragen: Was kann ich wie in meinem Leben verbessern, damit ich mit mir zufrieden sein kann? Die Zweifel werden dann zu Orientierungspfeilen, die die Richtung für Lebensveränderungen anzeigen und verlieren ihre krampfhaften und selbstquälerischen Aspekte.

Leben mit Schwächen und Einschränkungen

Was wir uns darüber hinaus immer wieder klarmachen sollten, wenn uns Selbstzweifel beschäftigen: Wir haben nur dieses eine Leben mit seinen vielfältigen Beschränkungen zur Verfügung. Es ist ein Geschenk, das wir ohne jeden Verdienst empfangen haben. Warum sollten wir daran zweifeln? Es sind unsere beschränkten Vorstellungen, die uns vor uns selbst als ungenügend erscheinen lassen. Was wissen wir schon, wie ein „richtiges“ Leben sein soll? Welche Maßstäbe setzen wir uns vor, und von wem stammen sie? Wieso sollten sie für uns gelten? Die Erforschung dieser Fragen geben uns Aufschluss über die Wege aus den selbstschädigenden Gewohnheiten des Selbstzweifelns.

Selbstzweifel gelten nicht nur dem ungenügenden, mangelhaften und scheiternden Selbst, sondern darüber hinaus noch dem Größeren, der Welt. Wir alle sind eine Hervorbringung dieser Welt, entstanden aus dem Füllhorn des Lebens, das sich entfaltet und entwickelt. Das Leben glaubt an uns mit einem bedingungslosen Ja, das uns von Moment zu Moment leben lässt. Stimmen wir uns darauf ein, so sind alle Zweifel weggeblasen.

Wenn wir dagegen an uns zweifeln, zweifeln wir auch an dieser schöpferischen Kraft, der wir alles verdanken und die uns mitsamt unseren Grenzen hervorgebracht hat. Es ist eine Kraft, die weit über unser Begreifen hinausgeht und von unserem Zweifeln nicht erfasst wird. Es ist nur unser begrenztes Begreifen, an dem wir scheitern, wenn wir zweifeln. 

Wie oft müssen wir die Erfahrung machen, dass die Lösung unserer Probleme immer wieder geduldig hinter der Ecke auf uns wartet, während wir lieber in unseren fragenden und irritierten Gedanken kreisen, als den Schritt um die Ecke zu riskieren? Wie viele Möglichkeiten zur Befreiung haben wir schon übersehen, weil wir so in uns selber verfangen waren?

Bescheidenheit und Demut sind Haltungen, mit denen wir unser Sein mit seinen Stärken und Schwächen, mit seinen entwickelten und zurückgebliebenen Seiten, mit seinen Fähigkeiten und Begrenzungen umfangen und gutheißen. Sie führen uns aus dem Selbstzweifel heraus, der nie ganz frei von Anmaßung und Besserwisserei ist. Unsere Grenzen bringen uns nicht in die Mittelmäßigkeit und Durchschnittlichkeit, sondern weisen uns auf unseres inneres Zentrum hin, auf das Zentrum unserer einzigartigen Individualität. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, finden wir zum Frieden mit uns selbst.

Zum Weiterlesen:
Vom Sinn und Unsinn des Zweifelns
Der Zweifel als Prüfstein für das Ego
Selbstzweifel und Scham

 

Samstag, 16. Januar 2021

Ungewissheit als Chance

Die Ungewissheit ist zu einem zentralen Teil unserer Wirklichkeitserfahrung geworden. Abläufe und Planungen, die früher leicht berechenbar und erwartbar waren, sind es jetzt nicht mehr. Wir wissen nicht, wie sich die Pandemie weiterentwickeln wird und welche Maßnahmen die Regierungen ergreifen werden. Was Zeitungen am einen Tag schreiben, kann am nächsten Tag schon überholt sein, und am übernächsten Tag kann wieder ganz anderes gelten.

Doch ist die Ungewissheit keine Erfindung unserer Zeit, sondern eine Grundkonstante unseres Daseins, die wir nur durch den hohen Grad an Sicherheit, der im Zug der Modernisierung in unseren Gesellschaften entstanden ist, überdeckt haben. Es ist also diese umfassende Absicherung, die uns selbstverständlich geworden ist und die bewirkt, dass wir so besonders an der Unsicherheit leiden und uns über Störungen aufregen und sie sogar, je nach Temperament, als Frechheit und Zumutung empfinden.

Tatsächlich gibt es im Leben keinerlei absolute Sicherheit und Gewissheit über die Zukunft. Wie es oft heißt, kann uns im nächsten Moment ein Dachziegel oder eine Kokosnuss auf den Kopf fallen, und es ist vorbei mit uns. Weil wir in hochfunktionalen Zusammenhängen leben, fällt die Zufälligkeit der Sicherheit nur auf, wenn ein System plötzlich zusammenbricht: Es gibt auf einmal keinen Strom mehr, ein Zug ist einfach ausgefallen, die U-Bahn bleibt mitten auf der Strecke stehen, das Handynetz hat ausgesetzt, und wir wissen nicht, wann die Störung behoben sein wird. Davon abgesehen, haben wir selbst bei diesen Fällen die Überzeugung, dass die Störung schnell behoben wird.

Das Leiden an der Unsicherheit hat seine Wurzeln in unseren frühen Erfahrungen. Kaum jemand wird in völlig sichere Umstände hineingeboren. Es gibt wohl nur selten Eltern, die ihre Kinder in völliger Gelassenheit und Gewissheit empfangen. Erschwerend können alle möglichen Umstände mitwirken: Ungewollte Schwangerschaft, gesundheitliche oder soziale Probleme während der Schwangerschaft, Spannungen und Konflikte zwischen Vater und Mutter oder mit den Großeltern usw.

Je schwerer die Belastungen aus dem Aufwachsen in einem unsicheren Feld sind, desto stärker ist die eigene Lebensunsicherheit ausgeprägt. Sie wird dann viel leichter durch Ungewissheiten und Unvorhersehbarkeiten in der Umwelt ausgehebelt und zeigt sich in Ängsten, die dann schnell irrationale Züge und Ausmaße annehmen. 

Die Unsicherheiten im Umfeld des eigenen Aufwachsens bilden sich in einem inneren Modell von der Welt ab: Ein Modell voll von Unvorhersehbarkeiten und Bedrohungen. Als Folge werden viele Handlungen und Lebenspläne vom Bestreben getrieben, mehr Sicherheit zu schaffen. Weil aber die Sicherheit, die wir um uns aufbauen können, immer nur relativ ist, bleibt das Unsicherheitsgefühl bestehen und spornt zu mehr Anstrengung an, das Sicherheitsnetz um einen herum noch mehr zu verdichten, ohne das Sicherheitsbestreben jemals zu beruhigen. Vielmehr geht die Aufmerksamkeit dorthin und bleibt dort, wo sich mögliche Bedrohungen zeigen könnten.

In der Folge passiert es häufig, dass irrationale Sicherheits- und Heilsangeboten blindlings angenommen werden. Es verursacht mehr Mühen, sich selber zu orientieren, als wenn ein Paket der Welterklärung von einer smarten Person mit nettem Lächeln und großen Augen angeboten wird. Da die innere Verunsicherung so stark verbreitet ist, braucht es nicht zu wundern, dass so viele Menschen Verlockungen auf den Leim gehen, bei denen eine einfache Verursachung der Unsicherheiten propagiert wird. Sie glauben, dass die – meist personifizierte – Gefahr erfolgreich bekämpft werden kann, wenn sie eindeutig benannt und angeprangert wird. Sie suchen ideale Elternfiguren, die die Welt simpel und klar erklären, Gut und Böse ohne jeden Zweifel auseinander sortieren und die Richtung für das Handeln im Brustton der Überzeugung vorgeben. So hätten sie es als Kinder gebraucht, aber jetzt endlich gibt es jemanden, der all die ersehnten Qualitäten aufweist und dem man nachfolgen kann. Aufgrund dieser Verwechslung fällt es vielen Leuten leicht, ihren Erwachsenenverstand auszuschalten und naiv vertrauensselig allen möglichen Heilsbringern oder Welterklärern nachzulaufen, ohne das eigene Denken und Faktensuchen anstrengen zu müssen.

Die Erosion der Sinnfindung

Auf der soziologischen Ebene wirkt sich die um sich greifende Verunsicherung als Erosion der Bedeutungsgebung aus und mündet in ein Durcheinander der Sinnfindung. Hanzi Freinacht hat dazu in einem Facebookartikel eine Analyse vorgelegt. 

Es gibt nach seiner Ansicht zwei wichtige Faktoren in dieser Entwicklung: Der eine Faktor besteht im Machtverlust des früher allumfassenden und allmächtigen Staates (“Containerstaat") als Folge der Globalisierung. In der Zeit vor dem Internet konnte der Containerstaat mit seinem riesigen Apparat aus Bildung, Medien und öffentlicher Kommunikation die Menschen in die Entwicklungsstufe der "Moderne" hinein motivieren und unterstützen. Wenn dieses System und seine Narrative aber jetzt schwächeln, fangen die Menschen an, zu regredieren. Sie orientieren sich an ihrer vertrautesten Stufe der Bewusstseinsentwicklung, also danach, was ihnen am meisten Sicherheit verspricht. Freinacht konstatiert dementsprechend die Aufteilung (oder den Zerfall?) der Gesellschaft in verschiedene Kreise, die ich hier mit den Begriffen aus meinem eigenen Modell der Bewusstseinsevolution bezeichne: tribal zentrierte Menschen (z.B. die Flacherdler und Menschen, die glauben, dass bei einer Impfung Chips eingepflanzt werden), emanzipatorische (z.B. die Führerfiguren und ihre Anhänger), hierarchische (die Unterordnenden und Gutgläubigen), materialistische (die Zyniker und Selbstoptimierer), personalistische (die Individualisierer) und systemische (die Allparteilichen). Alle finden sich in ihren Gruppen zusammen und zelebrieren die eigenen Stärken und ignorieren und projizieren die eigenen Schwächen. Die Neigung zur Selbstüberschätzung und Verachtung der Andersdenkenden nimmt dabei mit dem Fortschritt in der Bewusstseinsevolution ab,  d.h. auf der systemischen Stufe sind die meisten irrationalen Ängste aufgelöst und die kognitiven und sozialen Kompetenzen können sich am freiesten entfalten.

Allerdings ist das Gewicht dieser Stufe viel zu gering, um die Machtansprüche, die aus den anderen Stufen ins Zentrum drängen, zu neutralisieren. Die Konkurrenz um dieses Zentrum der Sinn- und Bedeutungsgebung wird immer vielschichtiger, denn es geht schon lange nicht mehr einfach um einen Streit zwischen zwei opponierenden Blöcken gekennzeichnet, wie Neoliberale und Sozialisten oder Verschwörungstheoretiker und Wissenschaftler. Vielmehr stecken wir nach Freinacht in einem “sechsseitigen komplexen Werte-Meme-Krieg".

Der zweite Faktor hat mit der Informationsarchitektur des Webs und der sozialen Medien zu tun: In vielen Bereichen geben ausgeklügelte Manipulationsapparate den Ton an, betrieben von gewinnmaximierenden Geschäftemachern. Schlimm daran ist nicht, dass Waren und Dienstleistungen verkauft werden, sondern dass genauso gefinkelt Meinungen und Überzeugungen gelenkt und gesteuert werden. Wir werden z.B. auf Facebook darauf konditioniert, Informationen, die mit unserem eigenen Wertesystem gemäß unserer Lieblingsbewusstseinsstufe übereinstimmen, besonders zu genießen und solche, die ihm nicht entsprechen, mit Frustration und Widerwillen abzulehnen. Die Folge ist, dass wir uns zunehmend in voneinander unabhängigen Clustern aufhalten, in denen wir in unseren Vorlieben und Abneigungen bestätigt werden. Freinacht: “Wir leben in einem Paradox der ‚Superconnected Disconnectedness‘.”

Abwärtslaufende Spiralen

Soweit die Gedanken von Freinacht. Erschwerend zu diesen Abläufen kommt dazu, dass sie die Unsicherheit in Großen vermehren, indem sie die Gewissheit im Kleinen nähren: Ich bin mit Gleichgesinnten einer Ansicht und wir werden etwas bewirken – in einer völlig unsicheren Welt. Viele regredieren in ihre Subsysteme, in denen die äußeren Gefahren aufgeblasen werden, was die inneren Ängste vermehrt. 

Wir haben es also mit selbstverstärkenden Dynamiken zu tun: Im Inneren verunsicherte Menschen reagieren übermäßig und irreal auf äußere unsichere und unkontrollierbare Situationen. Sie treffen mit ihren Ängsten auf gesellschaftliche Gruppierungen, die ähnlich gepolt sind. Diese wiederum aktivieren ihre sozialen Umgebungen mit einer gesteigerten Aufgeregtheit, die daraufhin die verunsicherten Personen weiter verunsichern. Pseudoerklärungen und irreale Fantasieproduktionen heizen diese Kreisläufe zusätzlich an und führen zu weiterer Destabilisierung, die ihrerseits die Verunsicherung steigert. 

Es entstehen fatale Kreisläufe: Die aus der Kindheit mitgenommenen Unsicherheiten werden durch äußere Ungewissheiten aufgeladen und verstärkt. Wenn die Angst wächst, ziehen sich die Menschen auf ältere Wachstumsphasen zurück, weil dort verlässlichere Überlebensgewohnheiten aufgebaut wurden und suchen auf dieser Ebene nach Kumpanen. Die Regression geht mit einem Realitätsverlust einher, der wiederum zum Ansteigen der Angst beiträgt. Denn ohne – oft mühsame – Realitätsprüfung (Faktencheck) können wir die Ängste nicht bewältigen. 

Der zweite Kreislauf bewegt sich zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Je ängstlicher die Menschen sind, desto undifferenzierter ist die Gemeinschaft, zu der sie sich hingezogen fühlen. Sie regredieren dadurch noch mehr und weiten zusätzlich die gesellschaftlichen Wertegruppen aus, die mit unreifen Mitteln komplexe Probleme lösen wollen, wie Mechaniker, die feine Schrauben mit massiven Schraubenziehern anziehen wollen. Das Grobe ruiniert das Feine, umgekehrt geht das nicht. Individuelle Regressionen, die sich in Gruppen wechselseitig verstärken, bewirken gesellschaftliche Regression, die wiederum mehr Menschen zur individuellen Regression verleiten.

Faschismus als Alternative?

Was in den westlichen Demokratien seit dem Ende der faschistischen Diktaturen nicht mehr vorstellbar war, ist plötzlich zur Alternative für die demokratische Willensbildung geworden: Parlamente zu stürmen, um auf diese Weise die eigene Meinung gewalttätig durchzusetzen. Nicht mehr bessere Argumente, sondern bessere Schläger sollen die gesellschaftliche Entwicklung bestimmen.

Die beschriebenen Kreisläufe führen in die Gegenrichtung zur Bewusstseinsevolution. Sie setzen also Abwärtsspiralen in Gang. Solche Entwicklungen hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, sie sind z.B. vor ziemlich genau 100 Jahren mit der Entstehung der faschistischen Bewegungen aufgetreten und haben in der Folge zu einem Weltkrieg geführt. Heute genügt ein Virus, um solche kollektiven Regressionen zu befeuern.

Die gegenläufige Dynamik

Wo Abwärtsspiralen florieren, entstehen Aufwärtsspiralen und setzen sich langfristig durch. Diese Dynamik hat bewirkt, dass im Zug der Kulturgeschichte der Fortschritt immer wieder den Rückschritt übertroffen hat. Jeder gesellschaftliche Rückschritt ruft Kräfte auf den Plan, die ihn bekämpfen. So hat der Niedergang des Parlamentarismus durch die faschistische Gewalt zu wesentlichen Weiterentwicklungen und Verbesserungen dieses Systems nach dem 2. Weltkrieg geführt. Das Herunterfahren des Sozialstaates in der gleichen Phase führte zu einem massiven Ausbau in der Nachkriegszeit usw.

Was wir aus der gegenwärtigen Krisensituation lernen werden, wissen wir noch nicht. Viele Chancen liegen darin, z.B. die Wirtschaft, die in vielen Bereichen leidet, auf einer ökologischen Basis neu aufzustellen, das Steuersystem entsprechend umzugestalten und die Sozialmaßnahmen, die jetzt gesetzt werden müssen, im Sinn eines Grundeinkommens zu institutionalisieren.

Wir können die neuen Formen der Einfachheit im Alltagsleben und in der Urlaubsgestaltung, die uns jetzt aufgezwungen werden, mehr schätzen und unsere Konsumgewohnheiten ändern. Wir können aufgrund der Restriktionen bei persönlichen Kontakten erkennen, wie wichtig uns andere Menschen sind und in unserem Leben deshalb andere Gewichtungen vornehmen. Es gibt viele Möglichkeiten, diese Krise zu nutzen, um in unserem individuellen und sozialen Lebensbewusstsein weiter zu kommen, es liegt an uns, an solchen Aufwärtsspiralen mitzutun und mitzugestalten.

Wenn wir uns darauf konzentrieren, statt die Angstspiralen zu nähren, lernen wir, wie wir unsere Unsicherheiten und Ungewissheiten produktiv nutzen können: Als Quellen für Kreativität und Ideenfindung, als Motivator für ein optimistisches Weitergehen  und als Momente zur Innenbesinnung.

Zum Weiterlesen:

Von der Ungewissheit zur Mystik
Mit Unvorhersehbarkeiten leben


Dienstag, 12. Januar 2021

Viele Wege, ein Ziel

Wir alle sind am Weg, auf ein Ziel hin. Die Wege sind unterschiedlich, das Ziel ist das gleiche, oder: Viele Wege, ein Ziel. Soviele Menschen, soviele Wege. Wo aber Menschen sind, gibt es nur ein Ziel. Und weil wir unterschiedliche Wege gehen, erscheint das Ziel unterschiedlich. Das hängt damit zusammen, dass wir das Ziel noch nicht kennen, wenn wir am Weg sind.

Wir haben allerdings eine Ahnung vom Ziel, die sich mit jeder Erfahrung, die sich wie das Ziel anfühlt, bestätigt. Es gibt Momente, in denen alles gut so ist, wie es ist, in denen alles so stimmt, wie es ist. In diesen Momenten sind wir angekommen, an einem Ort, von dem aus es keine Weiterreise braucht. Es ist schon alles da, was wir gesucht haben. Also bleiben wir. “Augenblick, verweile, du bist so schön.”

Ein Name für das Ziel ist das Glück. Es tritt ein, wenn das Wahre und das Gute übereinstimmen. Darin zeigt sich zugleich das Schöne. Es ist die Wirklichkeit der Vollkommenheit. Ich und Welt befinden sich auf gemeinsamer Wellenlänge, in einer gemeinsamen Schwingung, sie sind miteinander im Einklang.

Jeder hat seine eigenen Vorstellungen und Ideen und sein eigenes Erleben vom Glück. Und uns allen ist gleich, dass wir zum Glück streben. Darum verstehen wir, was gemeint ist, wenn jemand vom Glück redet, obwohl wir vielleicht andere Bilder davon haben. Wenn wir im Glück sind, sind wir auch mit und für die anderen glücklich. 

Ein Kennzeichen dieses Zustandes ist auch, dass das Gemeinsame wichtiger ist als das Unterschiedliche. Deshalb ist das Ziel des Weges ein allgemeingültiges, überindividuelles, menschliches. Deshalb können wir von dem einen Ziel sprechen, dem wir alle näher kommen wollen.

Worüber die Menschen gerne streiten, sind die Wege: Meiner ist besser als deiner. Oder: Meiner ist sicher, deiner ist gefährlich. Meiner ist intelligent und deiner dumm. Usw. Viele wollen alle andere auf ihren Heilsweg bringen, damit sie mehr Bestätigung für den eigenen Weg gewinnen und die eigene Unsicherheit darüber vermindern. Aber dieses Bestreben bringt sie dem Ziel nicht näher. Denn der Respekt für die Individualität jeden Weges ist eine wichtige Stuft auf dem Weg.

Der Wert der Innenarbeit

Die therapeutische Arbeit besteht darin, das, was aus der Form geraten ist, was die Übereinstimmung von wahr und gut verloren hat, zu einer neuen Form zu führen, in der die Übereinstimmung wiederhergestellt ist. Wo Chaos war, tritt Ordnung ein – Ordnung nicht als starre und unveränderbare Struktur, sondern als eine lebendige und kreative Anordnung der Elemente, die ihnen allen den größtmöglichen Freiheits- und Spielraum gewährt. Alle Teile sind an ihrem Platz und interagieren mit den anderen Teilen mit maximaler und optimaler Wirksamkeit.

Diese Elemente sind z.B. in unserem inneren System unsere Gefühle, Gedanken und Ideen. In den zwischenmenschlichen Systemen entstehen Beziehungen mit bescheidenen Egos, zurückgenommenen Erwartungen und heruntergefahrenem Druck, getragen von wechselseitigem Verständnis, Offenherzigkeit, Wärme und Wertschätzung. Sie bilden den Vorgeschmack auf das Ziel. 

Jeder Schritt der inneren Heilung hilft weiter auf dem Weg und lässt mehr von dem geteilten Ziel ins Bewusstsein treten und im Alltag und in den personalen Kontakten auftreten. Jeder Schritt motiviert zu weiteren Schritten, und so beschleunigt sich die Reise durch das gezielte Arbeiten an den Hindernissen und Blockaden.

Arbeit und Muße

Das Ziel ist mit Leichtigkeit verbunden, mit Entspannung. Solange die Vorstellung vom Guten und Wahren, das Ziel mit Druck und Anspannung verbunden ist, stellt sie nur eine Projektion von Ängsten dar. Zwar braucht es Disziplin und Konzentration, um über die Gewohnheitsmuster hinauszuwachsen, aber es ist zugleich wichtig, immer wieder die richtige Balance zwischen Arbeit und Geschehenlassen zu finden und die Grenze zwischen Beharrlichkeit und Verbissenheit zu bewahren. Die Muße des Genießens als Teil des Weges zu erschließen, ist eine ebenso wichtige Aufgabe wie die Entschlossenheit im Weitergehen, auch dort, wo es mühsam ist.

Das gemeinsame Gute

Die Besinnung darauf, dass wir alle unterwegs sind – ob bewusst, unbewusst oder halbbewusst – und dass wir alle auf ein gemeinsames Ziel zusteuern, sollte uns motivieren, die eigenen Wege zu bestärken und die der anderen zu achten und das Gemeinsame über das Trennende auch in diesem Feld zu stellen. Wir wollen als Menschen alle zu mehr innerer Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, zu liebevollen Beziehungen und herzlichen Begegnungen. Und wir wollen und können all das nur in einer heilen Umwelt verwirklichen, d.h. jedes Wollen des gemeinsamen Guten und Wahren beinhaltet immer auch das Wollen einer sicheren und gesunden Natur.



Sonntag, 3. Januar 2021

Der Friede ist ein Grundbedürfnis

Dieser Tage haben wir uns gegenseitig oft alles Gute gewunschen. Jeder versteht offensichtlich etwas anderes darunter, aber gibt es vielleicht ein gemeinsames Gutes, das alle Menschen teilen?

Beim Schlussbild von Aufstellungen (Themen- oder Familienaufstellungen), bei gelungenen therapeutischen oder freundschaftlichen Gesprächen und bei anderen Formen von erfolgreichen Veränderungsprozessen im inneren und zwischenmenschlichen Bereich zeigt sich ein eigentümliches Phänomen: Es tritt eine Erleichterung und ein Gefühl von Stimmigkeit ein – so ist es richtig, so soll es sein. Es ist, als ob eine helle Wesenheit in den Raum getreten wäre, die die ganze Atmosphäre in ein neues Licht taucht, das sich gut und wahr anfühlt. Alle, die im Raum sind, teilen diese Empfindung und fühlen sich erleichtert.

Eine Parallele finden wir auf der gesellschaftlichen Ebene, wenn wir auf die allgemeinen Menschenrechte schauen, die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und bei der französischen Revolution proklamiert und von der UNO für die Menschheit 1949 beschlossen wurden. Es sind Rechte, die allen Menschen zugesprochen und zugebilligt werden, die ihnen also für ihr Menschsein, unbesehen von irgendwelchen anderen Merkmalen oder Leistungen, zukommen. Auch hier können wir nicht anders, als einfach einmal zuzustimmen: Ja, alle Menschen sind gleich, alle Menschen sind frei. Vielleicht haben wir da und dort Vorbehalte und Zweifel, die Details anbetreffen, aber die grundlegenden Gedanken können wir nicht ableugnen.

Gibt es also etwas, worauf sich alle Menschen einigen können, weil sie erkennen, dass das, und genau das, das Menschliche ist? Gibt es also etwas, das wir uns als Menschen teilen und das wir alle für gut und wahr halten? Gibt es etwas, woran wir nicht zweifeln und das uns intuitiv von seiner Richtigkeit überzeugt?

Bio-psychologische Gemeinsamkeiten

Was uns als Menschen verbindet, ist die gemeinsame Erbinformation, die zur Ausbildung von bio-psychischen Grundstrukturen führt, aus denen bestimmte Grundbedürfnisse hervorgehen (Ernährung, Aufmerksamkeit, Zugehörigkeit, Wertschätzung …). Diese Bedürfnisstruktur ist kulturell invariant, es gibt sie also überall in der Menschenwelt. Die Achtung und Förderung dieser Bedürfnisse vor allem in der Kindheit und in der Ausbildung führt dazu, dass sich Menschen in guter Weise entwickeln können und zu guten Menschen werden. Die Missachtung oder Vernachlässigung dieser Bedürfnisse hat Störungen und Fehlanpassungen zur Folge, sodass Menschen dadurch in ihrer Menschlichkeit geschädigt werden und in der Folge zu asozialem Verhalten tendieren.

Ordnungsprinzipien der Gemeinschaft

Über die Grundbedürfnisse hinaus und in enger Verbindung zu ihnen gibt es weiters Grundstrukturen in der sozialen Verfasstheit menschlicher Gemeinschaften. Menschen sind von ihren Anfängen an Gemeinschaftswesen, die nur in und mit Bezugsgruppen überlebensfähig sind. Werden die Grundprinzipien des Zusammenlebens respektiert und bestärkt, so entwickeln sich tragfähige und flexible Gemeinschaften mit einem fließenden Gleichgewicht zwischen Autonomie und Gruppenloyalität. Werden diese Grundlagen missachtet, so entstehen dysfunktionale Gruppen, meist mit hohem Aggressionspotenzial oder mit depressiven Einstellungen.

Solche Grundstrukturen sind u.a. die Reihung der Generationen (die Älteren unterstützen die Jüngeren, damit die Jüngeren ein neues Leben aufbauen), die Gleichordnung der Geschlechter (Mann und Frau sind als Menschen gleichviel wert und geben ergänzend Unterschiedliches in die Gemeinsamkeit ein) und die Ebenbürtigkeit von Geschwistern (trotz der altersgemäßen Ordnung). Bert Hellinger, den ich als bedeutenden Erforscher dieser Strukturen schätze, hat von den „Ordnungen der Liebe“ gesprochen. Damit ist gemeint, dass die Liebe, die so etwas wie ein universales Lebensmittel in allen menschlichen Belangen darstellt, nur im Rahmen einer richtigen, also den Grundlagen menschlichen Zusammenlebens entsprechenden Ordnung wirken kann.

Die Soziologen argwöhnen gerne, wenn solche Grundstrukturen (anthropologische Konstanten) vertreten werden, dass damit Herrschaftsstrukturen, die sich geschichtlich entwickelt haben, als „naturnotwendig“ gerechtfertigt werden sollen. Diese kritische Haltung ist wichtig, und die Unterschiede der Ebenen sollten nicht vermischt werden. Allerdings leuchtet auch ein, dass der Mensch nicht ein durch und durch von der Menschheitsgeschichte erzeugtes Produkt sein kann. Sonst hätten die unterschiedlichen Kulturentwicklungen auch unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnisstrukturen hervorgebracht. Vielmehr wirken die anthropologischen Grundstrukturen auf die Geschichte und Kulturentwicklung ein und bilden auch deren Grundlage. Verwegen behauptet, kommt die Psychologie historisch und auch logisch vor der Geschichte.

Gewalt und Friede

Nehmen wir als Beispiel für eine menschliche Grundverfasstheit das Streben nach Frieden. Ich verstehe hier vereinfacht Friede als Abwesenheit von Gewalt. Unter Gewalt verstehe ich die Durchsetzung eigener Interessen mittels überlegener Macht ohne Rücksicht auf Schwächere. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, dass sich der überwiegende Großteil der Menschen Frieden wünscht, vor allem jene, die unter alltäglicher Gewalt zu leiden haben. Aber auch wir in unseren weitgehend abgesicherten Breiten wünschen uns ganz dringlich die Erhaltung und Vertiefung des Friedens und sicher nicht ein Anwachsen von Gewalt. Und selbst die Mächtigen, die

Ist es also ein Grundanliegen der Menschen, ihr Zusammenleben friedlich zu gestalten, oder ist der Friede nur eine begrenzte Phase zwischen Kriegen, die notwendig sind, um die Angelegenheiten der Menschen zu regeln? Die Geschichte scheint der letzteren Auffassung recht zu geben. Kriege hat es möglicherweise zu allen Zeiten gegeben, und die Zukunftsaussichten sind nicht gerade rosig, wenn wir die gegenwärtige Situation betrachten. Zwar hat es nach den überraschenden Befunden der Wissenschaft im Lauf der Menschheitsgeschichte einen signifikanten Rückgang von Gewalttaten gegeben (vgl. Steven Pinker, Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit. Fischer 2013), aber das Leiden, das durch Gewalt auf der Welt herbeigeführt wird, ist noch immer viel zu hoch.

Der Maßstab der Menschlichkeit

Viel zu hoch nach welchem Maßstab? Nach dem Maßstab der Menschlichkeit, der besagt, dass Gewalt in jeder Form der Menschlichkeit widerspricht. Gewalt ist allerhöchstens eine Notfallreaktion, zu der Menschen fähig sind und die auch zur Grundausstattung dazugehört. Teil der Grundstruktur ist aber auch die Kompetenz, Gewalt zu kontrollieren und zu reduzieren, und eine wichtige Aufgabe der Kulturentwicklung liegt darin, die Gewaltursachen (im wesentlichen Ungleichheit und Ungerechtigkeit, also Widersprüche gegen die allgemeinen Menschenrechte) zu beseitigen. Der Imperativ, Gewalt einzudämmen, stammt aus dem Grundrepertoire des Menschlichen, und das Gefühl der Scham, das jede Gewaltausübung unweigerlich begleitet, um auf dessen Unmenschlichkeit hinzuweisen, ebenfalls.

Gewalt ist zwar eine der vielen menschlichen Möglichkeiten, und möglicherweise gibt es auf dem Planeten keine andere Spezies, die so grausam sein kann wie die Menschen, aber sie ist für Notfälle vorgesehen und deshalb immer eine Notfallsreaktion. Die eigentliche Aufgabe der Kulturentwicklung liegt darin, die Anlässe für Notfälle so weit zu reduzieren, dass Gewalt nicht mehr angewendet werden muss. Dazu gehört ganz vordringlich die Absicherung der emotionalen Grundlagen für die Entwicklung von Friedfertigkeit in der Kindheit und im Schulsystem.

Gewaltfreie Formen der Konfliktlösung und Kommunikation nehmen den größten Teil des sozialen Raumes ein, weil sie dem Wollen der Menschen und ihren Grundbedürfnissen entsprechen, während ihr Gegenteil, mit Scham behaftet, nicht gewollt ist, sondern aus unbewussten Antrieben heraus immer wieder geschieht. Unserem bewussten Wollen entspricht, dass sie mehr und mehr verschwinden soll. Dazu bedarf es allerdings großer Anstrengungen zur Einsetzung und Durchsetzung der Menschenrechte und des globalen sozialen Ausgleichs.

Eine Hoffnung besteht auch darin, dass mit dem Schwinden der Gewalt und gewaltvoller Kommunikationsformen und Konfliktlösung die Gewalt, die die Menschheit auf die eigenen natürlichen Lebensgrundlagen ausübt, zurückgeht. Je mehr die gegenseitige Achtung, begleitet von einer Ächtung von Gewalt, in zwischenmenschlichen Bereichen von familialen Beziehungen bis in die Weltpolitik Einzug hält, je mehr das Wollen des Guten die Handlungen der Menschen, der mächtigen und der weniger mächtigen, bestimmt, desto mehr Friede tritt ein, zum Wohle aller, selbst der Pflanzen, Tiere und der anderen Naturwesen.

Die Bewegungsrichtung von der Gewalt zum Frieden ist nicht eine, die wir willkürlich wählen müssen und für die wir Entscheidungsgrundlagen und Argumente brauchen. Sie ist das, was wir als Menschen brauchen und deshalb aus tiefstem Grund wollen. Gewalt, wo immer sie auftritt, wollen wir überwinden und zurück zum Frieden kommen. Blauäugig oder naiv sind wir dort, wo wir glauben, dass Appelle an die Menschlichkeit genügen, um den Frieden zu mehren. Wir müssen alles daran setzen, die Quellen von Gewalt trockenzulegen, und das erfordert viel Arbeit und Einsatz. Aber es lohnt sich.

Zum Weiterlesen:

Der Gutmensch und das Gute im Menschen

Das Gute und das Böse

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Der Bösewicht in uns