Sonntag, 16. Juli 2023

Die eigene Geschichte und das Schicksal

Es gibt kein Schicksal in der äußeren Wirklichkeit, sondern nur Abläufe und Geschehnisse. Der Begriff Schicksal entsteht in unserem Denken, er ist ein Konzept des Bewusstseins. Es handelt sich um die Benennung und Bewertung unseres Erlebens in bestimmten Momenten, als Bezeichnung für eine Erfahrung, die etwas Unbegreifliches enthält. Das Schicksal stößt uns zu, gewissermaßen ruckartig und gewaltsam tritt es in unser Leben und nimmt uns voll in Beschlag. In der Rückschau ragen die schicksalhaften Erlebnisse wie mächtige und dunkle Marksteine aus der Umgebung heraus: Nach solchen Vorkommnissen war nichts mehr wie früher, das Leben wurde ein anderes.

Wenn wir an das Schicksal denken, fallen uns sofort äußere Ereignisse ein, die uns stark betroffen haben: Unerwartete Todesfälle, Unfälle, Krankheiten und andere emotional belastende Erfahrungen. Wir erleben sie als von außen kommend, die dann unser Inneres ergreifen und erschüttern. Was hat es nun mit unserem Innenleben auf sich, ist da auch die Macht des Schicksals aktiv?

Unverfügbare Abläufe in unserem Inneren

Wir haben den Eindruck, dass wir unsere innere Situation immer beeinflussen und regulieren können, zum Unterschied von der Außenwelt, auf die wir in nur sehr geringem Maß Einfluss haben. Allerdings ist auch dort vieles vorgegeben, also „Schicksal“. Denn unsere Impulse, Stimmungen und Gedanken werden von Vorgängen erzeugt, die im Organismus und seelisch im Unterbewussten, also ohne unsere bewusste Mitwirkung ablaufen. Wir haben keine Macht darüber, was als Gefühl oder als Gedanke auftaucht. Wir sind ihm ausgeliefert wie einem Schicksalsschlag, obwohl Gefühle und Gedanken in der Regel viel harmloser sind als das, was wir als schicksalhaft beschreiben.

Sobald allerdings etwas in unser Bewusstsein getreten ist, können wir darauf einwirken, indem wir die Kraft unserer Aufmerksamkeit einsetzen. Den Inhalten unseres Bewusstseins, denen wir Aufmerksamkeit geben, verleihen wir mehr Macht als jenen, die wir übergehen oder beiseite stellen. Wir verfügen also über die Fähigkeit, Bewusstseinsinhalten, die uns angenehm und förderlich erscheinen, mehr Bedeutung zu verleihen, als jenen, die uns runterziehen oder in ungewollte Gewohnheiten verstricken. Wir sind nicht Herr (Frau) unseres unmittelbaren Erlebens, sondern der Verarbeitung dieses Erlebens. Unsere Einflussnahme kommt also immer hinten nach, gleichwohl wirkt sie längerfristig darauf ein, was als erstes auftaucht. Denn Bewusstseinsinhalte, die wir durch unsere Aufmerksamkeit pflegen und stärken, melden sich öfter als solche, die wir vernachlässigen oder ignorieren. So können wir mit unseren Gedanken umgehen, und Ähnliches gilt für Gefühle. Wir sind in der Lage, belastenden Gefühlen weniger Bedeutung zuzumessen und befreienden Gefühlen mehr Raum zu geben. Auf diese Weise schwächen wir die einen und fördern die anderen.

Das ist der Weg, auf dem wir die Verantwortung für unser Erleben übernehmen, sprich für die Übersetzung dessen, was uns im Außen begegnet, in unser Inneres. Wir haben keine Zuständigkeit für das, was wir erleben, sind aber dann zuständig für das, was nach der Bewusstwerdung geschieht. Wir können nicht verhindern, dass die Erde zu beben beginnt und dass wir in Panik geraten. Aber wir können beeinflussen, wie wir mit dieser Erfahrung umgehen: Ob wir in der Panik bleiben oder ob wir schnell wieder zur Ruhe finden und das Vernünftige tun.

Verantwortung beruht auf Bewusstheitsschulung

Es gibt noch eine weitere Ebene dieser Zugangsweise. Sie liegt darin begründet: Das Bewusstmachen des Inneren wird erst möglich, wenn jemand beginnt, am eigenen Schicksal und an den Verstrickungen, die die Seele damit macht, zu arbeiten. Menschen mit wenig Bewusstheit ihrer selbst bringen die Aufmerksamkeit nicht auf, die es braucht, das Innenleben zu beeinflussen. Solche Menschen werden oft von Gefühlen überschwemmt und finden schwer wieder heraus. Andere sind von Gedanken dominiert, die auch aufs Gemüt drücken können. Die Annahme dabei ist, dass alles im Inneren geschieht und dass es keine Einflussmöglichkeiten darauf gibt.

Es ist wiederum das Schicksal, das manche auf den Weg der Selbsterforschung bringt und andere nicht. Es ist nicht eigentlich ein Verdienst, eine bewusste Verantwortungsübernahme, die zu diesem Schritt führt, sondern etwas, das sich ergeben hat, vielleicht aus drängender Not oder aus Neugier, vielleicht auf Anraten oder unter Druck, vielleicht durch traumatische Erfahrungen oder durch eine sensible Persönlichkeitsstruktur. Natürlich braucht es eine freiwillige Zustimmung, sich auf den Erforschungsweg zu begeben, aber die Bedingungen dafür, dass es dazu kommt, liegen nicht in der eigenen Entscheidungsbefugnis. Das Schicksal entscheidet darüber, ob sich jemand einer Therapie unterzieht, auf ein Meditationsretreat geht, einen anderen Selbsterfahrungsweg wählt oder in den unbewusst geprägten Gewohnheitsmustern verharrt.

Das geheimnisvolle Reich des Unverfügbaren

Wenn allerdings das Tor zur Innenerforschung einmal aufgetan wurde, wird klar, dass es in der eigenen Verantwortung liegt, immer wieder hindurchzugehen und mehr Bewusstheit ins eigene Leben und Erleben zu bringen. Es wird einsichtig, dass es einen Bereich der Verantwortung dem eigenen Erleben gegenüber gibt, der genutzt werden kann, um die Selbstregulation im Innenbereich zu verbessern. Ein einfaches Werkzeug bietet unsere Atmung, die wir bewusst steuern können. Mit der Regelung unserer Atmung können wir Einfluss nehmen auf unser Nervensystem und auf unsere Stimmung. Vor allem zur Stressreduktion ist sie prädestiniert.

Dennoch kann es geschehen und geschieht es immer wieder, dass der Pfad ins Neuland der Seele wieder verlassen wird und die alten Geleise die Regie übernehmen. Die Fähigkeit zur Verantwortungsausübung in diesem Bereich geht verloren. Wir vergessen, was wir schon gelernt haben und denken beispielsweise nicht daran, das Ausatmen zu entspannen, wenn wir uns gestresst fühlen.

Damit kommen wir zu einer weiteren Ebene, auf der wir auch zugeben müssen, dass das Übernehmen von Verantwortung selber wieder ins Reich des Unverfügbaren gehört. Es gelingt manchen leichter und anderen schwerer. Diese Fähigkeit hängt letztlich wiederum von Faktoren ab, die nicht in der eigenen Verantwortung liegen.

Also sind unsere Verantwortungsbereiche beständig von Bereichen des Vorgegebenen und des Geschehenden eingegrenzt und umgeben. Unsere Verantwortung nehmen wir wahr, weil es uns in bestimmten Momenten gegeben ist und wir vernachlässigen sie, weil uns in anderen Momenten kein Zugang dazu gewährt ist. Je näher wir hinschauen, desto deutlich wird, welch großen Raum all das einnimmt, was wir nicht kontrollieren können, was ohne unser Zutun in uns wirkt, was unserer Bewusstmachung immer voraus ist.

Die eigene Geschichte und das Schicksal

Mit dem Einsehen, dass der eigene Verantwortungsbereich schmal ist im Vergleich zu dem, was ohne unsere bewusste Mitwirkung geschieht, ändert sich der Blick auf die eigene Lebensgeschichte. Wir können sie auf neue Weise erzählen. Viele Ereignisse in unserer Vergangenheit, über die wir hadern und mit denen wir uns nicht abfinden können, erscheinen in einem anderen Licht, wenn wir die Grenze zwischen Verantwortung und Schicksal genauer erkennen. Die Möglichkeit, für unser Handeln Verantwortung zu übernehmen, war zu den kritischen Zeitpunkten, mit denen wir im Unfrieden sind, viel kleiner, als wir jetzt annehmen. Nachträglich ist uns manches bewusst geworden; damals verfügten wir nicht über diese Bewusstheit. Deshalb konnten wir nicht anders handeln als wir gehandelt haben. Deshalb ist etwas geschehen, was wir heute als Fehler erkennen und so nicht mehr machen würden. Wir sind in dieser Hinsicht bewusster geworden und haben aus der Erfahrung gelernt. Jetzt können wir damit aufhören, von uns selber eine Bewusstheit für die Vergangenheit zu verlangen, die uns erst nachträglich zuteil wurde. Jetzt können wir damit aufhören, uns selber mit dem heutigen Besserwissen zu quälen.

Die Lücken der Verantwortung

Wir müssen immer wieder anerkennen, dass wir die Verantwortung nur in Lücken, die sich im dichten Gewebe des Seins öffnen, ausüben können. Wenn wir aber diese Lücken ausnutzen, um unsere Bewusstheit zu vertiefen, dann werden diese Lücken umso häufiger auftreten, sodass uns ein Wachsen in der geistigen Reife geschenkt wird.

Wir gelangen zu unserer vollen Wirkmacht nur dann, wenn wir ein klares Gefühl für die Grenzen unserer Einflussnahme haben. Wo diese Grenzen unklar und verschwommen sind, vergeuden wir unsere Kräfte, weil sie in Scham- und Schuldgefühle fließen. Mit der Einsicht in die Grenzen verstehen wir, wie wir unsere Autorität und Verantwortung in den kleinen Bereichen leben können, die unserer Kontrolle unterliegen, und wie wir sie durch Übungen in der Bewusstheit vermehren. Dem Unverfügbaren gilt es in Respekt und Demut sowie mit Gelassenheit zu begegnen. Wir sind nicht die Meister:innen unseres Schicksals, aber die Gestalter:innen unseres bewussten Lebens.

Zum Weiterlesen:
Schicksal und Verantwortung
Schicksal und Scham

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