Sonntag, 30. Mai 2021

Das Ende des Gehorchens

 Jede von außen geforderte Disziplin ist mit der Erwartung von Gehorsam verbunden. Gehorsam ist gewissermaßen die zwischenmenschliche Komponente der Disziplin: Eine Disziplin, die für eine andere Person und deren Wollen ausgeübt werden soll. Es gibt auf der einen Seite eine Autoritätsperson, die bestimmte Handlungen einfordert, die sie will. Auf der anderen Seite gibt es die untergebene Person, deren Willen nichts zählt. 

Der Gehorsam kann mit verschiedenen Mitteln herbeigeführt werden, z.B. mit Zwang und Druck, mit Manipulation oder mit dem Versprechen von Belohnungen. Das Wort Gehorsam kommt im Deutschen von „Hören“, und es gibt auch die Redewendung: „Auf jemanden hören“ im Sinn von: „Jemandem folgen (im Sinn von Gefolgschaft leisten) oder gehorchen“. Der Stimme der Person, die den Gehorsam verlangt, muss gehorcht werden, sie hat das Sagen und ihr Wort ist mächtig. 

Die Forderung nach Gehorsam setzt also immer ein Machtgefälle voraus und ist typisch für Abhängigkeitsbeziehungen, die immer auch durch unterschiedliche Freiheitsgrade gekennzeichnet sind. Das Gehorchen wird in vielen Fällen von den Untergeordneten als unangenehm und missachtend erlebt, wenn der Sinn des Geforderten nicht nachvollziehbar ist. Manchmal kommen Gefühle der Erniedrigung und Demütigung dazu, vor allem dann, wenn der Befehl mit einer persönlichen Herabsetzung verbunden ist. 

Deshalb tun sich z.B. manche Menschen mit Corona-Regeln schwer, weil sie deren Begründungen nicht teilen und sich bevormundet und herabgesetzt fühlen. Andere wiederum, die an den Nutzen der Regeln glauben, erfüllen die Regeln freiwillig, und solche, die dazu noch viele Ängste vor einer Ansteckung haben, neigen zum Übererfüllen oder zum Einmahnen der Einhaltung der Regeln bei anderen, und fordern damit deren Gehorsam. 

Vor allem, wenn der Befehl mit einer Beschämung verbunden ist, ist der innere Widerstand gegen die Erfüllung des Geforderten groß. Selbst wenn die Einschätzung der Umstände zu dem Schluss führt, dass es opportuner ist, zu gehorchen, bleibt das verletzte, weil missachtete Selbstgefühl bestehen und bewirkt, dass das Anbefohlene nur widerwillig, fehlerhaft, langsam oder anderswie sabotiert wird. 

Denn ein beschämender Befehl, der mit der Abwertung der Person verbunden ist, von der der Gehorsam verlangt wird, will ihr das eigene Wollen absprechen. Anstelle des Eigenwillens soll der fremde Wille treten, der mit Gewalt gleichsam einen Teil des Selbst erobert. Dagegen muss sich das Selbst in irgendeiner Weise zur Wehr setzen und rächen, sei es auch nur mit der heimlichen Verachtung der Befehlsperson. 

Eine kleine Geschichte des Gehorsams

In der Abfolge der Generationen ist nicht selten zu beobachten, dass auf eine Generation mit sturen Regeln eine folgt, die die Zügel ganz locker lässt, worauf wieder eine folgt, die Regeln mit Nachdruck einfordert usw.  Zumindest in den sogenannten westlichen Kulturen gibt es darüber hinaus einen Trend, der wegführt von der Gehorsamsorientierung. Diese Erziehungsmaxime hat im Nationalsozialismus und in anderen Formen des Faschismus ihren Höhepunkt erlebt. Die dort propagierte Verbindung einer disziplinierenden, den Eigenwillen brechenden Erziehung und der Zurichtung von willfährigen Soldaten, die den Befehlen des Führers gedankenlos Gehorsam leisten, ist geradewegs in die Katastrophe des Weltkriegs gemündet. 

Gleichwohl hat die nachfolgende Generation die Militär- und Kriegstraumen der Väter abbekommen, indem viele Kriegsheimkehrer ihr Scheitern und ihren Frust auf ihre Kinder ausgelassen haben. Die erlittenen Demütigungen durch den erzwungenen Gehorsam wurden in vielen Fällen als autoritäres Gehabe an die Frauen und Kinder weitergegeben. Der Reflex auf diese destruktiven Dynamiken führte zur antiautoritären Welle der sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit der massiven Kritik an der Gehorsamserziehung. Experimente mit neuen Formen, Kinder großzuziehen, wurden gestartet. Die Rechte der Kinder wurden zunehmend für eminent wichtig erachtet und unter gesetzlichen Schutz gestellt. Oft wurde allerdings in der Erziehung übers Ziel hinausgeschossen, indem jede Grenzsetzung und Forderung an die Kinder von einem schlechten Gewissen begleitet war. Seither ist die Suche nach einer Balance zwischen Konsequenz und Freiheit in der Erziehung im Gange. Gewaltfreiheit im gesellschaftlichen Konsens außer Streit, die körperliche Züchtigung von Kindern ist geächtet, auch wenn damit noch lange nicht alle Elemente der physischen und emotionalen Gewalt aus den Eltern-Kind-Beziehungen verschwunden sind. Doch sind viele Eltern der festen Überzeugung, ihre Kinder nicht zu schlagen, auch wenn sie selber damals noch als „gesund“ gerechtfertigten Watschen bekommen haben.

Gehorsam ist das zentrale Erziehungsziel in einer hierarchischen Gesellschaftsform und Bewusstseinsstufe. Sie hat schon auf den darauf folgenden Entwicklungsstufen nur mehr einen nachgeordneten Rang. Denn sozioökonomisch erfordert schon der Kapitalismus mehr als Gehorsam und Unterordnung. Der äußere Zwang wird zunehmend durch einen inneren ersetzt: Statt dass der Fabriksherr seine Arbeiter mit der Peitsche zur Arbeit zwingt, setzt die Gesellschaft fest, dass nur der, der arbeitet, auch zu essen bekommt. Jeder ist grundsätzlich frei und ohne Zwang, aber wer sich nicht in die vorgegebenen Arbeitsverhältnisse einfügt, geht zugrunde. Also wird es zur Erziehungsleitlinie, das Leistungsprinzip im Inneren der Kinder zu verankern. Sie sollen von klein auf darauf vorbereitet werden, lesen, schreiben und rechnen und was sonst noch notwendig ist, zu lernen, damit sie später im Konkurrenzkampf bestehen und ihre wirtschaftliche Existenz sichern können. Kinder sollen also lernen, dem implantierten Leistungsdenken zu gehorchen.

Dazu kommt allerdings, dass im Fortschritt des Kapitalismus immer mehr Kreativität und Ideenreichtum der Leute notwendig wird. Diese Qualitäten gedeihen aber nicht in einer Atmosphäre des Befehlens und Gehorchens, sondern erfordern entspannte und angstfreie Räume. Mitarbeiter, die sich mit der Firma, für die sie arbeiten, identifizieren, leisten mehr als solche, die ihre Arbeit widerwillig oder unter Druck tun. Deshalb gibt es Modelle der partizipativen und kooperativen Führung, in denen die intrinsische Motivation über das Befehl-Gehorsamsschema gestellt wird.

Das Führen mit Gehorsamserwartung ist nicht mehr modern, auch deshalb, weil es dem wirtschaftlichen Erfolg widerspricht. Hier geht die Entwicklung des Kapitalismus mit den Gedanken der Menschenrechte zusammen, zu denen die Über- und Unterordnung der Menschen, die Voraussetzung für das Befehlen, nicht passt. Alle Menschen sind von Grund auf gleich, deshalb darf es nicht vorkommen, dass eine Person der anderen den eigenen Willen aufzwingt. Alle Menschen sollen sich auf Augenhöhe begegnen können. Jenen, die aufgrund ihres Alters oder wegen Behinderung dazu nicht in der Lage sind, soll mit Respekt und Achtung begegnet werden. Damit hat der Gehorsam als Funktion des Befehlens ausgedient. Wer es nicht schafft, andere vom eigenen Wollen zu überzeugen und das Wollen der Bezugspersonen zu achten, ist weder zum Erziehen noch zum Führen geeignet. 

Von der Bildungsforschung und aus eigenen Erfahrungen wissen wir, dass Lernen unter gewalt- und bedrohungsfreien Bedingungen weitaus besser funktioniert als unter Gehorsamsbedingungen. Im entspannten Zustand, in der Sicherheit vor unerbittlichen Ansprüchen von Personen, von denen man abhängig ist, speichert das Gehirn am besten. Die Motivation, die aus dem eigenen Selbst kommt, ist der beste Garant für das innere Wachstum und für den Aufbau emotionaler und kognitiver Kompetenzen.

Das Prinzip des Gehorsams wird mehr und mehr auf Randbereiche beschränkt, in denen es noch Sinn macht: In der militärischen Befehlskette im Ernstfall oder in anderen Notsituationen. In allen anderen Bereichen geht der Respekt vor dem Eigenwillen der Mitmenschen vor jede Form der Überordnung und Herabsetzung. Gehorsamserwartungen haben keinen Platz in der Kommunikation freier Bürger noch zwischen Eltern und Kindern.

Zum Weiterlesen:
Disziplinierung und Selbstdisziplin
Autonomie und Disziplin


Mittwoch, 26. Mai 2021

Disziplinierung und Selbstdisziplin

Wie im vorigen Blogartikel beschrieben, gehört zum Erwachsenwerden die Kultivierung der Selbstdisziplin. Sie macht es möglich, Anstrengungen und Mühen auf sich zu nehmen, die nicht unmittelbar in Belohnungen münden, dafür aber den Raum für neue Möglichkeiten öffnen. Was macht den Erwerb dieser wichtigen Kompetenz zu schwer?

Es sind Brechungen in der autonomen Selbstentwicklung, die sich hemmend auf die Ausbildung der Selbstdisziplin auswirken. Als Kinder sammeln wir die Erfahrungen, wie wir mit unseren Autonomiebestrebungen ankommen. Es ist klar, dass die Eltern nicht alles gutheißen können, was wir anstellen wollen. Entscheidend für ein gutes Verhältnis zur eigenen Autonomie und Selbstdisziplin ist, welche Grundeinstellungen die Eltern in ihrem Einwirken auf unsere Entwicklung vertreten haben. Es geht dabei um bewusste und unbewusste Einstellungen, und es geht um die damit verbundenen Gefühle und Gefühlskomplexe sowie um die Erziehungshaltungen, die unsere Eltern von ihren Eltern übernommen haben.

Förderlich sind Einstellungen, die vom Vertrauen auf die Eigenentwicklung des Kindes getragen sind: Das Kind weiß am besten, was es braucht und was es will. Dazu kommt die Fähigkeit, Kindern auf respekt- und liebevolle Weise Grenzen zu setzen, mit Konsequenz und Strenge, aber im Rahmen der Liebe und der Achtung. Die Autonomieregungen des Kindes sind willkommen und werden respektiert. Zugleich wird dem Kind vermittelt, welchen Respekt die Erwachsenen verlangen. 

Wo dem kindlichen Expansionsdrang Grenzen gesetzt werden, entsteht die Disziplin in Form der Impulskontrolle. Disziplin heißt zunächst, das eigene Wollen zugunsten des Wollens der Eltern zurückzustellen. Sie wächst dort in natürlicher Weise, wo sie auf Wechselseitigkeit beruht: Auch die Eltern stecken ihre Wünsche zurück, damit das Kind tun kann, was es will. Beide Seiten üben sich in Disziplin. 

Gelingt es den Eltern, ihre Erwartungen an das Verhalten des Kindes mit Einfühlsamkeit, Verständnis und Konsequenz zu vermitteln, so fühlt sich das Kind emotional belohnt, weil es sich an Regeln hält, die die Eltern vorgeben. Wenn das Kind wieder in Ordnung bringt, wo es vorher Unordnung geschaffen hat, oder wenn das Kind, statt auf die Straße zu laufen, zwar in die Richtung läuft, aber rechtzeitig stehen bleibt und den Kopf schüttelt, können die Eltern mit Freude und Bestätigung reagieren. Das Kind spürt die Belohnung und bekommt einen Ausgleich zur Unterbrechung des eigenen Impulses, also zur Frustration eines Bedürfnisses. Die Selbstzurücknahme und Selbstkontrolle bringt Anerkennung, und diese Erfahrung kann verinnerlicht werden, sodass sie später in Form der Selbstdisziplin Anwendung finden kann. 

Emotionale vs. materielle Belohnung

Es genügt, dass dieses Geben und Nehmen auf der emotionalen Ebene verbleibt; die Belohnung mit Dingen oder mit Geld führt auf eine Ebene, die den Lern- und Abstimmungskontext rund um die Disziplin vom Emotionalen zum Materiellen verändert. Das nummerische Prinzip, das über diese Form des Austausches eindringt, macht aus dem Fluss von Gefühlen eine Serie von Geschäften. Die Erwachsenenwelt mit ihren ökonomischen Abläufen mischt sich ein und knüpft die Disziplin an Bedingungen, in Form von messbaren dinglichen Werten. Leistung bemisst sich folglich am materiellen Gewinn und nicht an innerer Bestätigung und Erfüllung. Disziplin erscheint dann nur mehr sinnvoll, wenn entsprechende Zahlungseingänge auf der Habenseite zu erwarten sind, um dort verbucht zu werden.

Motivation zur Disziplin oder Disziplinierung 

Wie wir gesehen haben: Jede Selbstdisziplin erwächst aus Anforderungen zur Disziplin, die uns von außen auferlegt wurden. Die Entwicklung der Eigendisziplin setzt also eine Außendisziplin voraus. Je kind- und menschengerechter diese von außen herangetragene Motivation zur Disziplin erfolgt, desto leichter kann sie als Selbstdisziplin im Inneren verankert werden. 

Es gibt zwei Extreme des Misslingens dieser Entwicklungslinie. Die eine zeigt sich, wenn Eltern starre und sture Grenzen setzen und das Verhalten des Kindes mit Druck, Beschämung und Manipulation nach den eigenen Vorstellungen formen wollen. Die andere ist die Folge von fehlenden oder verschwommenen Grenzsetzungen. In beiden Fällen spielt die Scham eine wichtige Rolle. Im ersten Fall, bei einem autoritären Erziehungsstil, werden die Kinder eingeschränkt und eingeschüchtert, indem ihnen die Scham für ihr Fehlverhalten eingeimpft wird. Sie haben dann nur die Möglichkeit, sich zu ängstlichen Duckmäusern zu entwickeln, die dauernd befürchten, etwas falsch zu machen oder nicht gut genug zu sein. Disziplin ist ein verinnerlichtes „Müssen“. Oder sie werden ewige Rebellen, die sich gegen jede Regel, die von ihnen erwartet wird, zur Wehr setzen und jede Form von Disziplin kategorisch ablehnen.

In beiden Fällen kommt es zu einem spannungsreichen Verhältnis zur Disziplin. Sie wird als unterdrückende Macht erlebt, die von außen gesteuert ist und die überwachen und kontrollieren will, ohne den Eigenwillen zu respektieren. Sie kann folglich nicht als eigene Kompetenz verinnerlicht werden und steht nur mangelhaft für das Erreichen eigener Ziele zur Verfügung. 

Der Widerstand gegen ein Wollen, das als Müssen erlebt wird, schlägt sich in Verhaltensroutinen nieder, die oft Kompromisse darstellen zwischen dem, was sein sollte, und dem, wozu die aktuelle Bedürfnislage motiviert. Ungeliebte Tätigkeiten, Ablenkungen, Zerstreuungen und Konsumhandlungen dienen diesen Halbheiten, mit denen der Alltag vieler Menschen angefüllt ist. Ein resignativer oder latent aggressiver Unterton begleitet in solchen Fällen das Leben. Es fehlt die kreative Erfüllung und das Erleben des Fließens, Elemente, die bei Handlungen auftreten, die aus dem eigenen Wollen mit Selbstdisziplin vollzogen werden. Es fehlen Spontaneität und Flexibilität, Qualitäten, die die Lebensfreude anfachen.

Disziplinierung beinhaltet das Unterbinden der kindlichen Spontaneität. Die Einordnung in ein vorgegebenes, absolut gültiges Regelwerk ist ihr Ziel. Es erscheint als Erziehungsmaxime, an der sich das Gelingen der Erziehung bemisst. Das Eigenwesen des Kindes wird dabei übersehen und unterdrückt. Demgegenüber braucht es die sanfte und beharrliche Motivation zur Disziplin, die die Regeln verständlich macht und erklärt, damit sie als Motivationskraft im Inneren verankert werden kann und als Selbstdisziplin eine wichtige Stütze für ein zielstrebiges und erfülltes Erwachsenenleben zur Verfügung steht. 

Zum Weiterlesen:
Autonomie und Disziplin
Das Ende des Gehorchens
Der Verlust und die Wiedergewinnung der Lebendigkeit
Helden ohne Mythos
Disziplin und Gnade

Dienstag, 25. Mai 2021

Autonomie und Disziplin

Die Anfänge der Autonomie

Die Autonomie ist die starke Kraft, die uns aus der Abhängigkeit und Bedürftigkeit der frühen Kindheit herausführt. Sie stützt sich auf den Willen, der mehr und mehr die Handlungsorientierung prägt: „Ich tue, was ich will“. Das ist die Umkehrung von: „Ich will, was ich tue“. Der Wille drängt sich vor das Geschehen und spontane Tun, wie es für ganz kleine Kinder charakteristisch ist. 

Diese Entwicklung wird durch die zunehmende Kontrolle möglich, die dem Kind zusehends gelingt und über den Organismus und seine Gefühle ausgeübt wird. Der Körper bewegt sich nicht einfach irgendwie, sondern die Bewegungen werden willentlich und zielgerichtet in Gang gesetzt oder beendet. Ein Kind läuft dorthin, wo es etwas Interessantes findet oder vermutet; es unterbricht einen Handlungsimpuls, weil es erlebt, dass die Eltern missbilligend reagieren, und tut etwas anderes. Oder es bewegt sich in eine bestimmte Richtung und beharrt darauf, obwohl die Eltern wollen, dass es anderswohin läuft. 

Auch die Emotionen können fortschreitend besser reguliert werden. Das Kind erlebt eine Frustration, weil ihm verboten wird, mit dem Essen zu spielen, und lenkt sich ab, indem es sich eine andere lustbetonte Aktivität sucht, statt das Gefühl der Frustration zu intensivieren. Es ärgert sich, weil es beim Spielen von den Eltern unterbrochen wird und stellt sich schneller auf eine neue Aktivität ein.

In den Unterbrechungen von geschehenden Abläufen, wie sie im ganz frühen Leben vorherrschen, meldet sich die Autonomie. Sie nimmt immer mehr Raum ein und ermöglicht dem Kind, sich zunehmend sicherer durch das eigene Leben zu bewegen. Es spürt, was es will und was es nicht will, und kann diesen Willen ausdrücken, wird verstanden und versteht auch, dass nicht jedes Wollen umgesetzt werden kann. Auf diese Weise gewinnt das Kind mehr Freiheit und Möglichkeitsspielraum.

Die Disziplin als Gegenspielerin zur Autonomie

In dieser Zeit meldet sich die Disziplin als Gegenspielerin zur Autonomie, indem sie etwas verkörpert, was von außen, von den anderen Menschen, erwartet wird. Was hergeräumt wird, soll wieder weggeräumt werden. Das Herräumen ist lustig, das Wegräumen mühsam. Das eine stammt aus der Autonomie, dem spontanen Impuls des Selbstausdrucks und der Selbstwirkung, das andere aus einem Zwang, der aufgrund der Abhängigkeit, in dem sich die Autonomie entfaltet, befolgt werden muss. Auf ein „Ich-will“ folgt ein „Ich-muss“.

 Jedes Müssen trägt eben ein „Ich-will-nicht“ im Rucksack. Disziplin heißt damit in der weiteren Entwicklung, dass der eigene Impuls zurückgestellt werden muss. Etwas soll getan werden, was nicht dem eigenen Willen entspricht und gegen das es eigentlich einen inneren Widerstand gibt. Die geforderte Disziplin wird als Beschränkung der Autonomie verstanden. Sie ist das Gummiband, das die weiterhin bestehende Abhängigkeit spüren lässt und eine innere Spannung mit der Kraft erzeugt, die in Richtung der Vermehrung der Autonomie strebt: In die Freiheit von auferlegten Disziplinen.

Das Verhältnis von Autonomie und Disziplin ändert sich mit den natürlicherweise im Lauf des Aufwachsens abnehmenden Abhängigkeitsverhältnissen. Kinder erwerben mehr und mehr Kompetenzen, die ihnen ein selbständiges Leben ermöglichen. Jede Erziehung hat den eigentlichen Sinn, sich selbst überflüssig zu machen. Die Güte der Erziehung bemisst sich an der Selbständigkeit, die sie vermitteln kann.

Disziplin im ursprünglichen Sinn von Lehre und Unterricht erübrigt sich. Die Jugend endet dort, wo es nicht mehr um Regeln, Fertigkeiten und Wissen geht, die in einem Abhängigkeitsverhältnis erworben werden müssen, um in die Erwachsenenwelt Eintritt zu bekommen. Es braucht jetzt eine neue Form der Disziplin, eine selbstauferlegte Form der Regulation. Als Erwachsener „muss man sich nichts mehr sagen lassen“, d.h. ist man nicht mehr abhängig von den Vorschriften und Normen noch von den Urteilen und Kritiken, die von außen kommen. Aber man muss sich selbst sagen, wo es lang geht.

Von der Außen- zur Innendisziplin

Und das ist gar nicht so einfach, wie es klingt, weil alle Erwachsenen Verhaltensgewohnheiten entwickelt haben, die den eigenen Werten und Zielen im Weg stehen. Sehr viele Erwachsene wissen, dass sie nicht rauchen sollten und schaffen es dennoch nicht, davon loszukommen. Viele wollen sich mehr bewegen und bleiben dann doch vor dem Fernseher kleben. Die Ernährung sollte endlich umgestellt werden, aber die Schaufenster der Konditorei sind allzu verlockend, usw. Jedes Erwachsenenleben hat seine eigene Liste von selbstverantworteten Routinehandlungen, die alle selbstschädigend wirken. 

An diesem Punkt hilft nur Disziplin, durch willentlich gefällte Entscheidungen angeleitet, um aus den Käfigen hinderlicher und schädlicher Gewohnheiten auszubrechen. Das „Ich-will“ braucht mehr Macht als die einkonditionierten Verhaltensweisen. Denn so lange ein „Ich-muss“ (…endlich abnehmen, …früher schlafen gehen, … früher aufstehen, …weniger Medien konsumieren …) vor dem Ziel steht, das angestrebt wird, bleibt die Macht beim herrschenden Muster, das Bequemlichkeit, Vertrautheit und Sicherheit verspricht. Es füttert den inneren Widerstand („eigentlich will ich ja gar nicht“), der das Ziel sabotiert und damit die eigene Hilflosigkeit zementiert.

Nur ein Wille, der mit Selbstdisziplin verbündet ist, also der Bereitschaft, nach den eigenen Entscheidungen und Entschlüssen auch zu handeln, schafft den Ausbruch aus dem Gefängnis der ungewollten Gewohnheiten und Verhaltensmuster. Ohne diese Form der selbstverantworteten Disziplin bleiben wir im kindlichen Trotz stecken, bleiben wir Sklaven von eingeprägten Verhaltensmustern, die in Widerspruch zu unseren Interessen und Werten stehen. Um auszubrechen, müssen wir den Schritt von der Außen- oder Fremddisziplin zur Innen- oder Selbstdisziplin als Teil der erwachsenen Lebenskompetenz meistern.

Die Erweiterung der Freiheit durch Disziplin

Erwachsensein heißt also auch diszipliniert sein zu können. Mit Disziplin erreichen wir höhere Grade der Freiheit, das ist ein Geheimnis, das viele nicht verstehen, weil sie erwachsene Freiheit mit dem Ausleben eines kindlichen Lustprinzips und Disziplin mit Gegängeltwerden verwechseln. 

Eine erwachsene Autonomie, die sich gegen jede Form der Disziplin stellt, ist also nur die überlebte trotzige Form der Selbstbestimmung, die sich gegen Unterordnungen zur Wehr setzt, die gar nicht mehr bestehen. Als Erwachsene entscheiden wir selbst über die Form der Disziplin, die wir auf uns selbst ausüben, aber ohne jede Disziplin können wir nicht erwachsen sein. Das bedeutet nicht, dass das ganze Leben aus den Anstrengungen, die ein diszipliniertes Handeln mit sich bringt, besteht. Vielmehr nutzen wir die Kraft der Selbstdisziplin dort, wo es um die Erreichung von Zielen und die Verwirklichung von Visionen geht, also dort, wo es um die Erweiterung von Freiheitsmöglichkeiten und Freiheitsräumen geht. Nachdem die Ziele verwirklicht wurden, kann sich dann beim Beleben dieser neu erschaffenen Räume die Disziplin wieder zurückziehen und dem freudvollen und freien Genießen, der Spontaneität und Kreativität freien Lauf lassen.

Was wir zu einem ausgeglichenen und kreativ wachsenden Leben brauchen, ist eine stimmige Balance zwischen der Disziplin und dem Genießen. Keine Seite darf überhand nehmen, sonst verfallen wir entweder in schädliche Genussgewohnheiten oder in einen disziplinierten Leistungszwang, der uns nie zur Ruhe kommen lässt. Eine gute Ausgeglichenheit zwischen diesen Polen erlaubt es, dass wir wachsen, oft mit Anstrengungen verbunden, und dass wir das Erreichte entspannt genießen: Leistung und Muße im Gleichgewicht.

Zum Weiterlesen:
Muße als Lebenskunst
Der Verlust und die Wiedergewinnung der Lebendigkeit
Helden ohne Mythos
Disziplin und Gnade
Disziplinierung und Selbstdisziplin
Das Ende des Gehorchens


Donnerstag, 13. Mai 2021

Autarkie und Scham

„Ich muss es alleine schaffen.“ Das ist das Credo der Autarkie. „Wenn ich es nicht alleine schaffe, bin ich nichts wert.“ Das ist der schamdurchtränkte Subtext zu dem Glaubenssatz, der die Autarkiescham begründet. 

Menschsein heißt abhängig sein. Wir entstehen in Abhängigkeitsverhältnissen und kommen aus einer Position der Hilflosigkeit und Schwäche. Ohne unsere Eltern oder andere Pflegepersonen hätten wir keinen Tag unserer frühen Kindheit überlebt. Als Babys hatten wir die Möglichkeit, unsere Bedürfnisse lauthals auszudrücken und für deren Erfüllung stille Dankbarkeit zu schenken: Ein Regelkreis von Geben und Nehmen, in dem die Fähigkeit der Kleinen von Tag zu Tag wächst, für sich selbst zu sorgen, bis die Abhängigkeit nicht mehr notwendig ist. Die erwachsene Selbständigkeit steht nun zur Verfügung, um für die Bedürfnisse der nächsten Generation zu sorgen.

Genauso hat es die Natur eingerichtet, genauso hat sich die Menschheit als Gattung seit ihren Anfängen erhalten und vermehrt. Sobald sich aber andere Motive in diese Zusammenhänge einmischen, entsteht der Nährboden für die Scham. Eltern, die aufgrund ihrer eigenen Kindheitserfahrungen die Bedürfnisse ihrer Kinder nur mangelhaft verstehen und deren Dankbarkeit nicht erkennen, neigen dazu, sich als Opfer der Ansprüche ihrer Kinder und der Pflichten der Elternschaft zu sehen. Sie leiden nicht nur unter der physischen Belastung, die das Leben mit einem Baby, das oft nicht durchschlafen kann, schwer zu beruhigen ist oder von einer Krankheit geplagt ist, mit sich bringt. Sie leiden noch mehr an dem, was sie als emotionales Ungleichgewicht erleben: Viel geben zu müssen, ohne ausreichend zurückzubekommen. Damit geben sie ihren Kindern nicht nur das, was diese zum Aufwachsen brauchen, sondern vermitteln ihnen auch das Gefühl, den Eltern etwas schuldig zu bleiben. 

Autarkie als Überlebensstrategie

Um ihren Eltern nicht zur Last zu fallen, versuchen die Kinder, so früh wie möglich ihre Selbständigkeit zu erwerben. Sie stellen ihre Bedürfnisse zurück, sobald sie merken, dass sie nur widerwillig befriedigt werden oder eine Belastung für die Eltern darstellen. Sie werden früh sauber und fügen sich klaglos in eine Kinderkrippe ein. Sie lernen, sich still zu halten und keinen Lärm zu machen. Sie stützen sich auf ihre wachsende Autarkie, aus der langsam dämmernden Erkenntnis, dass Unterstützung und Hilfe immer an Bedingungen geknüpft ist und mit Schuld abbezahlt werden muss. 

Im späteren Leben mündet diese eingeprägte Überlebensstrategie häufig in Überlastung. Denn das Grundgefühl, es alleine schaffen zu müssen, erzeugt eine innere Isolation und einen verbissenen Aktionismus nach außen. Ständig geht es darum, durch Erfolge zu beweisen, dass der Eigenwert berechtigt ist. Jeder Erfolg muss mit übermäßigem Stolz quittiert werden, denn das innere Wertgefühl ruht auf wackeligen Beinen.

Bleiben die Erfolge aus, kann es schnell zum Zusammenbruch kommen. Die Bestätigung für die eigene Werthaftigkeit bricht weg, und es bleibt ein Trümmerhaufen übrig. Die Scham meldet sich massiv und ersetzt den Stolz, der sich aus den Errungenschaften der Autarkie genährt hat.

Im Inneren tobt der quälende Kampf zwischen dem verbliebenen Stolz, der noch immer glaubt, alles alleine zu bewältigen, und der Scham, die sich aus der Erfahrung nährt, es doch nicht zu schaffen. Ein Teufelskreis entsteht, bei dem der Stolz daran erinnert, was früher alles möglich war, und der Scham, die resigniert zur Kenntnis nimmt, dass selbst kleine Schritte unendlich schwer fallen oder dass die immer wieder gefassten Vorsätze wieder und wieder im Sand verlaufen. Der Stolz hindert daran, sich Hilfe zu holen und um Unterstützung zu bitten und verstärkt damit die Scham. 

Menschen mit diesem Muster ziehen sich logischerweise zunehmend zurück und vermeiden den Kontakt mit anderen Menschen. Sie glauben, jeder sieht ihnen ihr Versagen an. Sie wollen mit niemandem mehr reden, weil sie meinen, dass sie nichts vorweisen können, was andere interessiert. Sie verschwinden allmählich in sich selbst und beginnen sich zu vernachlässigen, was wiederum die Scham anstachelt. 

Das Eingeständnis der Hilflosigkeit

Tatsächlich besteht die einzige Abhilfe darin, dass sie die Hand ausstrecken und einbekennen, es nicht mehr aus eigenen Kräften zu schaffen. Wenn sie diesen Schritt gehen, wandelt sich die Scham in Demut und der alte Stolz verabschiedet sich. Gelingt es, auf diesem Weg weitere Schritte zu gehen, wächst das Selbstbewusstsein und damit auch die schöpferische Kraft. 

In der Mitte zwischen Stolz und Scham befindet sich der Selbstwert. Schaukelt es zu heftig zwischen den beiden Polen, leidet die Mitte und wird aufgerieben. Deshalb geht bei der Rückeroberung des Selbst kein Weg daran vorbei, sowohl den Stolz als auch die Scham abzumildern. Da die beiden Pole von sozialen Gefühlen gebildet werden, ist die Mithilfe anderer wohlmeinender Menschen unerlässlich. Sie geben das Gefühl zurück, dass der innere Wert nicht vom Reüssieren auf den steilen Pisten der Leistungsgesellschaft abhängt, sondern in der Person selbst liegt, gleich, wie viel sie aktuell oder im ganzen Leben zustande bringt. 

Die tiefere Einsicht

Wer hat den Maßstab, nach dem ein individuelles Leben bemessen wird? Nicht umsonst kommt es nach den traditionellen Religionen zum Abwägen des Wertes der Menschen erst nach ihrem Tod. Vorher ist es vermessen, den einen mehr Wert zuzuerkennen als den anderen. Jedes Kriterium, das wir dafür anwenden, ist willkürlich, subjektiv und ungerecht.

Das ist die Lektion aus dem Dilemma, in das die Autarkiescham verstrickt. Wo der Aufbau eines tragfähigen Selbstgefühls und Selbstwertes in der Kindheit missglückt ist, kommt es unweigerlich zur Irrfahrt zwischen Scham und Stolz, die erst endet, wenn die tiefere Einsicht in die Unschätzbarkeit und Unauslotbarkeit des Wertes jedes einzelnen Menschen dämmert.

Die äußeren Juwelen, die wir auf der Straße des Erfolgs einsammeln, sind vergänglich und ihr Wert verblasst oft sehr schnell, während wir weiterhasten. Die inneren Juwelen sind zeitlos und immer bei uns, gleich, ob wir uns ihrer bewusst sind oder nicht. Oft brauchen wir aber auch bittere Lektionen im Leben, damit wir erkennen, was uns in Wirklichkeit ausmacht und wer wir in der Essenz sind.

Und wenn wir uns schon auf dieser Warte befinden, pflücken wir gleich die nächste Weisheit: Alles, was wir schaffen, ist ein Geschenk. Ein Erfolg ist zwar unsere Leistung, weil wir ihn durch unsere Anstrengung errungen haben, aber alles, was wir für diese Leistung brauchen, ist uns gegeben, durch unsere Gene, Lernvorgänge, Ausbildungen, Sozialkontakte usw. bis hin zur Luft, die wir atmen. Nichts haben wir dazu getan, dass wir ein Körper mit 50 Billionen Zellen sind, dass wir über ein unermesslich komplexes Gehirn verfügen und dass wir Menschen um uns herum haben, von denen wir permanent lernen. 

Das ist der Entspannungspunkt für das Autarkiemuster. Die Botschaft lautet: Hör auf, dich verbissen von Leistung zu Leistung zu mühen und lass stattdessen das Geschehenlassen mehr zur Geltung kommen. Dazu braucht es nur, die selbsterschaffenen Hindernisse gegen das Vertrauen auf den Fluss aus dem Weg zu räumen und zu tun, was zu tun ist. Dazwischen ist Zeit zum Entspannen, in der das schöpferische Potenzial gedeiht.

Zum Weiterlesen:
Scham und Verletzlichkeit


Mittwoch, 5. Mai 2021

Helden ohne Mythos

Der Archetyp des Helden zählt zu den zentralen Urbildern des kollektiven Unbewusstseins. Heldenmythen gibt es in vielen Traditionen und Kulturen. Sie begeistern vor allem junge Menschen, die gerade aus ihren Familien ausbrechen wollen. Dieser Archetyp ist sehr anfällig für Missbrauch und hat deshalb einen zwiespältigen Ruf. Im Folgenden soll der Begriff des Helden ein wenig de- und rekonstruiert werden, um die Ideologisierungen, die in diesem Zusammenhang gemacht wurden, zu entschärfen. Denn dieser Begriff eignet sich verhängnisvoll gut für die Instrumentalisierung durch Machtinhaber: Sie müssen nur den Menschen einreden, dass sie Helden sind, wenn sie sich für kollektive Zwecke aufopfern. Der Diktator erreicht seine Ziele und die Helden sind verblutet. Allenfalls werden sie mit einem Heldendenkmal gefeiert, mit dem sich vor allem der Diktator brüstet, und die Hinterbliebenen kriegen einen Zettel oder eine Blechmedaille. 

Wer ist aber ein Held? Ein Held, eine Heldin ist jemand, der/die trotz Angst eine Selbstüberwindung zustande bringt. Ein Held ist nicht jemand, der mit links möglichst viele Feinde zu Boden streckt oder in die Luft wirbelt und dann lässig vom Schlachtfeld geht. Das Markenzeichen des Helden ist nicht die unbekümmerte Angstfreiheit, sondern die Bereitschaft und Fähigkeit, angesichts der Angst nicht einzuknicken oder wegzulaufen, sondern handlungsfähig zu bleiben und das Notwendige zu tun. Heldentum heißt also, eine anstehende Herausforderung zu meistern, gleich ob es leicht oder schwer fällt, gleich ob das Herz in die Hose fällt oder nicht.  

Wenn wir von Helden sprechen, denken wir an Menschen, die Außergewöhnliches angesichts widriger Umstände geschafft haben. Was außergewöhnlich ist, kennt aber keine objektiven Maßstäbe, sondern ist das, was jenseits der eigenen Gewohnheiten und außerhalb der eigenen Bequemlichkeitsgrenzen liegt. Jeder Mensch hat da seine eigenen Begrenztheiten, die von Ängsten und Schamgefühlen bewacht werden. Und jeder hat deshalb auch vielfältige Gelegenheiten, den eigenen Heldenmut unter Beweis zu stellen. 

Die Gestalt der Heldin ist ein Archetyp des Mutfassens, der Ermutigung und der Bekräftigung. Wir können ihn zur Steigerung unserer Selbstmächtigkeit und zur Vergewisserung unserer Würde als Mensch nutzen. Er enthält die Ermunterung und den bestärkenden Zuspruch, den eigenen Möglichkeitsraum und damit die Spielwiese der Freiheit beständig zu erweitern, für uns selbst und für die anderen.  

Der Angst begegnen 

Jede überwundene Angst stärkt das Selbstvertrauen und immunisiert gegen unnötige Schambelastungen. Jede Angstsituation, die wir durchlebt haben, macht uns angstfreier. Jedem Ungeheuer, dem wir in die Augen geblickt haben, ohne zu weichen, haben wir die Macht über uns genommen. Wir fühlen uns in der Lage, Grenzverletzungen zu erkennen und zu verhindern. Wir schaffen es, den inneren Dämonen entgegenzutreten und uns vor ihren Einflüssen und Einflüsterungen zu wappnen. Wir lassen keine Beschämungen mehr zu oder nehmen sie nicht persönlich, wenn sie jemandem in unserer Umgebung unterlaufen. 

Der Helden-Archetyp macht Mut, über die eigene Komfortzone hinauszugehen und mit alten Gewohnheiten zu brechen, um Neuland zu erschließen. Und dazu gibt es in jedem Leben, ja sogar in jedem Lebensmoment eine Gelegenheit. Wir müssen also nicht gefährliche Länder bereisen, Tiefseetauchen oder riskante Klettertouren unternehmen, um unser Heldentum unter Beweis zu stellen. Wenn wir uns überwinden, für unser Immunsystem und unseren Kreislauf unter die kalte Dusche zu treten und ein paar Minuten auszuhalten, kann das eine Heldentat sein. Oder auch: Wenn wir, statt einen Streit fortzusetzen, einen Atemzug nehmen und etwas Liebevolles sagen. Oder auch: Wenn wir das Kleinkind, das einen Wutanfall hat, zu uns nehmen und so lange halten, bis es ruhig wird. Oder auch: Wir gehen den Berg Bügelwäsche an, obwohl die Gewohnheit zum Fernseher zieht. Oder auch: Trotz eines fast unerträglich schweren Gefühls und Widerwillens steigt die depressive Person aus dem Bett und trotzt ihrer miesen Stimmung.  

Heldenreisen beginnen genau dort, wo sich ein unüberwindlich scheinendes Hindernis vor einem auftürmt. Die Möglichkeiten, zum Helden zu werden, sind unendlich, und jedes Leben enthält lange Listen von vollbrachten Heldentaten, freilich auch von misslungenen oder vermiedenen Herausforderungen. Es gibt also auch keine Helden ohne Versagen. 

Es geht nicht nur darum, alte hinderliche Gewohnheiten zu verlassen, sondern auch darum, neue aufzubauen, die uns guttun, z.B. in Bezug auf die Ernährung oder die Bewegung. Auch das erfordert die Überwindung von inneren Widerständen und das Aufbringen von Konsequenz und Disziplin. Andererseits brauchen wir die Heldenkraft auch, um Gewohnheiten, die uns schwächen, zu brechen. Alles, was wir übertreiben und im Übermaß tun oder genießen, was uns also kurzfristig gefällt und langfristig belastet, all die Routinen der Selbstschädigung werden durch eingefräste Gewohnheiten am Laufen gehalten. Solche Vorgänge zu unterbrechen oder zu beenden, erfordert viel Selbstdisziplin und Willenskraft. 

Heldentum finden wir also nicht nur in einzelnen Großtaten, sondern auch in einer beständig fortgeführten Lebenspraxis, die den eigenen Idealen entspricht oder sich ihnen mehr und mehr annähert. Selbst Menschen, die ein unauffälliges Leben führen, in dem sie mit Fleiß und Konsequenz ihre Aufgaben zum Besten für sich selber und ihre Mitmenschen erfüllen, sind heldenhaft.  

Die Heldentaten im Miteinander 

Es geht beim Helden-Archetypen nicht nur um die Stärkung der eigenen Lebenstüchtigkeit, sondern auch um die Stärkung des Miteinanders, also um die Stärkung der Mitmenschen und des Zusammenlebens mit ihnen. Das klassische Ideal des Ritters aus dem Mittelalter umfasste immer auch die Hilfsbereitschaft: Den Einsatz für die Kranken, Schwachen, Witwen und Waisen. Held ist also nicht der Ego-Optimierer, der selbstbesessene Muskelprotz oder Karriere- und Reichtumsmaximierer. Held ist vielmehr jemand, der ein Herz für die anderen hat, die in Schwierigkeiten stecken, und der sich tätig für sie einsetzt, ohne die eigenen Interessen in den Vordergrund zu stellen. Er ist jemand, der das Gemeinwohl über den Eigennutzen stellt. 

Das beginnt mit Eltern, die Tag und Nacht für die Nöte ihrer Babys da sind und die eigenen Bedürfnisse zurückstellen. Es gibt Ärzte und Krankenpfleger, die im Bedarfsfall bis an den Rand ihrer Erschöpfung Leben retten. Viele Männer und Frauen sorgen für ihre kranken, alten oder behinderten Angehörigen. Viele setzen sich für Flüchtlinge oder Migranten ein oder leisten Hilfsdienste in Katastrophengebieten. Viele gehen gegen Unrecht und Machtmissbrauch unter Lebensgefahr auf die Straße. 

Die Helden des Geistes 

Die Scham ist es, die uns an Gewohnheiten festhalten lässt. Neue Wege zu gehen ist immer mit dem Risiko verbunden, abgelehnt, abgewertet, verspottet oder ignoriert zu werden. Diesem Risiko stellen sich auch die Helden des Geistes, jene Menschen also, die neue Bereiche des Denkens, des Forschens und der Ideenbildung erschließen. Sie überschreiten die Gewohnheitsgrenzen und wagen neue Einblicke in die Tiefen und Weiten des Universums. Sie müssen die Wahrnehmungs- und Denktraditionen, auf die sich alle andere stützen, hinter sich lassen und Neuland erschließen, unabhängig von Anerkennung und Bewunderung. Einzusehen, dass die Erde um die Sonne kreist (Kopernikus), dass alle Erkenntnis subjektiv ist (Kant) oder dass Gott tot ist (Nietzsche), ist gefährlich für den eigenen Status in der Gesellschaft. Die Kompromisslosigkeit der Helden des Geistes ist ihre Gabe, den Beschämungen zu trotzen, die als Reaktionen der Gesellschaft auf die Infragestellung von Denkgewohnheiten kommen. 

Ebenso mutig ist es, Kunstwerke zu schaffen, die die Wahrnehmungsgewohnheiten der Umwelt herausfordern. Mutig war es, atonale Musik zu komponieren oder abstrakte Bilder auszustellen. Alle bahnbrechenden Leistungen in den verschiedenen Bereichen der Kunst haben etwas Heldenhaftes an sich. Sie haben das Tor zu neuen Bewusstseinsebenen und damit zu mehr Freiheit geöffnet. 

Die Heldenreise im Inneren 

Wir brauchen den Archetypen des Heldens auch für die Innenreise. Denn viele Weisheitslehrer behaupten, dass die eigentlichen und wirklichen Gefahren dort drinnen, in den Schutzschichten des Persönlichkeitskernes, lauern. Die Angst haftet nicht an Objekten, sondern entsteht in uns, sobald ein Außenreiz aufgenommen wird, den wir als Gefahr interpretieren. Das Erkennen, Konfrontieren und Durchschauen dessen, was uns Angst macht, erfordert Heldenmut. 

Der Hort der Ängste wird als das Ego bezeichnet. Deshalb, so die Ansicht vieler spiritueller Lehrer, liegt die größte Angst darin, dieses Ego zu verlieren. Gewissermaßen schützt sich das Ego durch die Mobilisierung aller Ängste davor, die Herrschaft im Innenleben abzugeben. Der Verlust der Kontrolle über unser Leben, die uns das Ego verspricht, droht und wird mit allen Mitteln verhindert. Die spirituelle Heldenreise ist jene, Schicht um Schicht dieses Ego zu entmachten und damit Schritt für Schritt die Idee, das eigene Leben unter Kontrolle zu haben, aufzugeben. Wo keine Angst und keine Kontrolle bestehen, hat auch die Scham keinen Platz mehr. 

Wir haben es also auch mit spirituellen Heldinnen zu tun, wenn jemand mit großem Einsatz und viel Ausdauer an der Bewältigung der inneren Widerstände und Blockaden arbeitet. Menschen, die diesen Weg sehr weit gegangen sind, werden oft als Heilige verehrt und finden ihre Schüler und Jünger, die sich von ihrem Beispiel anspornen lassen, selber auf die Suche zu gehen.  

Wir alle sind Helden 

Wie wir an diesen Beispielen sehen, gibt es praktisch in allen Lebensbereichen Heldentaten und noch mehr Gelegenheiten dazu. Und es gibt auch in jedem individuellen Leben Heldenhaftes. Es kann das Durchbrechen einer Gewohnheit sein, die jemand loswerden will – sei es ein unmäßiger Fernseh- oder Videokonsum, der abendliche Joint oder gar das Zigarettenrauchen oder Alkoholtrinken. Wer es schafft, von ungesundem Konsumverhalten weg zu kommen, ist stolz auf sich und kann sich als Held über die inneren Gewohnheitsdämonen fühlen. Oft braucht es natürlich Zeit, bis solche Muster endgültig besiegt sind, solange die inneren Mechanismen, die sich an die ungesunden Substanzen gewöhnt haben, abgebaut sind und auch die äußerlichen Anreize, die das Verhalten auslösen, ihre verführerische Macht verloren haben. Aber wenn die Veränderung nachhaltig stabilisiert ist, gibt es Gründe, den eigenen Heldenmut anzuerkennen. 

Scham und Stolz

Die Idealitätsscham hilft uns, Ängste zu überwinden. Unsere innere Stimme sagt uns: Das wäre doch gelacht, wenn ich das nicht schaffen würde. Ich kann mir selber etwas beweisen, wenn ich diese Herausforderung angehe, statt mich vor ihr zu drücken. Diese Schamform meldet sich, wenn wir gegen unser Gewissen handeln und das, was wir für das Beste halten, nicht verfolgen. Umgekehrt lernen wir von ihr, immer und immer wieder nach unseren Idealen zu streben und uns nicht entmutigen zu lassen, wenn es einmal eng wird oder aussichtslos erscheint. Sie wirkt in ihrer Umkehrung wie ein innerer Imperativ, als Motivationsschub, und sie verwandelt sich in einen förderlichen Stolz, sobald die Überwindung gelungen ist. Es ist ein Stolz, der als Kraft in die Motivation einfließt, die bei der nächsten Herausforderung gebraucht wird. 

Verkehrungen des Heldenideals 

Das Heldenideal wird häufig benutzt, um eigene Schwächen zu kompensieren. Dieses Verhalten kann auf jeder Ebene auftreten, z.B. charakterlich, körperlich, prestigemäßig oder finanziell. Alles, was mit Scham behaftet ist, ist für einen Missbrauch des Heldentums anfällig, und es gibt nichts in den menschlichen Belangen, das nicht Anlass für Scham bieten könnte. Um der Macht der Scham zu entrinnen, wird die Gegenposition in einem heldenmütigen Stolz gesucht, um den Mangel auszugleichen. Der Sohn, der vom Vater abgewertet wird, weil er die erwarteten Leistungen in der Schule nicht erbringt, will es dem Vater beweisen, indem er in einem besonders riskanten Bereich den wirtschaftlichen Erfolg sucht. Sein Ziel ist es, mehr Geld als der Vater zu verdienen, um endlich anerkannt zu werden, und für dieses Ziel ist ihm jedes Mittel recht. 

Wo die Scham als Antreiberin aktiv ist, kann keine echte Heldin werden. Von einer Hintergrundscham angeleitetes heldenhaftes Auftreten wirkt gekünstelt, übertrieben und angeberisch. Es will Eindruck schinden, um die Scham in Stolz zu verwandeln. Es kommt also eigentlich nicht von Innen, aus einem eigenen Wollen, sondern ist für ein Außen bestimmt, das applaudieren und bewundern soll. Es folgt keinem Selbstzweck, vielmehr liegt der Zweck bei den anderen und ist von ihnen abhängig. Das scheinbare Heldenideal verschwindet spurlos, sobald die Anerkennung ausbleibt. 

Nicht nur selbstwertschwache Individuen flüchten ins Heldenideal, sondern auch legitimationsschwache Regime. Die Heldenverehrung wird in allen Diktaturen hochgehalten, um möglichst viele Helden unter dem Apparat zu versammeln, die dann für die Ziele der Diktatur skrupellos eingesetzt werden könnten. Schlägertruppen, die sich selber heroisieren. 

Helden und Gewalt 

Kriegshelden sind ein äußerst problematischer Begriff, wenn nicht sogar ein Widerspruch in sich selbst. Denn sie werden in den meisten Fällen für die Tötung anderer Menschen verehrt und bejubelt, gleich ob sie in einem Krieg kämpfen, der für Gerechtigkeit eintritt oder für eine unmenschliche Eroberungs- und Zerstörungspolitik. Die Verehrung (z.B. am Wiener Heldenplatz und Heldentor) dient der Aufforderung zur Nachahmung: Selbstlos und mutig sollen sich die jungen Männer in den Kampf werfen und möglichst viele Feinde töten, um ihr Vaterland zu verteidigen. Damit erweisen sie zwar ihrer Heimat einen Dienst, vor allem, wenn diese von fremden Mächten angegriffen wird. Aber sie verursachen Leid bei jedem Menschen, den sie verletzen und töten, sowie bei dessen Angehörigen.  

Soldaten in einem Angriffskrieg tragen eine noch schwerere Gewissenslast: Sie müssen für eine ungerechte Sache töten. Sie sind zwar gezwungen, in den Krieg zu gehen und würden ihr Leben riskieren, wenn sie es nicht täten (wie der Oberösterreicher Franz Jägerstätter im 2. Weltkrieg), aber sie begehen ihre Gewaltakte zusätzlich noch für eine menschenfeindliche Politik. Die Verleugnung eigener Ideale, die Unterordnung unter ein Regime, Zerstörungshandlungen und Morde auf Befehl und gegen Frauen und Kinder sind mit schwerer Scham belastet, weil es für solche Taten keine moralische Rechtfertigung gibt. Je heftiger die Schambelastung, desto heftiger gestalten sich die Abwehr und die Verleugnung. Kriege ziehen in mehrfacher Hinsicht Blutspuren durch die Seelen der Täter: Jeder Blutstropfen, für dessen Vergießen sie verantwortlich sind, bewirkt eine Schamlast, die sich bei den Beteiligten als Charakterdeformation auswirkt, soweit sie sich der Scham nicht stellen. Da die Scham in den meisten Fällen in Ermangelung eines emotionalen Heldentums verdrängt und unterdrückt werden musste, wird sie an nächsten Generationen weitergegeben, die an den übertragenen Traumatisierungen und deren Folgen  leiden müssen.  

Wenn allerdings Widerstandskämpfer gegen ein diktatorisches System konspirieren, verwegene Taten setzen und damit ihr Leben aufs Spiel setzen, kommt ein weiterer Faktor zum Tragen: Der Widerstand gegen Unterdrückung dient nicht nur dem Helden selbst, sondern soll ein besseres Leben für die ganze Gesellschaft und die Nachkommen ermöglichen. Er ist also immer auch auf die Verbesserung eines größeren Ganzen, und nicht auf die Verteidigung einer abstrakten Heimat eingestellt. Drei Offiziere der deutschen Wehrmacht haben versucht, in den letzten Wochen des 2. Weltkriegs eine kampflose Übergabe Wiens an die russischen Streitkräfte auszuhandeln, um der Zivilbevölkerung Leid zu ersparen. Sie wurden verraten und hingerichtet. 

Ein bekanntes Beispiel in diesem Zusammenhang stellt die Diskussion um den Tyrannenmord dar. Ist es legitim, einen Menschen umzubringen, um Tausenden das Leben zu retten? Es gibt keine eindeutige Antwort auf diese diffizile ethische Frage, die mit jeder Form des gewaltsamen Widerstandes auftaucht. Ein Geheimnis des Helden-Archetyps besteht darin, dass es Situationen gibt, die nicht ohne Schuld bewältigt werden können, die aber bewältigt werden müssen. Es gibt viele Konfliktsituationen, in denen jede Handlung zu einer Schuldbelastung führt, indem, was immer man tut, um Gutes zu bewirken, jemand anderer jedoch Schaden erleidet. Es liegt allerdings auch ein Mut darin, zu tun, was das eigene Gewissen verlangt und sich der Schuld und Scham zu stellen, die angesichts der Umstände unvermeidlich erscheinen, und die Last in Verantwortung zu tragen. 

Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma ist der Weg des gewaltlosen Widerstandes, wie er z.B. von Mahatma Gandhi vorgelebt und verbreitet wurde. Dieser Weg hat viele zivile Helden hervorgebracht, die bis heute auf der ganzen Welt mit Methoden der Gewaltlosigkeit gegen Missstände, Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten protestieren. Diese bewundernswerten Menschen haben gezeigt, dass die Macht des Geistes und der Menschlichkeit auf längere Sicht stärker sind als die Macht der Gewehre und der Brutalität.  

Zum Weiterlesen:
Die Rebellen und die Freiheit

Montag, 3. Mai 2021

Die Rebellen und die Freiheit

Es gehört zu den menschlichen Grundstrebungen, auszubrechen aus allem Einengenden, um den Raum für die Freiheit zu erweitern. Es ist die immer wieder Scham, mit deren Hilfe die Verbote errichtet wurden, Bestehendes zu verändern, auch wenn es menschenfeindlich oder fortschrittsbehindernd ist. Es müssen also Schamgrenzen überwunden werden, wenn dem Menschsein zu mehr Möglichkeiten verholfen werden soll. Für diese Herausforderung steht der Archetyp des Rebellen, und es sind die Aufmüpfigen, die sich dieser Aufgabe verschreiben.

Das typische Beispiel sind die Teenage-Rebellen. Vielen von ihnen geht es dabei um die individuelle Emanzipation aus der Familie und deren Wertsystemen. Weiters gibt es die politisch und kulturell engagierte Rebellen, denen es auch und vor allem um die kollektive Weiterentwicklung geht. Das eigene Leben muss immer wieder verändert werden, ebenso die Gesellschaft. Das ist das Wesen des Wachstums und der Entwicklung, und Rebellen sind die Bahnbrecher dieser Tendenz, die allem Leben eigen ist. Sie sind die vorwärtstreibende Kraft für den „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“, wie sie vom Philosophen Hegel in seiner Geschichtsphilosophie benannt wurde.

Der Rebell ist ein mutiger Überwinder der eigenen und gesellschaftlichen Schamgrenzen. Er bricht Tabus, lotet neue Territorien aus und experimentiert mit neuen Ideen. Er überwindet Konventionen, die durch Schamandrohungen geschützt sind. Jede Regel, die die Freiheit einengt, muss überwunden werden. Er lässt sich nicht von der Scham bremsen im Elan, die Welt zu verbessern. Deshalb finden wir Rebellen in politischen Bewegungen, die vom Rand kommen, aber auch in der Kunst und in der Mode: Rebellinnen zeigten vor 50 Jahren erstmals ihre Knie in der Öffentlichkeit. Sie sind Trendsetter, die sich wagen, Neuland zu betreten, das bisher von Schamschranken behütet und verboten war.

In diesem Zusammenhang ist auch die sexuelle Revolution seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erwähnenswert, die Frucht rebellischen Geistes, verbunden mit den Emanzipationsbestrebungen der Frauen, für die immer wieder mutige Rebellinnen die Fahne getragen haben und weitertragen. Korsette, die die Moral den Menschen aufdrängt und mit Scham verfestigt, werden von Rebellen aufgebrochen, sobald die Gesellschaft bereit ist für neue Öffnungen. Wie auch immer man die Auswirkungen der sexuellen Befreiung einschätzt, ist jedenfalls klar, dass sich die Beziehungen der Geschlechter und damit die Schamzuschreibungen seither maßgeblich verändert haben.

Provokation und Polarisierung

Was wir an Rebellen bewundern, ist ihre zielstrebige Orientierung an ihren Idealen und Visionen. Kompromisslos bis zur Radikalität folgen sie ihre Ideen, für die sie möglichst viele Anhänger begeistern wollen. Sie provozieren und polarisieren, sie haben glühende Anhänge und erbitterte Gegner. Sie wissen um die Wichtigkeit ihres Auftrages und ihrer Botschaft und lassen sich nicht beirren oder von Zweifeln ablenken. 

Rebellen opponieren gegen Ordnungsstrukturen und wollen ein Chaos erzeugen, um eine neue Ordnung zu ermöglichen. Sie nutzen die Macht der Zerstörung, wie die indische Göttin Kali. Was der menschlichen Freiheit im Weg steht, muss beseitigt werden, wenn es nicht von selber verschwindet. Wie Kali im Mythos über Leichen geht, brauchen die Rebellen einen Schuss an Schamlosigkeit und Unverfrorenheit, ja selbst an Rücksichtslosigkeit, um ihrer Mission zum Durchbruch zu verhelfen. Denn sie thematisieren und kritisieren die Schamlosigkeit und Unbarmherzigkeit der bestehenden Ordnung. 

Bindung und Autonomie

Aus der Perspektive der Kindheitsentwicklung betrachtet, beginnt das Rebellische im zweiten Lebensjahr, einhergehend mit der Entfaltung des Eigenwillens beim Kind. Die Bezeichnung „Trotzalter“ für diese Phase nutzt den erzieherischen Zeigefinger mit der Intention, den Widerstand des Kindes gegen elterliche Anordnungen zu brechen. Das Kind verdient Respekt für seinen Willen, ebenso wie die Eltern, die aber dem Kind erst den Weg öffnen müssen, zu diesem Respekt zu finden. Dazu ist es wichtig, dass sie zuerst den Willen des Kindes respektieren, ihm aber geduldig verständlich machen, dass es auch den Willen anderer beachtet. 

Kinder sind von Anfang an soziale Wesen und auf Beziehung hin ausgerichtet. Sie verfügen über ein intuitives Verständnis von Geben und Nehmen. Zugleich müssen sie ihre Autonomie durch den zeitweiligen Widerstand gegen die Anweisungen und Ordnungsvorstellungen der Eltern entwickeln. Sie suchen immer auch den Ausgleich zwischen dem Bedürfnis nach Bindung und dem Streben nach Selbstbestimmung. Deshalb leiden sie oft an dem Konflikt zwischen dem, was aus ihrem Inneren kommt, und dem, was das Außen verlangt. Und sie tun sich oft schwer, mit ihren widerstrebenden Bedürfnissen und Antrieben zurechtzukommen. Gleichzeitig üben sie sich mit jeder Erfahrung in der inneren Selbstregulation, sodass sie die Macht ihres Eigenwillens besser kennen lernen und handhaben können. 

Dafür brauchen die Kinder verständnisvoll und einfühlsame Eltern, die gleichwohl ihre eigenen Grenzen klar kommunizieren und einhalten können. Das erforderte ein Gespür für die Schamregungen im Kind, die mit viel Behutsamkeit aufgelöst werden können. Denn die Scham spielt bei Zwiespalten in der Entwicklung zur Autonomie eine wichtige, aber auch widersprüchliche Rolle. Einerseits korrigiert sie überschießendes egoistisches Verhalten, andererseits macht sie auf die Notwendigkeit aufmerksam, die eigene Autonomie zu fördern.

Die Schattenseite

Rebellen gibt es, wie bei den anderen Archetypen auch, in verschiedenen, helleren und dunkleren Gestalten. Es gibt unter ihnen Egomanen und Wohltäter der Menschheit, laute und stille, verbal agierende und handlungsorientierte, sture und flexible Ausprägungen. Es gibt den Missbrauch dieses Archetyps, indem die Rebellion zum Selbstzweck wird („die Revolution frisst ihre Kinder“) oder indem die, die nicht mitmachen, verachtet und beschämt werden. Die Rebellen werden zu Ideologen, mit den gleichen Schwächen für Machtmissbrauch wie die Tyrannen, die sie bekämpft haben.

Es gibt auch die Zerrform der Selbstausbeutung in der Rebellenrolle, oft verbunden mit Realitätsblindheit: Der Rebell, der unentwegt gegen das ganze System kämpft und nie zur Ruhe findet, solange nicht das Ganze in seinem Sinn revolutioniert ist. Es ist die Gestalt des ewigen Rebellen, der nicht erwachsen werden will. Denn Erwachsensein beinhaltet auch, die Grenzen der eigenen Einflussmöglichkeiten anzuerkennen: Niemand kann alleine die Welt retten. Wird diese Grenze ignoriert, wandelt sich der ewige Rebell in einen Narren, ohne es selber zu merken. Er wird zu einem Rebellen mit trauriger Gestalt. Das Dagegensein wird zum Reflex, statt die Kritik zu differenzieren wird mit dem Vorschlaghammer operiert. Die Destruktivität hat in diesem Fall nichts Konstruktives mehr an sich und läuft sich tot.

Und es gibt auch die Kehrtwende, wenn die ehemaligen Rebellen die Fronten wechseln, wenn sie dem unwiderstehlichen Duft des Geldes verfallen und plötzlich im Nadelstreif mit dem Aktenkoffer aus dem Mercedes steigen. Die Scham in Form einer unfreiwilligen Selbstironie hat sie erwischt und zurück in eine konventionelle, systemstabilisierende Rolle geführt.

Rebellen, die die Kraft des Archetyps für eigene Zwecke missbrauchen und damit andere in die Irre führen, handeln aus Schamfixierungen heraus. Durch den unbewussten Schamdruck kommen sie so schwer aus der Rolle heraus, die sie einmal angenommen haben. Sie können ihre Ideale nicht aufweichen, auch wenn sie sich als starr und ideologisch erwiesen haben. Die eigene Identität hängt am Dagegen-Sein, an der immer wiederkehrenden Kritik an der Gesellschaft und in der frontalen und ausnahmslosen Ablehnung der Realität, wie sie ist. Es ist die Sturheit eines kindlichen oder pubertären Trotzes, der sich in dieser Haltung durchsetzt und die Rebellion zu einer starren Haltung versteinert.

Die Aussicht

Dem Rebellischen haftet etwas Jugendliches an. Es sollte aktiviert werden, wenn sich Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten ereignen, aber nicht zur Dauerhaltung versteinern. Die Fundamentalopposition neigt zu einer grundsätzlichen Ablehnung von allem, was ist und kann deshalb keine Alternative anbieten. 

Das Rebellische ist biografisch häufig ein Durchgangsphänomen, das bestimmte Lebensphasen dominiert und dann wieder zurücktritt. Es sollte freilich nie vergessen werden, weil das Leben immer wieder Situationen hervorbringt, in denen das Rebellische notwendig und erforderlich ist. Wer es noch nicht in sich entwickelt hat, sollte sich rechtzeitig darum kümmern. Denn es steht auf, gegen Tendenzen, die der Menschlichkeit zuwiderlaufen, Widerstand zu leisten und Veränderungen einzufordern. Es duckt sich nicht, wenn Unrecht geschieht oder Missstände offenbar werden, sondern bleibt aufrecht, konfrontiert und fordert heraus.

Andererseits braucht die Rebellin im Reiferwerden den Austausch mit einem anderen Archetypen, dem des Weisen (der Weisen). Von ihm lernt sie das rechte Maß zwischen Kampf und Akzeptanz, zwischen Chaos und Ordnung. Es geht der Blick mehr ins Weite und aufs Ganze und verbohrt sich nicht mehr in Details. Im Einfluss der Weisheit wird die rebellische Ungeduld von der Gelassenheit gemäßigt.

Zum Weiterlesen:
Die Kraft der Zerstörung
Helden ohne Mythos