Montag, 31. August 2020

Katzenbuckeln - eine Traumareaktion


Unter „fawning“ (engl.), übersetzt Katzenbuckeln (oder auch „Speichellecken“) versteht ein Zweig der Traumatherapie das Muster des „Es-allen- Rechtmachens”. Nach dem US-Therapeuten Patrick Walden, der diesen Ausdruck als vierte Form der Traumareaktion (neben Kämpfen, Flüchten und Erstarren) beschrieben hat, neigen Menschen mit diesem Muster dazu, sich an die Bedürfnisse anderer anzupassen, sodass sie sich oft in kodependenten Beziehungen wiederfinden und dort ihre Traumgeschichte wiederholen. 

Walden schreibt: „Katzenbuckel-Typen suchen Sicherheit, indem sie mit den Wünschen, Bedürfnissen und Forderungen der anderen verschmelzen. Sie handeln so, als ob sie unbewusst glaubten, dass der Eintrittspreis in jede Beziehung darin bestünde, all ihre Bedürfnisse, Rechte, Vorlieben und Grenzen aufzugeben.“

Hier eine Liste der klassischen Anzeichen des Katzenbuckelns. Diese Verhaltensweisen herrschen besonders dann vor, wenn ein Traumaüberlebender Angst verspürt oder getriggert wird:

Rechtmachen

Die Unfähigkeit zu sagen, was man wirklich fühlt oder denkt

Sich um andere zum eigenen Nachteil kümmern

Auf alle Bitten „Ja“ sagen

Anderen schmeicheln

Mit geringem Selbstwert kämpfen

Konflikte vermeiden

Das Gefühl, ausgenutzt zu werden

Großes Bemühen, mit anderen übereinzustimmen

Weil die Katzenbuckler-Typen Schwierigkeiten haben, sich Raum zu nehmen und ihre Bedürfnisse auszudrücken, sind sie verletzbarer durch emotionalen Missbrauch und durch Ausbeutung. In missbräuchlichen Umständen (z.B. beim Kindesmissbrauch oder bei Gewalt in Intimbeziehungen) können die Missbraucher die Flucht- oder Kampfreaktion des Opfers unterdrücken, indem sie Strafen androhen, sodass dem Opfer nur die Anpassungs- oder Erstarrungsreaktion zur Verfügung steht.

„Wenn uns die Macht oder Fähigkeit zum Kämpfen oder Flüchten fehlt, was sehr häufig bei komplexen Traumatisierungen vorkommt, werden wir erstarren, werden wir beschwichtigen oder dissoziieren,“ sagt Dr. Kathy Kezelman, Direktorin eines Traumazentrums. „Die Beschwichtigungsreaktion, die auch als Gefallenwollen oder Katzenbuckeln bekannt ist, ist eine weitere Überlebensreaktion, die auftritt, wenn das Opfer Gefahrensignale erkennt und sich fügen muss und die Konfrontation minimiert im Versuch, sich zu schützen.“

Wie ist das Erleben beim Katzenbuckler?

Alle Menschen suchen wir nach Beziehungen, die sich bequem und bekannt anfühlen. Für Traumaüberlebende des Anpassungstyps, die sich sehr bemühen, um in Beziehungen zu gefallen, kann das leider bedeuten, dass sie missbräuchliche Beziehungen anziehen, die sich bekannt anfühlen oder als etwas, das man „sich verdient“ hat. 

Ein Betroffener schreibt: „Je mehr ich mich in einer emotionalen Verbindung engagiert habe, desto unwahrscheinlicher war es, dass ich diese Person kritisiert habe oder dass ich angesprochen habe, wenn meine Grenzen überschritten wurden. Ich konnte mein Unglück über ihr Verhalten nicht ausdrücken und konnte auch nichts mitteilen, von dem ich dachte, es könnte die Beziehung zerstören. Es war notwendig, aus einer Freundschaftsbeziehung herauszutreten, die mich so tiefgründig erschüttert und zerstört hatte – während ich in die tiefsten Tiefen der Magersucht abrutschte –, bevor ich erkannte, dass das Verhalten, Personen nachzujagen, die kontrollierten, emotional unerreichbar und sogar missbräuchlich waren, meine Geist zerstörte. Ich suchte nach den emotional verschlossensten Menschen, und ich warf mich in diese Verfolgungsjagd, irgendwo im Glauben, dass ich meine Werthaftigkeit nur unter Beweis stellen könnte, wenn ich die Liebe und Zuwendung der am wenigsten erreichbaren Person sicherstellen könnte.“

Das bedingungslose Anpassen ist ein selbstbeschützender Panzer, wie die anderen Stressreaktionen. Es hat vielen Traumaüberlebenden ermöglicht, missbräuchliche und gefährliche Umstände zu überleben.

Es gibt keine „besseren“ oder „schlechteren“ Stressreaktionen, aber schädlich ist es, wenn man in einer von ihnen feststeckt. Obwohl das Katzenbuckeln die Angst besänftigen kann und dazu beitragen kann, sich im Moment sicherer zu fühlen, kann es tatsächlich die eigene Stimme zum Verstummen bringen und verhindern, sich zu heilen oder mit Menschen zu umgeben, die dem eigenen Wohlbefinden zuträglich sind.

Zur Diskussion

So einleuchtend die Anpassungsreaktion zum Schicksal einer durch emotionalen Missbrauch traumatisierten Person passt, so wenig passt sie allerdings in den „klassischen“ Kanon der Traumareaktionen: Kämpfen, Flüchten, Erstarren. Denn diese drei Reaktionsformen sind elementare und evolutionär tief verankerte Überlebensstrategien, die das vegetative Nervensystem zur Verfügung stellt und je nach den Umständen ohne bewusstes Zutun in einer Belastungssituation aktiviert. 

Die Reaktion des „Katzenbuckelns“ ist eine Form, über das bewusst gesteuerte Verhalten weitere Traumatisierungen zu verhindern und entsteht in der Folge einer komplexen Risikoabwägung, die allerdings auch im Unterbewussten vorgenommen wird. Oft ist sie die Folge von Drohungen, z.B. beim sexuellen Missbrauch: „Wenn du etwas über das sagst, was wir gerade gemacht haben, wirst du bestraft, also schweig!“ Scheinbar bietet diese Reaktion den Ausweg aus Situationen, die mit Kämpfen oder Flüchten nicht bewältigt werden können, weil die Abhängigkeit vom Täter so groß ist. Sie kann aber erst auftreten, wenn das Nervensystem wieder in einem sozial aktiven Zustand ist, also wieder eigene intentionale Handlungen erlaubt. Der parasympathische Lähmungszustand muss überwunden sein, und die sympathische Hocherregung im Kampf-Flucht-Modus muss abgemildert sein, damit sich das Anpassungsverhalten etablieren kann.

Gleichwohl ist dieser Verhaltenstyp weit verbreitet und oft tief in der Persönlichkeitsstruktur verankert, und seine Auswirkungen können viel Leid anrichten. Manche Menschen verstehen nicht, warum sie immer wieder in Beziehungen landen, die ihnen nicht guttun. Wenn sie erkennen, dass es die eigene Traumageschichte ist, die sie in solche Abhängigkeitsmuster führt, haben sie die Chance, den unterwürfigen Kater in eine selbstbewusste Raubkatze zu transformieren, wozu in jedem Fall eine therapeutische Begleitung angeraten ist.

Hier zur Quelle dieses Artikels.



Donnerstag, 20. August 2020

Stress und Immunsystem

Warum Sport gut für das Immunsystem ist und anderer Stress schlecht


Psychosozialer Stress wirkt sich in Hinblick auf die Ausschüttung von Stresshormonen gleich aus wie körperlicher Stress z.B. durch Sport. Doch im Erleben ist der Unterschied deutlich: Es gibt einen angenehmen und einen unangenehmen Stress, einen Stress, der uns nur körperlich ermüdet und einen anderen, der uns in jeder Hinsicht fertig macht. Wir sprechen von Eustress, also subjektiv als gut empfundenen Stress, und Distress, den wir möglichst schnell loswerden möchten.

Interessant ist, dass die Auswirkungen auf das Immunsystem entgegengesetzt sind: Sportstress, eine selbstgewählte und eigenkontrollierte Stressbelastung, stärkt das Immunsystem, während psychosozialer Stress, der von außen auferlegt ist und dessen Bedingungen nicht der eigenen Kontrolle unterliegen, das Immunsystem schwächt.

Eine an der Universität von Bochum durchgeführte Studie hat nun physiologische Unterschiede zwischen den beiden Stresstypen ausfindig gemacht. Dazu wurden 20 Sportstudenten getestet. Sie mussten zunächst am Laufband bis zur Belastungsgrenze trainieren. Dann wurden sie dem sogenannten Trier Social Stress Test unterzogen, bei dem die Versuchspersonen vor einem nüchtern agierenden Gremium und vor laufender Kamera ein fiktives Jobinterview führen müssen. Das ist ein bekannter Test, der nachweislich Stress auslöst.

Zunächst zeigte sich, dass der psychologische Test einen wesentlich höheren Stresshormonlevel erzeugte: Unangenehme soziale Situationen sind wesentlich belastender als körperliche Anstrengungen. Obwohl die Teilnehmer wussten, dass es sich um ein fiktives Bewerbungsgespräch handelte, reagierten sie mit stärkerem Stress als beim Training.

Da bei beiden Stressformen die gleichen Hormone (Noradrenalin und Cortisol) ausgeschüttet wurden, suchten die Forschern nach anderen physiologischen Komponenten und stießen dabei auf die zellfreie DNA, das ist eine DNA, die unter bestimmten Bedingungen im Blutkreislauf zirkuliert. Diese DNA weist beim psychosozialen Stress andere Methylierungsmuster auf als bei der körperlichen Anstrengung. Methylierungsmuster entstehen durch chemische Gruppen, die Enzyme an die DNA anhängen, um den Ableseprozess zu regulieren. Das deutet darauf hin, dass die DNA aus unterschiedlichen Körperregionen stammt.

Offensichtlich gibt es ein Netzwerk zwischen Immunzellen, Muskeln und Gehirn. Unter Belastungen geben die Muskeln zellfreie DNA ab. Das Immunsystem reagiert darauf und wird aktiv. Also werden beim körperlichen Training möglicherweise auch die Immunzellen trainiert. Wenn hingegen die zellfreie DNA aus dem Gehirn stammt, wie es beim psychosozialen Stress der Fall ist, kann das gegensätzliche Wirkungen aufs Immunsystem ausüben, wodurch verständlich wird, warum psychosozialer Stress über kurz oder lang zu Krankheiten und Burn-Out führt.

Hier zur Originalstudie

Freitag, 14. August 2020

Der Mensch und die Großstadt

Die Urheimat und Lebensform der Menschen ist die Stammesgemeinschaft in weiten Räumen. Diese Form des Zusammenlebens hat Millionen von Jahren der frühen Menschheitsgeschichte bis weit in die Gegenwart bestimmt. Die Menschen lebten in nächstem Kontakt mit der Natur, in überschaubaren Gemeinschaften, in denen jeder jeden kannte. 

Erst mit dem Aufkommen von Hochkulturen vor etwa 5000 Jahren entstanden städtische Siedlungen, in denen mehr Menschen auf engem Raum zusammenlebten. Auch wenn die städtischen Kulturen inzwischen lange Traditionen aufweisen und eigene Regeln für die Gemeinschaft erfunden haben, die die Grundlage für die allgemeinen Bürgerrechte und –freiheiten darstellen, zeigen sie doch als menschliche Erfindungen ein deutliches Abrücken von der Natur und von einer naturnahen Lebensweise dar.

Mensch-Natur-Konflikte sind Mensch-Mensch-Konflikte

Mit dem Wachsen der Städte zu Groß- und Millionenstädten verstärkte sich dieser Trend, der zunehmend das Miteinander von Mensch und Natur durch einen Gegensatz ersetzt. Das Eingebundensein in die Abläufe der Natur, wie es für die frühen Stammeskulturen und noch länger für die Landbewohner prägend war, verblasst und macht einem Konflikt zwischen Mensch und Natur Platz – ein Gegensatz, der mehr und mehr zu einer Gegnerschaft hochstilisiert wurde und die Grundlage für die gedankenlose Naturzerstörung bildet, die im Zug der kapitalistischen Naturaneignung inzwischen bedrohliche Ausmaße angenommen hat. Natürlich kämpft nicht die Natur gegen die Menschen, sondern widerstreitende Interessen in den Menschen selber schaffen diesen Konflikt, der maßgeblich durch die Entwicklung der Stadtkultur angefacht wird.

Die andere Seite dieser Entwicklung besteht in den sozialen Veränderungen, die oft mit dem Stichwort Anonymisierung beschrieben wurden. In einer Großstadt kennt man kaum jemanden und ist von vielen Fremden umgeben, und das auf engstem Raum. Durch die Enge entsteht Stress, denn die Kontrolle, die wir über unsere Umgebung ausüben können, schwindet, wenn die anderen so nahe rücken wie in einem vollen U-Bahn-Abteil oder einem Gedränge im Supermarkt. Um diesen Stress zu bewältigen, müssen sich die Stadtbewohner abhärten und nach innen zurückziehen. Die Außenhaut muss undurchlässig bleiben und darf nichts hereinlassen, selbst wenn der Nachbar auf Tuchfühlung im Mittelgang der Straßenbahn direkt an einen selber angrenzt. Das Spüren muss sich ganz nach innen zurückziehen, die Außensinne halten ein wenig Kontrolle aufrecht. Es ist ein unangenehmer Zustand, der mit einer unterschwelligen Stressbelastung verbunden ist.

Diese Abschottung wird zur Gewohnheit und zum Teil der städtischen Lebensform. Der Stadtbewohner bewegt sich mit einer emotionalen Rüstung durch das Getriebe der Menschen und stößt da und dort auf die Rüstungen der anderen. Der Stress der Nähe und Enge ist eine Normalität und Konstante dieser Lebensform. Der Preis ist die latente Stressanhäufung, die chronifiziert wird. Das macht die Stadterfahrung zu einer Hektikerfahrung. Es ist nicht nur die höhere Schnelligkeit, mit der das Stadtleben im Vergleich zum Landleben pulsiert, sondern vor allem die höhere Gereiztheit, unter der jede Stadtbewohnerin leidet, ob sie will oder nicht. Die Abkapselung, die alle in der Stadt auf sich nehmen müssen, bewirkt eine gesteigerte Empfindlichkeit.

Dazu kommt, dass die städtische Lebensweise von sich aus auf Schnelligkeit angelegt ist. Uhren wurden in den Städten erfunden und verbessert, sodass sie immer kleinere Zeiteinheiten anzeigen können – Symbol für die Verkürzung und Verknappung der Zeit, die einen wichtigen Aspekt des Wirtschaftens darstellt, das ebenso in den Städten entwickelt wurde.

Landbewohner erleben Stadtbewohner häufig als weniger freundlich und herzlich. Das ist auch kein Wunder, weil die städtische Lebensweise ihren Preis in Stress und innerer Anspannung hat. Zusätzlich wirkt Stress ansteckend, sodass sich schwerlich jemand entziehen kann. 

Deshalb suchen viele Städter das Land und die Natur zum Ausgleich, sei es auch nur, indem sie sich eine Schlafstätte im grüneren Speckgürtel ihrer Großstadt suchen, zu der sie abends heimkehren und von der sie sich morgens zur Arbeit in der Stadt stauen. Die geringere Menschendichte und die stärkere Präsenz der Natur bewirken schnell eine Entlastung vom Stress. Die Natur übt keinen Druck aus, dadurch können sich die Gehirne entspannen und sicher fühlen.

Der Stau ist übrigens ein typisches Stadtsymptom: Fahrzeuge gehen auf Mindestabstand und können sich nicht mehr bewegen. Die Insassen leiden unter dem Zeitdruck, der mit jeder Sekunde der Fortdauer des Staus, steigt und unter der Hilflosigkeit und dem Kontrollverlust. und sorgt für eine Stresssteigerung. 

Ein Lob des Stadtlebens

Wenn nun das Stadtleben so ungesund für die Menschen ist, liegt es nahe zu sagen, dass alle aufs Land übersiedeln sollten. Klarerweise haben wir schon lange nicht mehr den Platz auf diesem Planeten, dass sich jeder der 7,8 Milliarden Menschen ein Haus mit Garten in unberührter Landschaft schaffen könnte. Wir brauchen die Städte und ihre Bewohner, und sie brauchen unser Mitgefühl und nicht unser Besserwissen oder naive Überheblichkeit, wenn wir vom Land kommen. Wenn wir in der Stadt leben, sollten wir uns dieser Herausforderungen bewusst sein und das Unsere dazu tun, was es braucht, um die Stressbelastung so klein wie möglich zu halten und damit zur allgemeinen Entstressung beizutragen. Denn Gelassenheit und Freundlichkeit wirken auch ansteckend.

Die Stadtbewohner haben die Idee von Toleranz und Respekt erfunden. Da sich viele unterschiedliche Menschen in den Städten treffen, Einheimische, Zugezogene und Fremde, braucht es besondere Tugenden, um mit diesen unterschiedlichen Zugehörigkeiten zurechtzukommen. Damit haben die Städte den Sprung von Partikulargesellschaften zu einer Weltgesellschaft vorbereitet und die dafür notwendigen Werte bereitgestellt.

Wir brauchen auch die städtische Lebensweise, weil sie in einer besonderen Form Kreativität und Vielfalt hervorbringt. Die Monotonie des Landlebens hat ihre Meriten, und der Abwechslungsreichtum der Stadt ebenso. Wo viele Menschen zusammenleben, entstehen viele Ideen und Konzepte aus den unterschiedlichen Köpfen, die sich in einer Stadt begegnen und austauschen. Man könnte auch sagen, Reibung befruchtet. Die Menschen würden ohne Städte nur dörflich denken, und das wäre doch zu dürftig und beschränkt. Die Enge der Lebensräume in der Stadt kontrastieren mit der geistigen Weite, die gerade dadurch möglich wird und für die Zukunft der Menschheit unverzichtbar ist.


Mittwoch, 12. August 2020

Angstkonditionierung und Corona-Reaktion

 Angstkonditionierung

Wie wir auf Gefahren und unsichere Situationen reagieren, hängt von unserem Angstmuster ab und dieses Muster verweist auf die Grundprägung, die wir in unserer Kindheit erfahren und erlitten haben. Das Überlebensprogramm, das uns in unseren Anfängen unterstützt hat, wird immer dann aktiviert, wenn wir uns irritiert oder verunsichert fühlen.

Wir sehen ganz unterschiedliche Reaktionen auf die große Unsicherheit, die durch die Pandemiesituation entstanden ist. Manche Menschen reagieren auf die Angstpropaganda, die von regierenden Kreisen gesteuert wird, extrem ängstlich und folgen penibel allen Verordnungen und Vorschlägen. Die Ängstlichkeit motiviert sie dann, andere anzuschwärzen oder sogar anzuzeigen, die die Vorschriften nicht so genau befolgen. 

Es könnte sein, dass diese Menschen eine angstgesteuerte innere Erwartungshaltung haben, die annimmt, dass die Welt im Grund bedrohlich, unübersichtlich und ungewiss ist und dass sie  beständig auf der Hut sein müssen. Sie halten deshalb unbewusst ständig Ausschau nach Angstmachern und folgen ihnen dann bedingungslos. Solche Menschen nehmen jede von außen wahrgenommene Bedrohung besonders deutlich ernst und übersetzen sie als Angst in ihr eigenes Inneres, wo die Angsterwartung wiederum genährt wird. 

Autoritätshörigkeit

Zu den Ängstlichen gesellen sich die Autoritätshörigen. Sie haben früh gelernt, dass es wichtig ist, allem zu folgen, was von höherer Stelle befohlen und empfohlen wird. Das Vertrauen in die Weisheit der Autoritäten kann so weit gehen, dass, wie in den USA geschehen, Gift geschluckt wird, weil es der Präsident als Heilmittel empfiehlt. Häufig finden sich die Ängstlichen mit den Autoritätshörigen in Personalunion.

Die Regierenden und die Unmündigkeit

Wer Regierungsverantwortung trägt, muss in einer Gesellschaft mit unmündigen Mitgliedern auch etwas Angst streuen, um Verhaltensänderungen auch bei jenen zu erreichen, die dazu zu bequem oder uneinsichtig sind. Kindliche Reaktionen erfordern eine strenge Autorität, die zur Verantwortung ruft. Die oben geschilderten Reaktionstypen sind die Adressaten für diese Form der Massenbeeinflussung und Propaganda. 

Virale Bedrohungen sind nicht sichtbar wie ein Tsunami, eine Bombenexplosion oder ein Bösewicht im Wohnzimmer. Ihre kurz- oder längerfristigen Wirkungen können mit laienhaften Mitteln nicht abgeschätzt werden, ebenso wenig wie die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Gefahr. Deshalb neigen viele dazu, die Gefahren zu vernachlässigen, ihre Gewohnheiten beizubehalten und sich nur unter äußerem Druck regelkonform zu verhalten. Sie müssen bei Strafe gezwungen werden, Maßnahmen einzuhalten, die vielleicht im Einzelfall überflüssig und sinnlos sind, im Ganzen aber das Infektionsrisiko eindämmen.

Die Angst um die Freiheit

Andere Menschen nehmen die Einschränkung ihrer Freiheit angesichts dieser Herausforderungen besonders wichtig  und leiden darunter. Sie fühlen sich durch alle Maßnahmen und Regelungen eingeengt und ihrer Freiheit beraubt. Ihre Angst besteht darin, dass sie sich einer Autorität unterordnen müssen und damit ihre Autonomie verlieren, sei es auch nur durch das Tragen einer Mundschutzmaske. Sie meinen, dass sie über eine bessere Einschätzung bezüglich der Wirkmächtigkeit und Sinnhaftigkeit der vorgeschriebenen Regeln verfügen und dass es deshalb um vorsätzliche Bevormundung und Freiheitsberaubung geht. Sie wehren sich deshalb mit allen Mitteln des Trotzes gegen jedwede Vorschriften und befürchten das Ende der freien Demokratie. Diese Angst kann sich zur Verschwörungstheorie ausweiten, dass das Virus genau zu diesem Zweck freigesetzt wurde, nämlich überall Diktaturen zu errichten.

Die unterschiedlichen Angstorientierungen betreffen nicht nur die „Laien“, sondern auch die „Experten“. Auch Ärzte und Wissenschaftler sind von ihrer Angstgeschichte betroffen und fällen daraus die Urteile über die Richtigkeit oder Falschheit von Maßnahmen. Der Vorteil der Wissenschaften liegt allerdings darin, dass die emotionalen Prägungen der Forscher durch den Vergleich mit anderen und die beständige Rückkoppelung mit der Wirklichkeit herausgefiltert werden und im Erkenntnisprozess keine Rolle spielen können.

Kollektive Angstbereitschaft 

Situationen von Unsicherheit und diffuser Bedrohung hat es immer wieder in der Menschheitsgeschichte gegeben. Z.B. war die Nachkriegszeit bis in die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts geprägt von der Angst vor einem möglichen Atomkrieg der Supermächte. Die Zeiten von kollektiver Sicherheit sind eher die Ausnahme. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass mit jeder Krise nicht nur die individuellen Angstquellen angezapft werden, sondern dass auch die kollektive Angstbereitschaft aktiviert wird und die individuellen Reaktionen zusätzlich verschärft.

Ungewissheitstoleranz

Die Situation des Lockdown war und ist für viele eine beträchtliche Belastung, oft verbunden mit drastischen wirtschaftlichen Nachteilen. Ebenso enthält jeder gravierende Verlauf einer Covid-Erkrankung ein schweres Schicksal. Die Ängste hingegen, die die Menschen antreiben oder lähmen, sind älter als die tatsächlichen aktuellen Erfahrungen, die wir bei uns selbst und bei Nahestehenden sammeln. Und sie sind mächtiger als die unterschiedlichen Informationen, die uns helfen könnten, die eigenen Intentionen und Orientierungen zu klären.

Es wird viel geredet und „gerechthabert“ in diesen Zeiten, es wird viel mit „der Wahrheit“ herumgefuchtelt, und das zeigt, wie tief die Verunsicherung ist und mit welchen Ängsten sie konfrontiert. Wenn wir es nicht schaffen, mit der Relativität der Erkenntnisse und Einsichten zu leben, müssen wir zu absoluten Wahrheiten greifen, um dort eine vermeintliche Sicherheit zu finden. Allein, die Suche ist vergeblich, weil sie nur in unserem Verstand stattfindet, der sich aus unseren Ängsten speist. Was wir brauchen, ist die Fähigkeit, mit der Unsicherheit und dem Nichtwissen zu leben und die Ängste anzunehmen, die dadurch hochkommen. Dann brauchen wir nicht den großen Durchblick und die unbestechliche Wahrheit, dann brauchen wir keine Erleuchtungen über irgendwelche Drahtzieher und Verschwörer.


Donnerstag, 6. August 2020

Politik nach Corona

Die Covid-Krise stellt die Regierenden in der ganzen Welt vor komplexe Herausforderungen. Es gibt ein klares Resumee: Die Krise kann nur gemeistert werden, wenn die Regierenden Experten zuhören. Sie können keine Richtlinien aus ihren Ideologien finden, um diese Krise zu meistern. Denn es gibt keine Ideologie zur Bewältigung einer Pandämie. Ideologien mischen sich allenfalls in die Regelungen der Auswirkungen der Krise: Soll der Staat den Leuten, die ihre Arbeit und ihr Geschäft wegen eines Lockdowns verlieren, unter die Arme greifen oder sie ihrem Schicksal überlassen? Sollen Regeln erlassen werden, um die Gefährdeten zu schützen oder soll jeder machen, was er will? 

Ideologien können sich auch in das Krisenmanagement einmischen, wie das manche Politiker versucht haben: Wir sind die heroischen Einzelkämpfer einer gesunden Rasse und setzen auf die Herdenimmunität, d.h. wir nehmen die Toten in unseren Reihen in Kauf, um dann am Ende als die strahlenden Sieger dazustehen. Oder: Das Virus ist eine Erfindung unserer Gegner, die unsere Wirtschaft treffen wollen, aber es ist viel zu harmlos. Wir lassen uns nicht einschüchtern, wir machen weiter, als wäre nichts und sind dann die Besseren.  

Mittlerweile ist absehbar, dass diese ideologischen Einmischungen gescheitert sind. Nach den Erfahrungen mit der Unberechenbarkeit des Virus und seiner ganz unterschiedlichen Auswirkungen sind zunehmend mehr und mehr Regierende auf eine Linie eingeschwenkt, nämlich jene, die von der großen Mehrzahl der Experten vorgeschlagen wurde. 

Das Versagen der Populisten


Die Populisten haben auf ganzer Linie versagt, sie konnten nichts beitragen zur Verringerung von Infektionen oder Todesfällen. Populisten sind zumeist Feinde von Expertenwissen, weil sie denken, selber die Experten in allen relevanten Belangen zu sein. Sie sind auch den Wissenschaften gegenüber misstrauisch, weil sie ihren subjektiven, gefühlserzeugten Wirklichkeitsbegriff gegenüber den Wissenschaften inhaltlich nicht verteidigen können. Auf dem ideologisch eingefärbten Wirklichkeitsbegriff mit seinen Freund-Feind-Mustern beruht der ganze Erfolg der populistischen Propaganda. Differenziertere Sichtweisen, wie sie von den Wissenschaften kommen, passen nicht zu den vereinfachten Weltbildern. Deshalb müssen die Wissenschaften diskreditiert werden. Alles, was komplex erscheint, ist verdächtig. 

Populisten verfügen über die Schläue, die ihren Machthunger unterstützt, aber nicht über ein Gespür für Feinheiten und Komplexitäten. Sie müssen sich eine eigene Wirklichkeit erschaffen, denn die „wirkliche“ Wirklichkeit ist differenziert und komplex. Und sie müssen die Erforscher dieser Wirklichkeit bekämpfen, damit sie ihr simples, von Emotionen erzeugtes Realitätsmodell aufrechterhalten können.

Rückkoppelung mit Experten


Dort, wo die Politik Erfolge in Bezug auf die Pandemie verzeichnen kann, stützt sie sich auf Experten aus verschiedenen Gebieten zwischen Medizin, Soziologie und Mathematik, die die relevanten Fakten, Berechnungen und Entscheidungsgrundlagen liefern. Die Verantwortung der Politiker ist es dann, die Entscheidungen zu treffen, aber eben nicht aus irgendeinem Bauchgefühl heraus, sondern in Abstimmung mit denen, die sich in dem betreffenden Bereich am besten auskennen.  

Faktenbasierte Politik ist kein Zauberwort, sondern entspricht der Aufgabe von demokratischen Politikern, Politik im Sinn des Gemeinwohls zu gestalten, also eine größtmögliche Zahl von Interessen und Bedürfnissen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten zu berücksichtigen. Dafür ist der Austausch notwendig, zwischen den Entscheidungsträgern und den Betroffenen sowie mit den Experten, die tiefere Einblicke für bestimmte Sachbereiche mitbringen, also eine dia- oder multilogische Politgesellschaft, eine zuhörende Gesellschaft nach Hanzi Freinacht.  

Wer mit Regierungsmacht ausgestattet ist, braucht sich nicht durch ein Besserwissen auszuzeichnen, sondern durch eine besondere Gabe, die richtigen Fragen an die richtigen Leute zu stellen und das Ganze der Gesellschaft immer im Auge zu behalten. Die Besserwisserei ist ein Hindernis für eine evolvierte Form der Machtausübung. 

Ein Modell für die Zukunft


Das ist ein Modell für die Zukunft: Experten kommen zusammen, die Politiker hören zu, Experten helfen bei der Evaluation des Expertenwissens und bereiten die Entscheidungsgrundlagen auf, mittels derer dann die Politiker entscheiden. Die Folgen der Entscheidungen werden von den Experten evaluiert und die Maßnahmen werden dann notfalls rückgängig gemacht oder verbessert und den veränderten Bedingungen angepasst.  

Österreich hatte durch die Gunst der Umstände die Chance, für einige Monate das Experiment einer Expertenregierung zu erproben. Die Zufriedenheit mit dieser Regierung in der Bevölkerung war hoch, die Abwesenheit von Ideologien als bestimmenden Momenten für die Machtausübung wurde offensichtlich nicht vermisst. Politik, die die Experten gehört hat und hinter sich weiß, genießt offensichtlich mehr Vertrauen als eine, die nur durch perfekte mediale Selbstdarstellung glänzt oder Ideologien vor sich her trägt. 

Die Corona-Zeit könnte ebenfalls als wegweisend in diese Richtung genutzt werden: Die politische Macht in den Dienst einer Problembewältigung mit ausgewogener Berücksichtigung der sachlichen und der sozialen Notwendigkeiten unter Einbeziehung der Wissensressourcen aus den Wissenschaften zu stellen.  

Politik kann es nie allen recht machen, das gelingt uns schon im Kleinen von Familien oft nicht. Auch das zeigt die Corona-Zeit: In einer entwickelten Gesellschaft wird es immer unterschiedliche Meinungen und Sichtweisen geben. Die oft extrem weit auseinanderliegenden Gefahreneinschätzungen und subjektiven Perspektiven auf das Phänomen dieser Infektion und die starken Emotionen, die davon ausgelöst werden, weisen einerseits darauf hin, dass eine entwickelte Gesellschaft einen weiten Toleranzbereich benötigt, und andererseits, dass sie von ihren Mitgliedern verlangen müsste, die eigene Emotionalität soweit zu kennen, um unterscheiden zu können, ob situationsadäquate Realitätswahrnehmungen möglich sind oder kindliche Erfahrungsmuster die Reaktionskontrolle übernommen haben. 

Der Vorzug von Expertenwissen besteht darin, dass es in der Regel unabhängig von eigenen Interessen und Werthaltungen ist und dass es also einen höheren Objektivitätsgehalt hat als alle anderen Formen des Wissens. Dieses Wissen entsteht in Prozessen permanenter Rückkoppelung und Überprüfung und wird laufend verbessert und weiterentwickelt. Es entzieht sich damit der Verfügungsgewalt von Einzelnen, die immer manipulations- und korruptionsanfällig sind.  

Deshalb braucht auch eine Politik, die die Gesellschaft in einer allen Mitgliedern dienlichen Weise weiterentwickeln möchte, eine Rückkoppelung zu solchen Formen des Wissens. Auch politische Entscheidungen müssen permanent evaluiert werden, nicht nur im Sinn ihrer vordergründigen Popularität oder Akzeptanz, sondern auch im Sinn der Effektivität und Verträglichkeit in Hinblick auf die Gleichheit in der Gesellschaft und auf die Natur im Ganzen.  

Das Virus, das uns in Bann hält, zwingt uns genau dazu. Wenn wir einen Funken unseres Verstandes nutzen, wird er uns nahelegen, diese Form des Politikmachens mit Rückkoppelungen zum Expertenwissen und Zuhören auch für andere Bereiche der Zukunftsgestaltung zu verwenden.