Montag, 24. Juni 2013

Auf der Jagd nach der eigenen Freiheit

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind auf der Jagd – nach Edward Snowden. Er hat Staatsgeheimnisse verraten, die virtuell jeden Menschen auf der Erde betreffen.

Die USA sind ein freiheitsliebendes Land, kein anderer Begriff begleitet das Land seit seinem Anbeginn, wird in allen präsidialen und sonstigen Sonntagsreden propagiert und wird allen anderen Staaten als Mahnmal vor die Nase gehalten: Ihr müsst so frei und demokratisch werden wie wir, sonst können wir mit euch nicht befreundet sein.

Da hat ein mutiger US-Bürger gewagt, großangelegte Machenschaften im Ausspionieren der Kommunikationsnetze dieser Welt, zumindest in den Grauzonen der Legalität, zu veröffentlichen. Er hat, im Geist der Gründerväter und Freiheitsmenschen der USA, die Freiheit der Informationsweitergabe genutzt, um diese Freiheit, die massiv verletzt und eingeschränkt wurde, wieder einzufordern. Er hat ein System der Verschleierung und der Lüge aufgedeckt, das einer freien Demokratie nicht würdig ist.

Weil dieser Staat die Freiheit, die er so auf seine Fahnen heftet, selber nicht aushalten kann, wenn er um seinen Machterhalt – nicht nur im eigenen Land, sondern auf der ganzen Welt – fürchtet, soll ein Individuum vernichtet werden, das sich gerade dieser Freiheit bedient hat. Diesen Widerspruch exerziert die Obama-Administration der Welt mit einer Arroganz vor, die auf einen eklatanten Realitätsverlust hinweist. Es wird nur mehr ein Bedrohungsszenarium fantasiert, das alle Maßnahmen rechtfertigt, ob sie irgendwelchen Rechts- oder Moralnormen gehorchen oder nicht.

Der Kriegszustand, in dem sich das Land seit 2001 mit dem „Terrorismus“ befindet, wurde nie beendet, er wird vermutlich für den Rest der Geschichte weiterbestehen, außer – wie der Verfasser überzeugt ist –  eine Weltregierung nimmt dereinst dem verdutzten US-Präsidenten sanft lächelnd die Macht aus den Händen. Mit diesem verewigten „Kriegszustand gegen Unbekannt“, der die Institutionalisierung einer unbegrenzten Paranoia bedeutet, denn unbekannte Übeltäter wird es immer geben, wird die restliche Welt in Geiselhaft genommen.

Da kann der US-Präsident noch so schwungvoll sein Jackett ausziehen und große Worte zur Abrüstung schwingen – wer soll ihm da noch Glauben schenken, außer dafür, dass die plumpen Waffen der Vergangenheit durch die Waffen der Informationsgesellschaft ersetzt wurden. Es geht ja beim Krieg gegen den Terror nicht mehr darum, schurkische Staaten niederzuringen, sondern einzelne Individuen zu eliminieren, die den USA möglicherweise gefährlich werden könnten. Diese werden durch die Überwachung der Informationskanäle identifiziert und dann mittels immer weiter miniaturisierter Drohnen getötet – wo auch immer auf der Welt sie sich befinden. Lästige und langwierige Gerichtsverfahren werden nicht mehr gebraucht, wie das schon bei der Exekution von Osama bin Laden vorgeführt wurde. Da alles im Graubereich abläuft, gibt es nicht einmal mehr Aufzeichnungen über die „kollateralen Schäden“, die angerichtet werden, wenn neben der Zielperson harmlose Passanten massakriert werden, oder über einfache Irrtümer, durch welche Unschuldige gezielt als Terroristen umgebracht werden.

Doch die USA sind ein freiheitsliebendes Land. Edward Snowden hat es bewiesen, und viele andere Amerikaner wissen um die Werte ihres Landes und treten dafür ein. Der Diskurs geht weiter, die Öffentlichkeit besteht weiter, ob überwacht oder nicht, und das Bewusstsein der Freiheit wächst weiter, allen ihren Widersachern zum Trotz.

Vgl. Obama und Osama

Sonntag, 23. Juni 2013

Esoterik und Wissenschaft 1 - Zum Begriff der "Energie"

In der Wochenzeitschrift DIE ZEIT ist am 16. Mai 2013 ein Schwerpunktthema zur Esoterik unter dem Titel „Die Renaissance der Unvernunft“ erschienen. Nachdem mich der Begriff der Esoterik immer wieder beschäftigt (es gibt dazu ein Diskussionsforum auf der Weltinnenraum-Seite), möchte ich zu einzelnen Beiträgen in der ZEIT ein paar Bemerkungen machen. Hier zunächst ein Kommentar zum Begriff „Energie“.

Ein Beitrag in der Zeitung widmet sich nämlich der Jargonkritik. Esoteriker verwenden gerne wissenschaftliche Begriffe für „Hokuspokus“, wie es der Autor ausdrückt: Energie, Feinstofflichkeit, erweiterte Empirie, Quantentheorie und Paradigmenwechsel.

Der Begriff der „Energie“ ist tatsächlich ein recht vages Gebilde, aber offenbar benötigen wir ihn in Ermangelung eines besseren. Manche professionelle Skeptiker schreien gleich auf, wenn jemand den Begriff der „Energie“ in einem nicht-physikalischen Sinn verwendet, so als hätte die Physik das Patent auf dieses Wort und jeder potentielle Verwender müsste erst einmal bei einem physikalischen Universitätsinstitut um Erlaubnis nachsuchen, bevor er das Wort aussprechen darf.

Die Aufregung ist aber meist umsonst. Es ist wohl den meisten Esoterikern und Nichtesoterikern klar, dass, wenn sie von Energie reden, nicht der strenge physikalische Bezugsrahmen gemeint ist.

Physikalisch ist mit Energie die Fähigkeit gemeint, Arbeit zu leisten, wobei Arbeit mit Kraft mal Weg definiert ist. Wenn jemand sagt, er habe nicht genug Energie, um z.B. nach einem langen Arbeitstag noch dieses oder jenes zu unternehmen, so denkt er dabei nicht an die Physik, sondern an seinen eigenen Körper und Seelenzustand, der ihm signalisiert, was er braucht. Diese Person verwendet einen Begriff, der offenbar die innere Befindlichkeit wiederzugeben vermag, so, dass sie auch von anderen verstanden wird (wenn es nicht gerade ein notorischer Skeptiker ist). Allerdings wird auch hier auf die Fähigkeit, Arbeit zu verrichten, Bezug genommen: Meine Energie ist so, dass ich dies machen kann und das andere nicht.

Der Unterschied liegt nur darin, dass die Energie im physikalischen Setting anders gemessen wird als im alltäglichen. In der Physik kann man nur von Energie sprechen, wenn die Messgeräte dies anzeigen. Im Alltag nehmen wir als Messgeräte z.B. unseren inneren Sinn, der uns Bescheid gibt, wie wir „energetisch“ drauf sind. Die Physik stellt Energie „objektiv“ fest, also von außen, und so, dass jeder das nachprüfen kann, der Alltagsgebrauch verwendet ihn „subjektiv“, auf die Innenschau angewandt und so, dass er nicht nachgeprüft werden kann, ähnlich wie jemand, der einen Schmerz „ohne Befund“ hat, d.h. dass objektiv kein Defekt festgestellt werden kann und trotzdem ein subjektives Leiden vorliegt.

Wenn Esoteriker oder Energetiker von Energie reden, (z.B. jemand legt einer Person die Hand auf den Rücken und sagt: „An dieser Stelle ist wenig Energie“), so ist damit nicht der physikalisch-wissenschaftliche Begriff gemeint, und die Person wird auch nicht davon ausgehen, dass der esoterische Behandler eine physikalische Aussage trifft. Dennoch geht es auch hier  um einen erweiterten Begriff von Energie, denn der Behandler will offenbar mitteilen, dass der betreffende Bereich des Rückens eine bestimmte Arbeit nicht verrichten kann.

Die Angst der Esoterik-Kritiker, dass mit dem Gebrauch des Wortes „Energie“ einem naiven Kunden etwas als wissenschaftlich verkauft wird, was nicht wissenschaftlich ist, ist nur dort nachvollziehbar, wo betrügerisches Marketing für bestimmte Produkte oder Dienstleistungen betrieben wird und nichtmessbare Größen als messbare ausgegeben werden. Aber solche Betrügereien gibt es in esoterischen wie in nicht-esoterischen Kreisen. Gegen Schwindel ist es immer gut, sich ausreichend mit kritischem Rationalismus zu wappnen und z.B. nachzufragen, ob oder wie ein bestimmter Effekt eines Produkts denn wissenschaftlich gemessen werden könne.

In allen anderen Belangen geht es nur darum, dass sich die Gesprächspartner über den Kontext verständigen, in dem sie von Energie reden. Führen sie gerade einen Diskurs über Mechanik oder über Geistheilung?

Eine sinnvolle Anregung, die wir aus der Diskussion um den Energiebegriff nehmen könnten, wäre die, dass wir uns immer auch überlegen, ob es ein anderes Wort gibt, wenn wir versucht sind, von Energie zu reden. Das macht uns klarer, welchen Kontext wir meinen, und unsere Rede kann exakter werden. Auch können wir dann u.U. mehr Menschen erreichen, die kein Vor- oder Insiderwissen haben müssen. Wenn sich kein anderes findet, gibt es vielleicht auch keines. Schließlich haben wir auch im Bereich der Innenwelt in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten Entdeckungen gemacht, für die das vorhandene Sprachmaterial zur Beschreibung nicht ausreicht.


Vgl. Was ist Esoterik?

Mindestsicherung und sozialer Grundkonsens

"Drei Viertel der Österreicherinnen und Österreicher sind gegen Kürzungen beim Sozialstaat. Das ist das Ergebnis des ersten Volkshilfe Sozialbarometers. Eine klare Mehrheit hat sich für die Anhebung der Mindestsicherung ausgesprochen, und auch einen Mindestlohn halten vier von fünf Befragten für wichtig.“ (ORF-Radio 21. Juni 2013)

Kapitalismus und Industrialisierung haben die soziale Welt gründlich umgekrempelt. Die Arbeitsverhältnisse in den Fabriken haben dazu geführt, dass sich die Sozialformen, die vorher den sozialen Zusammenhalt gesichert haben, aufgelöst haben. In vorindustriellen Zeiten hat es dörfliche oder städtische Gemeinschaften gegeben, die sich um alle Angehörigen gekümmert haben, natürlich sozial abgestuft und unterschieden. Aber die in Not geratenen Menschen sind – außer in Notzeiten – nicht einfach auf den Straßen verstorben, sondern wurden in irgendeiner Weise von Angehörigen versorgt. Schlimm war es nur, wenn es keine Angehörigen gegeben hat, doch oder deshalb war es Teil der ritterlichen Tugenden und bürgerlichen Pflichten, für die Witwen und Waisen zu sorgen.

Die modernen Arbeitsverhältnisse haben zur Auflösung der gemeinschaftlichen Sozialformen und Absicherungsnetze beigetragen. Jeder sollte schauen, wie er selber zurechtkommt und sein Überleben sichern kann, so der Imperativ der Leistungsmaximierer. Doch konnte dieses Prinzip nie zur vollständigen Geltung gelangen, weil es sich selber aufgehoben hätte – auch der erfolgreichste Leistungsträger kann unter die Räder kommen – oder hat Freunde und Verwandte, die es nicht schaffen, auf die sichere Seite zu kommen.

Es gibt diesen Grundkonsens zumindest in vielen Ländern Europas, dass der Staat die Funktionen der zerstörten vorindustriellen Sozialnetze übernehmen soll. Die Fürsorge für Mitglieder der Gesellschaft, die dem Leistungsprinzip weniger optimal entsprechen können (Kranke, Behinderte, Traumatisierte), oder solche, die nur Leistungen mit wenig Nachfrage erbringen können, übernimmt die Allgemeinheit. Damit wird die Überlebenssicherung der „Schwächeren“ abstrakter, d.h. sie werden nicht von ihren Angehörigen versorgt, sondern von Institutionen, die auch die Kontrolle gegen Missbrauch ausüben.

Allgemeiner gesagt, übernimmt das wirtschaftlich-gesellschaftliche System des Kapitalismus die Funktionen der sozialen Absicherung von den Sozialstrukturen, die es vorher zerstört hat. Damit bleibt ein gewisser sozialer Zusammenhalt in der Gesellschaft gewährleistet, der wiederum das Weiterwachsen des Kapitalismus fördert.

Der Grundkonsens, der diese Entwicklung mehr oder weniger stark trägt (politische Parteien positionieren sich gerne an den Rändern dieses Konsenses), sichert zugleich, dass die Gesellschaft, in die das kapitalistische Produzieren und Konsumieren eingebettet ist, eine menschliche bleibt. Dafür ist ausschlaggebend, dass jedes Mitglied dieser Gesellschaft die gleichen Grundrechte auf Leben und Lebenserhalt hat. Würde dieses aufgegeben, wäre die Gesellschaft als Ganze dem Zerfall anheim gegeben. Der Konsens ist also nicht wirklich beliebig oder aus einer inneren Haltung der Großzügigkeit oder der Barmherzigkeit erwachsen. Seine Aufgabe würde die Aufgabe des sozialen Zusammenhaltes überhaupt zur Folge haben.

Deshalb haben alle, die das soziale System mehr beanspruchen als andere (weil sie z.B. behindert sind), die gleiche Würde wie jemand, der so mit Gesundheit gesegnet ist, dass er nie zum Arzt gehen muss und so leistungsfähig und arbeitsbegeistert ist, dass er nie eine Pension in Anspruch nimmt. Die Verachtung und Abwertung, die manchmal Menschen entgegengebracht wird, die das soziale Netz zur Sicherung ihres Überlebens brauchen (Trittbrettfahrer, Sozialschmarotzer…), ist eine Verachtung des sozialen Grundkonsenses, ohne den die Verachter nie in eine Position gekommen wären, aus der sie auf andere herabschauen können, die weniger leisten als sie selber. Deshalb ist jede Polemik in die Richtung der sozial schwächeren Mitglieder der Gesellschaft ein Angriff auf die Basis dieser Gesellschaft und muss zurückgewiesen werden.

Vielmehr gilt es, als Mitglied der Gesellschaft allen anderen Mitgliedern Respekt und Achtung entgegenzubringen und sie in ihrer Würde zu sehen. Niemand braucht ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn das gesellschaftliche System immer wieder den gerechten Ausgleich zwischen denen, die es besser erwischt haben und jenen, die schlechter dran sind, sucht. Dieser Ausgleich bedeutet auch die Mindestsicherung der Menschenwürde für alle, die mit ihrem Sosein zum Sosein der Gesellschaft beitragen.


Vgl. zu Reichtum und Eigentum

Montag, 17. Juni 2013

Vom Geben und vom Nehmen

Das Leben ist ein Geben und ein Nehmen, ein permanenter Austausch mit dem, was uns umgibt. Auf eine einfache Formel gebracht, könnte das Geheimnis des guten Lebens darin bestehen, immer im Gleichgewicht von Geben und Nehmen zu sein. Geben wir zuviel und bekommen wir zu wenig, fühlen wir uns ausgelaugt und ausgebrannt. Nehmen wir zuviel und geben wir zu wenig, fühlen wir uns aufgeblasen und überfüttert. Erst im ausgeglichenen Austausch fühlen wir uns in Balance und auf Augenhöhe mit unserer Umwelt.

Wie aber finden wir dieses Gleichgewicht? Wo finden wir die Richtschnur für unser Handeln, an der wir ablesen können, wann wir zu stark in die eine oder in die andere Richtung gehen, sodass wir rechtzeitig zurücksteuern können? Meist erkennen wir ja reichlich spät, wenn wir zu lange einseitig unterwegs waren. Und dann haben wir oft den Eindruck, dass es schon zu spät ist – eine Krankheit hat uns erwischt und macht uns bewusst, was schief gelaufen ist, eine Beziehung geht in Brüche, und erst jetzt erkennen wir, was schon lange aus dem Lot ist.

Der Mangelmodus


Ich finde es wichtig, zwei Ebenen oder Grundeinstellungen bei dieser Frage zu unterscheiden. Die eine Ebene kann als Mangelmodus bezeichnet werden. Damit ist gemeint, dass wir in unserem Verhalten von Bedürfnissen angetrieben sind. Wir verspüren einen Mangel, den wir versuchen aufzufüllen. Ein Bedürfnis ist unbefriedigt und will befriedigt werden. Wir fühlen uns z.B. einsam, wir fühlen einen Mangel an menschlicher Nähe, und haben das Bedürfnis, mit jemand anderem zusammenzusein. Wenn das gelingt, ist der Mangel beseitigt, und das Leben geht wieder weiter.

Die Bedürftigkeit im Mangelmodus bedeutet, dass wir weniger zu geben haben und darauf angewiesen sind, zu bekommen. Damit befinden wir uns in der Position des kleinen Kindes gegenüber seinen Eltern oder Betreuungspersonen. Es hat Bedürfnisse, und ist auf das Wohlwollen und Entgegenkommen der Großen angewiesen, dass diese Bedürfnisse erfüllt werden. Denn es kann noch nicht selber dafür sorgen.

Die guten Eltern brauchen die Einstellung, den Kindern das zu geben, was sie brauchen, ohne Rücksicht darauf, was sie von ihnen zurückbekommen. Denn auf der Ebene der Überlebenssicherung können Kinder nie zurückgeben, was sie empfangen haben. Das ist auch nicht das Maßgebliche des Unterfangens, Kinder zu bekommen. Vielmehr geht es dabei darum, das Leben in der Weise weiterzugeben, dass Kinder alles bekommen, was sie brauchen, damit sie selber einmal in der Lage sind, an ihre Kinder ebenso bedingungslos weiterzugeben.

Geraten wir als Erwachsene in die Position, dass wir einen Mangel zu spüren und andere Menschen dafür in die Pflicht nehmen wollen, dann begeben wir uns in die Rolle eines Kindes. Daran ist nichts grundsätzlich Verwerfliches, nur sollte es uns bewusst sein. Erwachsensein bedeutet, dass wir in einem Mangelzustand immer die Möglichkeit haben, uns selbst zu helfen und den Mangel aufzufüllen. Wenn wir uns einsam fühlen, können wir auch eine liebevolle Beziehung zu uns selbst aufbauen oder schauen, ob wir eine Ansprechperson in einem der sozialen Netze finden können, die wir um uns gesponnen haben, um unser Nähe- und Austauschbedürfnis zu befriedigen.

Jedenfalls sollten wir als Erwachsene nicht andere für die Stillung unserer Nöte verantwortlich machen und ihnen die Schuld geben, dass es uns an etwas mangelt. Wenn uns das unterläuft, rutschen wir in die Bedürftigkeit des Kindes, das wir einmal waren, und das in unserem Unterbewusstsein weiterlebt. Seine Bedürftigkeit kommt aus den nicht geheilten Wunden, die entstanden sind, als in dieser Zeit wichtige Bedürfnisse überhaupt nicht, nur mangelhaft oder unzureichend gestillt wurden. Dann bleibt die Verletzung in uns und wird wieder aktiviert, sobald eine ähnliche Situation in unserem Erwachsenenleben auftaucht.

Das Bedürfnis meldet sich mit der gleichen Vehemenz, wie es uns als Kind geplagt hat. Nur haben wir jetzt andere Mittel, um die Befriedigung einzuholen: die ganze Palette der Emotionalität, die wir mit Hilfe unseres inneren Kindes wiederbeleben, und die Mittel unserer Rationalität und verbalen Sprache, mit deren Hilfe wir alle Register der Beeinflussung und Manipulation unserer Mitmenschen ziehen können.

Strategien im Umgang mit dem Mangel


Als wir noch klein waren, hatten wir in der Notsituation zwei Möglichkeiten, um mit dem Spannungsfeld von drängenden Bedürfnissen und mangelnder Versorgung zurechtzukommen. Zuerst mobilisiert der Organismus alle Ressourcen, die er zur Verfügung hat, und es kommt zu einem Wutausbruch. Wenn das nichts hilft und die Wutressourcen verbraucht sind, bleiben uns nur die Resignation und der innere Rückzug. Wir unterdrücken das Bedürfnis und geben uns zufrieden mit dem, was wir sonst wie kriegen können.

Diejenige Strategie, die in den frühen Zeiten unseres Lebens erfolgreicher war, wird sich melden, wenn wir als Erwachsene in ähnliche Situationen geraten, die uns in Stress versetzen, weil wir etwas nicht kriegen, was wir glauben, dass wir es unbedingt brauchen. Entweder kämpfen wir, indem wir zornig werden und Forderungen aufstellen, oder wir resignieren und ziehen uns beleidigt zurück.

Jedenfalls: Sobald wir anfangen, andere Menschen für die Befriedigung unserer Bedürfnisse verantwortlich zu machen, sind wir von den Dramen unserer Kindheit gesteuert und vergessen unsere erwachsene Fähigkeit, unser Leben mit seinen Wünschen und Bedürfnissen selbst in die Hand zu nehmen.

Der Überflussmodus


Menschen sind soziale Wesen und wollen tauschen und austauschen – Streichel- und Informationseinheiten. Wir freuen uns am Geben und am Nehmen, wenn es aus freien Stücken und aus den Tiefen des Selbst kommt, also ohne Berechnung und versteckte Erwartung. Wenn wir etwas gerne geben, heißt das, dass im Geben zugleich ein Nehmen ist, dass das, was die andere Person bereichert, uns selber reicher macht. Wir sehen das dankbare Leuchten in den Augen des Empfängers und fühlen uns selbst dadurch beschenkt.

In jeder Arbeit, die anderen Menschen Gewinn und Freude bringt, fließt Gewinn und Freude zu uns zurück. Das geschieht dann, wenn unser Geben aus einem inneren Überfließen kommt, wenn wir so viel in uns haben, dass wir es nicht bei uns behalten wollen. Wir erkennen, dass wir unsere Bedürfnisse erfüllen können und dass mehr da ist, als wir für uns selber brauchen. Dann wird es selbst zum Bedürfnis zu geben und andere am Überfluss teilhaben zu lassen.

Dieses Geben ist ohne Hintergedanken und Bedingungen, weil es seine Belohnung in sich trägt. Manchmal geben wir, um kriegen zu können. Dann sind wir im Mangelmodus. Statt des freien Fließens, machen wir Geschäfte miteinander. Je mehr ich dir gebe, desto mehr muss ich von dir kriegen. Hier passt der Satz von Emma Goldman: „Wenn man Liebe nicht bedingungslos geben und nehmen kann, ist es keine Liebe, sondern ein Handel.“ 

Sind wir dagegen mit unserer Liebesfähigkeit verbunden und schmecken vom Geschmack der großen Liebe, die alles durchwebt und durchströmt, dann wird es sinnlos zu sagen, wir würden mehr geben als wir bekommen.

Es mag hilfreich sein, wenn wir uns vorstellen, was wir vom Ganzen des Lebens in jedem Moment empfangen. Allein, dass wir leben dürfen, in diesem riesigen All, auf diesem riesigen Planeten, inmitten dieser riesigen Menschheit, in unserer Winzigkeit und zugleich genialer Eigenart, können wir als Wunder empfinden. In diesem Staunen können wir uns von jedem Mangelmodus lösen, der uns suggerieren will, dass es zu wenig ist, was wir bekommen und zu viel, was wir geben müssen.

Dankbarkeit ist das Grundgefühl des Überflussmodus. Es ist mehr eine Einstellung als ein Gefühl, eine Haltung, die wir dem Leben gegenüber einnehmen, wenn wir Verantwortung für uns selber und für unsere Erfahrungen übernehmen. Es ist so viel da in uns und um uns herum, wir brauchen nur wahrzunehmen, wie wir im dauernden Austausch sind, im Fließen zwischen uns und dem, was uns umgibt. Wir erkennen dann, dass wir nichts anderes sind als ein sich ständig wandelndes Ergebnis dieses Austausches, in dem es all das Geben und Nehmen in jedem Moment zu einem neuen Gleichgewicht findet.

Vgl. Geben und Nehmen