Montag, 19. April 2021

Einsamkeit und Sehnsucht

Als Erwachsene wissen wir, dass wir immer Menschen um uns haben, die manchmal anwesend sind und manchmal nicht, und dass auf Phasen des Alleinseins Phasen der Zweisamkeit oder des Zusammenseins in einer Gruppe folgen. Wir wissen, dass wir verbunden sein können, auch wenn gerade niemand da ist. Wir wissen, dass wir alleine gut mit unserem Leben zurecht kommen können und dass wir dafür sorgen können, jemanden zu treffen, wenn sich das Bedürfnis danach meldet.

Dennoch kann uns das Gefühl der Einsamkeit beschleichen, vor allem dann, wenn wir uns verlassen fühlen. Jemand ist nicht da, der da sein sollte. Und es ist ungewiss, ob er oder sie jemals wieder kommen wird. Jemand ist gegangen, und wir fallen in ein Loch der Einsamkeit. Wenn sich Liebespartner trennen, ist das so, „als wäre es ein Stück von mir“, das da verloren gegangen ist. Vor allem, wenn die projektive Identifikation besonders stark war.

Die Wurzeln von intensiven Einsamkeitsgefühlen liegen in vielen Fällen in einer vorgeburtlichen Zwillingsdramatik oder in frühkindlichen (nachgeburtlichen) Verlassenheitserfahrungen, z.B. bei einer Trennung des Babys von der Mutter gleich nach der Geburt. Wir Menschen sind soziale Wesen ganz von Anfang an, weil wir auf einer genetischen Ebene wissen, dass unser Ins-Leben-Treten und unser weiteres Überleben von der Unterstützung und dem Wohlwollen von anderen Menschen abhängt. Deshalb mobilisiert jede frühe Erfahrung, alleingelassen zu werden, existenzielle Bedrohungsgefühle. Im Unbewussten abgespeichert werden diese Gefühle später wiederbelebt, wenn es zu einer Trennungserfahrung kommt, die nicht verstanden und integriert werden kann.

Frühe Erfahrungen von Trennung und Verlassenwerden stellen eine Kränkung des Selbstwertes dar, und in den ersten Stadien der Entwicklung, in denen dieses Selbst noch sehr fragil ist, kann sich daraufhin dieser Selbstbezug nur unzureichend aufbauen. Es handelt sich hier um den primären Narzissmus, um die ursprüngliche Selbstbezüglichkeit, um die Basis des Selbstwertes, die in Mitleidenschaft gezogen wird. Wenn der primäre Narzissmus frustriert und beschädigt wird, ist die Entstehung des sekundären Narzissmus, einer krankhaften Form der Selbstbezüglichkeit, grundgelegt. Narzissten sind Persönlichkeiten, die sich unverstanden und einsam fühlen und dauernd Nähe herstellen müssen, um Bewunderung und Verständnis zu bekommen und die Einsamkeitsgefühle zu kompensieren.

Angst und Scham in Kombination

Was die Einsamkeit, also das Leiden am Alleinsein, zu einem quälenden Gefühl  macht, ist die doppelte Aufladung durch zwei unserer mächtigsten Emotionen: eine tiefsitzende Angst einerseits und eine intensive Scham andererseits wirken zusammen. Neben der Zwillingsthematik sind es vor allem frühe traumatische Erfahrungen des Verlassenseins, Ignoriertwerdens oder der Ablehnung durch Bezugspersonen, die in intensiven Einsamkeitsgefühlen verborgen sind. Die Angst besteht darin, dass das eigene Überleben in Gefahr ist, wenn niemand da ist. Die Scham der Einsamkeit befindet sich nahe an der Urscham und rührt aus der Annahme, es nicht wert zu sein, dass jemand da ist. Das Fehlen der Liebe, das durch die Abwesenheit einer bestimmten Person schmerzhaft spürbar wird, ist auf zweierlei Weise bedrohlich. Denn die empfundene Bedrohung drückt sich in den beiden Gefühlen von Angst und Scham aus: Die Gefahr des individuellen Todes, weil niemand da ist, der die Versorgung der Basisbedürfnisse sicherstellt, und die Gefahr des sozialen Todes, weil niemand da ist, dem die eigene Existenz wichtig und wertvoll und damit erhaltenswert  ist.

Dramatische Beziehungstrennungen

Beziehungstrennungen im Erwachsenenalter bekommen ihre Dramatik aus dieser an entlegenen Orten der Seele gespeicherten existenziellen Gefahrenerinnerung. Oft wird alles unternommen bis hin zu Gewaltakten, um der Drohung der Einsamkeit zu entkommen: Die andere Person darf mich auf keinen Fall verlassen, sonst gerate ich in die unabsehbare Gefahr des individuellen und des sozialen Todes. Eher töte ich diese Person als dass sie mich verlässt. Eine Pressemitteilung dazu: „Die meisten der Männer, die dieses Jahr eine Frau töteten, waren gerade frisch getrennt oder befürchteten eine Trennung.“ (derstandard.at)

Paare klammern sich aneinander wie Ertrinkende, auch wenn ihre Beziehung äußerst schwierig ist und fortwährend zu wechselseitigen Verletzungen und Demütigungen führt oder von jeder Lebendigkeit entleert ist. Besser eine aufreibende und energieraubende oder totgelaufene Beziehung als alleine übrig zu bleiben und die Marter der Einsamkeit erdulden zu müssen, so denken viele Leute, die in dysfunktionalen Beziehungen leben und leiden. Oder jemand läuft einer Person nach, die er/sie gerade mit Hass von sich weggedrängt hat.

Die Angst vor der Einsamkeit ist allmächtig, wenn sie aus kindlichen Verlassenheitsgefühlen entstanden ist. Sie kann eine ganze Bandbreite von Verhaltensweisen und Reaktionen auslösen – von Tötungshandlungen an anderen bis zur Selbsttötung, von Depressionen bis Suchtkrankheiten. Sie führt zum Drang nach Ablenkungen und Zerstreuungen.

Sehnsucht, die kleine Schwester der Einsamkeit

Ist das Gefühl der Einsamkeit einmal da, meldet sich schnell die kleinere Schwester, die Sehnsucht. Sie fügt der bitteren Einsamkeit einen süßen Geschmack bei, ein Stück fantasierten Trostes. Sie weist hin auf die Befreiung aus der qualvollen Einsamkeit. Die Sehnsucht weiß, wo das Glück zu finden ist. Sie präsentiert ein leuchtendes Bild der Erlösung aus dem Leiden.

„Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide,“ heißt es in dem bitterschönen Schubertlied. Das Leiden liegt im Verlassensein, im Kontaktverlust, in der Existenzangst und Existenzscham. Aus dem Leid will uns die Sehnsucht herausziehen wie Münchhausen mit seinem Zopf. Sie verheißt uns das Objekt unseres Begehrens, die Lichtgestalt, die alles hat, was uns glücklich macht. Irgendwo wartet jemand darauf, uns zu geben und von uns zu kriegen, was das Erfüllendste auf Erden ist: Das Fließen der reinen Liebe. 

Die Sehnsucht als Ausweg

Doch ist die Sehnsucht nur dann ein Ausweg aus der Einsamkeit, wenn wir sie konstruktiv nutzen, statt folgenlos in ihr zu schwelgen. Wir verlieren uns also nicht in Träumen und Wunschfantasien, sondern fragen uns: Was ist zu tun? Wie kann ich meine Situation verbessern? Was brauche ich dafür? Mit der Bereitschaft zum Handeln kommen wir aus der Fantasiewelt in die Wirklichkeit, aus der Welt der Illusion in die des Tuns. Wir nehmen unser Schicksal mit Selbstverantwortung in unsere Hand und gehen weiter im Leben, heraus aus dem Gefängnis des Einsamkeitsgefühl und der Scheinspannung der Sehnsucht. Wir öffnen uns für die Überraschungen und Wunder, die das Leben für uns bereithält und verbinden uns mit der Kraft, mit der wir die kommenden Herausforderungen meistern können. 

Wenn sich das alte Einsamkeitsgefühl meldet, nehmen wir es an, ohne uns im Weitergehen behindern zu lassen. Vielleicht findet sich das, was wir suchen, hinter der nächsten Ecke, vielleicht taucht es erst viel später auf, vielleicht ist es schon da, ohne dass wir es bemerken. Vielleicht tritt es in einer anderen Gestalt in unser Leben oder zeigt sich nur in Aspekten. Statt uns nur auf die Wünsche und Fantasien zu fixieren, gehen wir mit offenen Augen und Ohren die Schritte weiter, die uns das Leben vorgibt.

Zum Weiterlesen:
Die bittersüße Sehnsucht
Digitale Einsamkeit: Covid und Psyche
Die Hölle der Beziehungslosigkeit
Die Trennungstheorie und wie wir wieder mit uns eins werden

Mittwoch, 14. April 2021

Respekt, Rudi Anschober!

Der österreichische Gesundheitsminister Rudi Anschober ist zurückgetreten. Sein großer persönlicher Einsatz für das Amt und für die damit verbundene Verantwortung für die Gesundheit aller hat zu viel an der eigenen Gesundheit eingefordert. Wie das sonst Politiker wie die Pest vermeiden, hat er öffentlich seine Schwäche eingestanden und daraus die Konsequenz gezogen. Und mit diesem mutigen Schritt setzt er ein Beispiel – für alle, die ein politisches Amt bekleiden, und für alle anderen auch, die Schwächen haben.  

Schwächen werden in der Politik gerne als Führungsschwächen ausgelegt; vertrauen kann „der kleine Mann“ ja nur starken Figuren. Denn sie alleine garantieren Sicherheit und Zuversicht, dass alle Probleme von oben gelöst werden können. Deshalb präsentieren sich Politiker gerne in ihren Stärken. Präsident Putin hat sich unzählige Male mit seinen Muskeln fotografieren lassen, Ex-Präsident Trump hat verbal bei jeder Gelegenheit seine Muskeln auf dem Klavier der Unverschämtheiten spielen lassen und Präsident Bolsenaro rühmt sich seiner Sportlichkeit und hat verkündet, dass ihm deshalb kein Virus etwas anhaben kann. Dazu kommt: Ein starker Mann weint nicht. 

Psychologisch ist klar: Je schwächer sich das eigene Ich fühlt, desto stärker muss die Identifikationsfigur erscheinen, die diese Schwäche ausgleicht. Jeder also, der sich seiner eigenen Schwächen schämt, erwartet von seinen Leitfiguren Stärke und unendliche Belastbarkeit. Umso wichtiger ist ein Gegenbeispiel: Im Einbekennen der eigenen Schwäche (und der Scham darüber) eine Kraft zu gewinnen, die jede aufgebauschte äußerliche Stärke übertrifft. 

Die Schwächen der Mächtigen bleiben indes im Allgemeinen geheim. Folglich wirkt es wohltuend, wenn ein Mächtiger auf Macht verzichtet, weil er sich seiner Endlichkeit bewusst ist und sich selber wichtiger nimmt als die Macht. Wir haben nur diese eine Gesundheit und unseren Körper, für die wir voll verantwortlich sind, und dem die Priorität zu geben, ist eine Botschaft, die einem Gesundheitsminister würdig ist. “Ein Gesundheitsminister ist für die Gesundheit da, auch für die eigene” (Anschober bei seinem Abschied). 

Mit Anschobers Politik mögen nicht alle einverstanden sein – eine Politik, die alle zufriedenstellt, schafft kein Politiker, erst recht nicht in einer Zeit, in der das Gesundheitswesen aller Staaten dieser Welt vor der größten Herausforderung der letzten hundert Jahre steht. Populäre Entscheidungen können unter solchen Umständen nur schlechte Entscheidungen sein, und unpopuläre machen unbeliebt. Anschober hat bei seinen Stellungnahmen das Verständnis für diese Zwickmühle und für die vielen Betroffenen durchklingen lassen und hat das Verspielen der Volksgunst in Kauf genommen für das, was ihm sachlich, vernünftig und wissenschaftlich unterstützt als richtig in einem nachhaltigen Sinn erschienen ist. 

Seine ruhige und gelassene Art, mit der er die Pressekonferenzen und Interviews bestritten hat, hat viel zur Entemotionalisierung der Corona-Maßnahmen beigetragen. Das Einbeziehen von Experten und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen sowie die Gespräche mit Betroffenen und in den Problemzonen Tätigen sind Vorgangsweisen, die zukunftsträchtig sind, indem nicht mehr einsam oder in Machtzirkeln entschieden wird, sondern indem sich Teams aufeinander abstimmen und Entscheidungen in offenen Prozessen getroffen werden. 

Ich plädiere also dafür, Rudi Anschober zum Gesundheitsminister honoris causa zu ernennen, weil er in seinem Amt in mehrfacher Hinsicht ein Vorbild abgegeben hat und weil er indirekt angeregt hat, dass wir alle unsere eigenen Gesundheitsminister werden sollten: Indem wir auf uns selber zuerst schauen sollten, auf das, was unser Körper und unsere Seele brauchen, und danach unsere Leistungsfähigkeit usw. bemessen. Der Seinsmodus, den unser Körper und unsere Seele vorgeben, hat den Vorrang vor jedem Funktionsmodus, auch wenn dieser von vielen Teilen der Gesellschaft erwartet und eingefordert wird. Bleiben wir Menschen und überlassen wir das Maschinesein den Maschinen und überlassen wir das message controlling denen, die nicht merken, wie sie dabei zu Sprechrobotern werden. 

Chapeau, Rudi Anschober! 

Freitag, 9. April 2021

Feedback ohne Beschämung

Wie sag ich es, wenn mich etwas an anderen Personen stört?

Was wir gelernt haben: Die Absicht muss rüberkommen, die andere Person soll spüren, wie wichtig es ist, dass sie ihr Verhalten ändert.

Auf einen Fehler, eine Schwäche oder einen Makel aufmerksam gemacht zu werden, beschämt immer. Wir wollen ja von den anderen geliebt und akzeptiert werden, wie wir sind, und sobald etwas Unvollkommenes an uns sichtbar wird, fürchten wir um diese Liebe und Akzeptanz. Zugleich aktivieren wir unsere Schamabwehr. Denn das Schamgefühl ist äußerst unangenehm. Wir wollen nicht in unserer Blöße dastehen.

Wie also können wir ein kritisches Feedback geben, ohne die angesprochene Person zu beschämen? Schließlich ist es auch für uns nicht angenehm, wenn wir bei anderen Menschen Scham auslösen.

Bedürfnisse und Verletzungen ausdrücken

Zwei Elemente spielen bei dieser Kunst des Taktes eine Rolle. Erstens geht es darin, dass wir uns klarmachen, dass es zu unserer Aufgabe im Zusammenleben gehört, unsere Verletzungen und Bedürfnisse auszudrücken. Wenn uns etwas stört, stört es auch die Kommunikation und die Beziehung. Wir haben die Möglichkeit, die Rückmeldung zu unterlassen und uns zu entscheiden, mit der Störung weiterleben zu wollen. Dann übernehmen wir die Verantwortung für die Störung und haben keinen Grund mehr, der anderen Person böse zu sein oder sie abzuwerten. Die Störung gibt es ja in uns selber, sie besteht nicht objektiv, sondern kollidiert mit inneren Maßstäben, Wertsetzungen, Empfindlichkeiten. Wir machen etwas, das im Außen passiert oder nicht passiert, zu einem Problem, indem wir daran leiden. Dieses Leiden nicht zu kommunizieren hat zur Folge, dass wir uns selber darum kümmern müssen.

Wir können die Verantwortung für dieses Leiden aber auch so wahrnehmen, dass wir sie der anderen Person rückmelden. Es ist ein Bedürfnis von uns, das durch das Verhalten des anderen zu wenig berücksichtigt wurde. Es kann z.B. sein, dass uns schmutzige Fingernägel bei anderen stören. Wir nehmen sie wahr und empfinden Ekel. Wenn wir der anderen Person verschweigen, was uns stört, halten wir etwas zurück. Jede zurückgehaltene Botschaft wirkt als Hemmung in der Kommunikation und nimmt ihr an Offenheit. Die Einengung und Distanzierung im Kontakt, die dadurch geschieht, wird zwar von beiden Seiten wahrgenommen, kann aber nicht gedeutet werden und steht dann zwischen den beiden Personen, außer wir nehmen die Störung und das damit verbundene Problem, wie oben beschrieben, ganz zu uns selbst. 

Die Perspektive, aus der die Mitteilung des eigenen Bedürfnisses und seiner Störung kommen sollte, stammt aus der eigenen Subjektivität: „Ich teile dir etwas aus meiner Welt mit. Da tue ich mir schwer damit. Das stört oder irritiert mich und ich kann leider nicht darüber hinwegsehen. Ich teile es dir mit, damit du weißt, wie es mit deinem Verhalten geht.“

Absichtsloses Wünschen

Jetzt kommt der zweite und entscheidende Schritt. Es geht es darum, die Absicht wegzulassen, die natürlicherweise darin besteht, die andere Person zur Veränderung ihres Verhaltens zu bewegen, also z.B. die Fingernägel zu reinigen. Denn die Absicht bewirkt eine drängende Bitte oder eine Forderung, die besagt, dass die andere Person sich so verhalten soll, dass wir kein Problem mehr damit haben. Sie soll uns also unser Problem wegnehmen, indem wir es zu ihrem oder zu unserem Problem umwidmen.

Eine Rückmeldung ohne Veränderungsabsicht dagegen drückt sich als Wunsch nach einer Korrektur oder Veränderung aus. Der Wunsch unterscheidet sich von der Forderung, dass er der anderen Person jede Freiheit lässt, ihm nachzukommen oder nicht. Wir können einen Wunsch nur dann als Wunsch zum Ausdruck bringen, wenn wir uns innerlich im Klaren sind, dass wir auch gut damit leben können, falls der Wunsch abgelehnt wird. Und noch mehr: Dass wir die andere Person weiterhin wertschätzen können, auch wenn sie bei ihrem Verhalten bleibt, das uns stört.

Ein wichtiger Aspekt der Rückmeldung besteht darin, dass sie, wenn es um potenziell peinliche Themen geht, unter zwei Augen erfolgen soll. Das Ansprechen  von schambesetzten Themen braucht Privatheit. Die Anwesenheit von anderen Personen erhöht den Schamdruck.

Die Krux mit dem Fordern

Wir alle verfügen über Strategien der Schamabwehr. Wenn wir auf Schwächen, Fehler und Unzukömmlichkeiten angesprochen werden, hängt es von der Intention der Rückmeldung ab, ob wir mit Abwehr oder Offenheit darauf reagieren. Sobald unser Sensorium einen Druck vom Feedbackgeber wahrnimmt, wird unsere Verteidigungshaltung aktiviert. Wir reagieren dann je nach gewohnter Strategie mit einem Gegenangriff (wenn wir uns angegriffen fühlen), mit einem Ausweichmanöver, mit einer Rechtfertigung oder können der beschämten Position nicht entrinnen und sind voll von der Peinlichkeit der Situation belastet. Denn die Scham hat sich verdoppelt: Zum einen erkennen wir einen Makel an uns, zum anderen stehen wir mit diesem Makel vor der anderen Person, der wir mit diesem Makel ein Problem bereitet haben.

In jedem Fall ergibt sich eine Spannung in der kommunikativen Situation, und die Auflösung bleibt unbefriedigend. Zwar kann die Feedbackgeberin zufrieden sein, wenn sich die Empfängerin bereit erklärt, das eigene Verhalten zu verändern. Doch wird bei ihr ein Ressentiment bestehen bleiben, dass sie in eine beschämte Lage gebracht wurde, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass daraus irgendwann später ein Racheimpuls kommt.

Forderungen schaffen ein Machtgefälle: Die fordernde Person stellt sich über die geforderte. Sie will, dass ihr Wille umgesetzt wird, und besteht darauf mit der Drohung, dass sonst die Spannung aufrecht bleibt: Ich bin dir so lange böse, bis du tust, was ich will. Mit einer Forderung wollen wir signalisieren, dass es keinen anderen Weg zur Lösung für „unser“ Problem gibt, als dass die andere Person etwas ändert. 

Und das ist die Krux mit dieser Strategie: Wir treten die Verantwortung ab und das Machtgefälle dreht sich um. Wir sind in der hilflosen Rolle. Wir können niemanden zwingen, unseren Willen zu erfüllen. Wir können zwar mit Druck, Drohung, Erpressung, Manipulation usw. erzwingen, dass andere das tun, was wir wollen, aber sie tun das dann nur widerwillig und zahlen uns ihre Unterwerfung bei nächster Gelegenheit heim, direkt oder indirekt. Alles, was jemand gegen seinen eigenen Willen tut, hat keinen Bestand und keine Haltbarkeit und verbleibt als Knoten in der Beziehung.

Das Wünschen als Abhilfe

Ob das Wünschen hilft oder nicht, ist nicht die Frage. Es ist allerdings der Königsweg zu einer beschämungsfreien Kritik- und Feedbackkultur. Die Absichtslosigkeit ist der entscheidende Stolperstein auf diesem Weg. Denn wir verfolgen immer Absichten, wenn wir Kritik üben oder Feedback geben. Auf das Weglassen von Absichten müssen wir uns vorbereiten. Wir können nicht darauf hoffen, dass sie sich spontan einstellt. Sie erfordert das Üben von Achtsamkeit und das entspannte Eingehen auf den Partner, dem das Feedback gilt. Denn nur wenn wir entspannt sind und innerlich distanziert von der Angelegenheit, die uns stört, können wir uns von den aggressiven Aspekten des Vorwurfs und von der Dringlichkeit des Forderns verabschieden. Dann bietet sich der Weg des absichtslosen Wünschens an. Er hilft, die Kommunikation von den Fallen der Beschämung zu befreien.

Zum Weiterlesen:
Scham und Rache
Emotionale Erpressung und der Ausweg
Scham und Verletzlichkeit
Lernen ohne Belehrung
Von den Absichten zur Absichtslosigkeit

Donnerstag, 1. April 2021

Die verschüchterte und die böse Schwester: Scham und Rache

Jede Beschämung hat eine Rache zur Folge. Dieser Zusammenhang scheint in der menschlichen Psyche wie ein Naturgesetz zu wirken: Keine Beschämung ohne Rache. Beschämungen werden als Demütigung erlebt, als Verletzungen der eigenen Würde. Um den beschädigten inneren Wert wieder aufzurichten, muss ein Ausgleich geschaffen werden. Der Schaden, der geschehen ist, muss vergolten werden, dann ist das Gleichgewicht wiedergewonnen.

Wir kennen diese Dynamik von der Blutrache, die uns wie ein sinnloses archaisches Ritual erscheint, das nie endet und das wir kopfschüttelnd irgendwelchen primitiv gebliebenen Ecken dieser Welt zuordnen. Tatsächlich aber kennen wir die Rituale der Rache in unserem eigenen Inneren nur zu gut. Die Rache kann viele Formen annehmen. Oft bemerken wir sie gar nicht, weil wir sie nicht bewusst erleben. Wir erleben die Verletzung, die wir erlitten haben, allzu gut, aber was dann in unserem Inneren abläuft, erscheint uns in jeder Hinsicht als sinnvoll und gerechtfertigt. Jede Verletzung sucht Heilung, das ist klar, weniger offensichtlich ist aber, dass wir im emotionalen Bereich und auf der sozialen Ebene auch einen Ausgleich brauchen. Folgt auf die Verletzung eine Entschuldigung, so können wir schnell in Frieden kommen, außer wir sind nachtragend. Kommt zur Verletzung eine Beschämung in Form einer Abwertung oder Beleidigung, so ist nicht nur ein Randteil unserer Psyche betroffen, der leidet, sondern dazu noch ihr Kern, ihr Zentrum. Unser Wesen und damit unsere Existenzberechtigung ist in Frage gestellt, beschmutzt, missachtet.

Schamreaktionen wirken zunächst wie ein Schock, der alles lähmt. Wenn sich die Blockierung löst, dann wird der Schmerz über die Verletzung spürbar, und bald danach regen sich die Racheimpulse, die eine Vergeltung verlangen. Auf diese Weise soll der beschädigte Selbstwert wieder aufgerichtet werden.

Die Logik der Rache

Das ist die Grundstruktur der Rache: Wenn ich wegen dir leide, sollst auch du leiden. Wenn du mir weh getan hast, sollst auch du Schmerzen haben. Dann sind wir wieder gleich. Da ich zunächst Opfer deiner Tat bin, muss ich Täter werden und du bist das Opfer. Die Krux liegt darin, dass das Opfer dann wieder Täter werden muss, und die Auseinandersetzung geht weiter.

Warum hängen wir so an dieser Logik? Wir erwarten uns, dass wir besser verstanden werden, wenn die andere Person das Gleiche erleidet wie wir selber. Wir sind beleidigt worden und beleidigen dann zurück. So soll die andere Person verstehen, was sie angerichtet hat und wie sehr es schmerzt. Um diesen Effekt zu verstärken, verdoppeln wir manchmal die Intensität oder den Gehalt der Verletzung. Klarerweise drehen wir mit diesem Verhalten an der Eskalationsschraube.

Im Grund steckt also ein Hilfeappell hinter der Rache: Bitte verstehe mich, ich leide. Es ist der Wunsch nach Mitgefühl. Wenn jedoch keine Aussicht auf Mitgefühl besteht oder viel zu selten die Erfahrung gemacht wurde, dass Verletzungen verstanden werden und dass Trost kommt, meldet sich schnell der Racheimpuls. Es ist also ein Mangel an empathischer Einfühlung, der die Menschen rachsüchtig werden lässt.

Die Aggression, die in der Rache steckt, kompensiert die Scham und die mit ihr verbundene Schwäche und Hilflosigkeit. Im Impuls zur Vergeltung steckt eine Selbstermächtigung: Ich hole mir zurück, was mir genommen wurde, notfalls mit Gewalt. Da mein Selbstwertgefühl herabgewürdigt wurde, während sich die andere Person über mich gestellt hat, muss ich dafür kämpfen, dass sich das Verhältnis wieder umkehrt und ich wieder Oberwasser habe. Dazu dient die Rache.

Scham, Rache und Krieg

Die Menschheitsgeschichte ist voll von Beispielen für den unheilvollen Zusammenhang zwischen Scham und Rache. Bei vielen, wenn nicht bei allen kriegerischen Ereignissen finden sich Beschämungen, gefolgt von Rache an prominenter Stelle unter den Auslösern.

Eine der frühesten überlieferten Erzählungen handelt vom Trojanischen Krieg, der mit einer Beschämung beginnt: Menelaos, dem König von Theben wird die Frau vom Sohn des trojanischen Königs entführt. Aus Rache beginnen die Griechen einen Krieg gegen Troja, der zehn Jahre dauert.

Am 23. Mai 1618 werden drei hohe Beamte des Kaisers von Aufständischen aus einem Fenster der Prager Burg gestürzt, eine Beleidigung des Kaisers. Daraufhin beginnt ein Krieg, der dreißig Jahre dauert und weite Teile Mitteleuropas verwüstet.

Deutschland beginnt am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg, der propagandistisch durch die Rede vom „Schandvertrag von Versailles“ vorbereitet worden war. Deutschland habe durch den Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg eine Beschämung erlitten, die nur durch eine Revision des Vertrages beseitigt werden könne. Es beginnt ein Krieg, der ein vorher nicht dagewesenes Ausmaß an Todesopfern und Zerstörungen anrichtet.

Am 11. September 2001 werden zwei Wolkenkratzer in New York durch Attentäter zum Einsturz gebracht, mit Tausenden Todesopfern. Die Supermacht USA erleidet eine Beschämung. Als Rache beginnt ein Krieg gegen Afghanistan, der bis heute andauert, und zwei Jahre später ein Krieg gegen den Irak, der das Land nachhaltig destabilisiert hat. Diese Kriege haben hunderttausende Menschenleben gefordert und zwei Staatsgebilde ruiniert. Die Folge war eine Zunahme des islamistisch motivierten Terrorismus, als Vergeltung der Racheaktionen.

Stellvertretende Rache

Manchmal kriegen andere die Aggression ab, wenn wir ein Ungemach erlitten haben. Das typische Beispiel ist der Angestellte, der vom Chef heruntergemacht wird, zuhause die eigene Frau anschnauzt, die das Kind schimpft, das schließlich dem Hund einen Rüffel gibt. Natürlich würden wir uns freuen, wenn der Hund bei nächster Gelegenheit den Chef beißt, aber das gibt die Geschichte nicht mehr her.

Vor allem in hierarchischen Systemen ist es schwer und riskant, direkt Rache für erlittenes Unrecht zu üben, also werden Stellvertreter gesucht, denen die Demütigung zurückgezahlt werden soll und die benutzt werden, um den eigenen Selbstwert wieder zu stabilisieren. Das ist der Kitt im hierarchischen Gefüge, das die Über- und Unterordnung zementiert: Die Hackordnung, die auf allen Stufen Gewalt erlaubt, aber immer nur in einer Richtung, von oben nach unten. Die Geprügelten prügeln, die Misshandelten misshandeln, immer die Schwächeren. Nach oben buckeln, nach unten treten, lautet die Devise.

Die Rache nach oben gibt es allerdings auch, aber meist nur indirekt. Sie äußert sich vor allem im passiven Widerstand, der die aufgestaute Wut kanalisiert. In Organisationen, in denen viel autoritäres Gehabe und Abwertungen vorkommen, sind besonders häufig passive Racheaktionen die Folge, die sich in Verweigerung, Verschleppung, Informationsunterdrückung, Krankenständen usw. ausdrücken.

Viele Racheaktionen werden genutzt, um längst fällige offene Rechnungen aus der Vergangenheit zu begleichen, und beziehen ihre emotionale Wucht aus einem Fundus unbearbeiteter vergangener Kränkungen, die oft weit in die Kindheit und Schulzeit zurückreichen. Wo die Achtung und das Verständnis fehlen und Beschämungen ohne Folgen und ohne Ausgleich bleiben, gedeiht die Missgunst und das Misstrauen, ein inneres Klima entsteht, das Rachegefühle und Racheaktionen begünstigt.

Rache im Denken

Für den Fall, dass wir es uns verkneifen, die Racheimpulse offensiv und direkt auszuleben, haben wir unser Denken zur Verfügung. Es stellt sich zur Verfügung, dass wir hier den gesuchten Ausgleich finden können. Wir erzeugen alle möglichen abwertenden und verletzenden Gedanken, malen uns in der Fantasie aus, was der anderen Person zustoßen sollte, oder schmieden Rachepläne, die wir dann nicht ausführen. Wir sollten allerdings damit rechnen, dass sich die Rachegedanken, wenn wir sie zu umfangreich pflegen, in passiven Aggressionen äußern werden. Aber in solchen Fällen haben wir dann Ausreden zur Verfügung: Ach, deine Lieblingsvase ist mir aus der Hand gerutscht, sie war so glitschig. Ich hatte gestern so viel anderes im Kopf, und obwohl ich immer wieder an deinen Geburtstag gedacht habe, hatte ich überhaupt keine Zeit für einen Anruf.

Indirekt Rache üben wir auch dann aus, wenn wir schlecht über nicht anwesende Personen, also hinter ihrem Rücken, reden. Wir werden unseren Ärger los, müssen uns aber nicht direkt mit der Person auseinandersetzen. Auch hier suchen wir das Verständnis der Mitmenschen, die uns Recht geben sollen, dass wir schlecht behandelt wurden, und die die Täterperson wie wir auch verurteilen. Wir haben eine Allianz gegen den Bösewicht geschmiedet, die ihn zur Strafe isoliert.

Vom Fluchen und Verwünschen

Eine spezielle Spielart der Rache findet sich bei Flüchen und Verwünschungen. Denken wir an das Märchen vom Dornröschen. Die dreizehnte der weisen Frauen, die nicht zum Geburtsfest von Dornröschen eingeladen wurde, spricht einen Fluch über die Königstochter aus, dass sie sich an ihrem fünfzehnten Geburtstag an einer Spinnnadel stechen und daran sterben wird. Aus Rache, dass sie nicht eingeladen wurde, spielt sie ihre Zaubermacht aus und versetzt alle in Angst und Schrecken; der Fluch lastet fortan über der Königsfamilie.

Flüche und Verwünschungen verbinden die Rache mit der Welt der Magie mit ihren besonderen Kräften. Wo die Macht in dieser Welt nicht ausreicht, um erlittene Ungerechtigkeiten auszugleichen, müssen höhere Mächte beschworen werden. Das Böse im Fluch trägt einen besonderen Grauen in sich, weil es nur von der Person, die den Fluch ausgesprochen hat, wieder aufgehoben werden kann. Andererseits hängt die Wirkung vom Glauben an die Macht des Fluches und seiner höchsten Fürsprecher ab, ähnlich wie beim Voodoo-Zauber. Wenn der Adressat des Fluches diesem keine Wirkkraft zuspricht, ist er folgenlos.

Neben diesen „mächtigen“ Flüchen gibt es jene des Alltags, die uns bei den größeren und kleineren Missgeschicken und Schlechtbehandlungen hochkommen. Ein kleines Beispiel: Viele elektronische Geräte sind wohl schon Objekt von Verfluchungen durch ihre Nutzer geworden, aber gemeinhin gehören sie zu jenen, die nicht an die Macht des Fluches glauben. Jede Unfähigkeit, die uns bei den technischen Geräten unterläuft, beschämt ein wenig, und das Fluchen entlastet, indem wir die widerborstigen Objekte durch Beschimpfungen beschämen, in diesen Fällen freilich folgenlos.

Aussteigen aus der Rachedynamik

Ohnmachtserfahrungen, wie sie mit dem Schamerleben verbunden sind, bilden den Ursprung von Rachegedanken und -handlungen. Die Erfahrung einer gelungenen Rache erlaubt eine kurzzeitige Befriedigung, doch keine dauerhafte Befriedung. Vielmehr tendieren Rachedynamiken zur Unendlichkeit: Jede Rache, die ihr Ziel erreicht, beschämt und schafft die Grundlage für eine Gegenaktion. Rache hat Rache zur Folge, und die Gefahr besteht, dass die Gewalt mit jeder Runde zunimmt.

Darum ist es wichtig, die Rachedynamik bei sich selbst abzubrechen, sobald sie bewusst wird. Das ist der einzige Schritt zur Befriedung, der in unserer Macht steht. Macht über andere und ihr Verhalten, geschweige denn ihr Inneres ist uns ja nicht wirklich gegeben.

Verletzungen und Beschämungen sind Aspekte des Soziallebens, die sich nicht einfach abschaffen lassen, sondern immer wieder geschehen können, weil die Kapazitäten zur Achtsamkeit bei uns und unseren Mitmenschen wie alles andere auch beschränkt und unvollkommen sind. Was wir schaffen können, ist die nachträgliche Bewusstheit: Legen wir unser Augenmerk auf unsere Reaktionsgewohnheiten, wenn wir Unachtsamkeiten unserer Mitmenschen erleben und spüren wir, wo sich Racheimpulse aus dem eigenen Repertoire einmischen. Welche anderen Möglichkeiten haben wir, ohne den aussichtslosen Umweg über die Rache zu einer Lösung des Konflikts zu kommen? Nutzen wir unsere soziale und emotionale Kreativität, um unsere Racheimpulse zu durchschauen und abzuschwächen und konstruktive kommunikative Wege für die zwischenmenschlichen Probleme zu erschaffen.

Zum Weiterlesen: 
Die passive Aggressivität
Krieg und Scham