Samstag, 31. Dezember 2016

Spirituelle Wahrheit und Kritik

Wozu brauchen wir Kritik? Sollten wir nicht alles akzeptieren, so wie es ist? Sollten wir nicht aufhören mit dem Bewerten? Jede Kritik ist doch eine Bewertung, und meistens üben wir negative, also abwertende Kritik, wenn wir schon Kritik üben.

Hier geht es nicht um die Form der Kritik, die wir so gerne aneinander im tagtäglichen Umgang miteinander üben, nicht darum, was uns an anderen Menschen und ihren Verhaltensweisen nicht passt. Hier geht es um die Rolle der Kritik am Rand zwischen relativen und absoluten Wahrheiten, also um den Bereich, in dem sich die Ideologien - die relativen Wahrheiten, die sich als absolute ausgeben - tummeln. Gerade in diesem Feld ist es wichtig, über die Kraft der genauen Unterscheidung zu verfügen (griech: krinein=unterscheiden, teilen).

Kritik heißt in diesem Zusammenhang nicht, dass wir Phänomene nach bestimmten Kriterien betrachten und feststellen, ob und wieweit sie ihnen entsprechen: Wieweit entspricht der Weihnachtsstriezel meinem Geschmacksbild? Wieweit ist ein Artikel sprachlich und inhaltlich gelungen?

Kritik heißt hier, Aussagen nach ihrer logischen und erkenntnistheoretischen Konsistenz einem der beiden Bereiche zuzuordnen: dem Absoluten oder dem Relativen. Es geht also nicht um Besseres oder Schlechteres, wie bei einer Lokal- oder Biersortenkritik, sondern um die Überprüfung der Übereinstimmung von Aussage und Kontext. Es geht darum zu bestimmen, wohin die betreffende Aussage gehört, damit wir über eine klare Zuordnung verfügen.  Geprüft wird nicht die Qualität und der Inhalt der Aussage. Das wird von dieser Kritik als solche gar nicht bewertet, vielmehr wird die Herkunft der Information und ihr Ziel befragt.

Es handelt sich also um eine konstruktive Kritik, die jedem Wissen und jeder Erkenntnis den Platz gibt, an dem sie für Menschen sinnvoll, nutzbringend und wachstumsfördernd wirken können. 

Die Notwendigkeit der Kritik


Jede Aussage, die jemand über die tiefsten Zusammenhänge des Lebens trifft, muss einer solchen Prüfung unterzogen werden. Sie muss nach allen Seiten abgeklopft werden, um als tauglich angenommen werden zu können, oder, um zurückgelegt zu werden, wenn sie der Prüfung nicht standhält. Nur so kann sie auf die unterschiedlichen Perspektiven, die Menschen auf das Leben haben, eingestellt und bezogen werden. Und nur damit kann ein Stellenwert erreicht werden, der über den Ausdruck von subjektiven Befindlichkeiten und privaten Erleuchtungen hinausgeht.

Die kritische Prüfung öffnet spirituellen Aussagen den Zugang zur Öffentlichkeit, führt sie also aus der Isoliertheit individueller Erfahrungen heraus in die Sphäre des Diskurses, an dem im Prinzip alle Menschen teilhaben können.

Jeder Mensch verfügt aufgrund seiner Individualität und der damit verbundenen individuellen Wahrnehmung und Weltsicht über Filter- und Prüfsysteme, die jede Aussage nach verschiedenen Kriterien, die ebenfalls wieder sehr individuell ausgestattet sind, abklopft und dann entsprechend in den Kanon der eigenen Konzepte und Theorien aufnimmt oder sie generell verwirft. Kritik ist also auch die Abstimmung zwischen den Aussagen anderer und den eigenen Erfahrungs- und Bewertungssystemen. Sie kann auch als Prozess verstanden werden, in dem Äußeres und Fremdes nach einer  Überprüfung entweder assimiliert oder abgesondert wird.

Kritik findet in der Öffentlichkeit statt, sie lebt also im Medium des Diskurses. Es genügt nicht, wenn absolute Wahrheiten allein aus den Tiefen eines Individuums aufsteigen und dann für alle verbindlich sein sollen. Jede Wahrheit muss sich im Diskurs bewähren, und das Gleiche gilt für die Kritik. Sie muss sich beständig weiter entwickeln und ihre Instrumente schärfen. Dazu braucht sie die Auseinandersetzung mit anderen, Gleichgesinnten oder Andersdenkenden. Die Gültigkeit einer Kritik bemisst sich daran, wie sie im Raum der öffentlichen Auseinandersetzung selbst der kritischen Prüfung standhalten kann. Die Kritik an der Kritik ist also ein wichtiges Korrektiv für Subjektivismen und Extrapolationen, wie die Kritik der ersten Stufe Willkürlichkeiten bei ihrem Gegenstand, den Wahrheiten, aufzeigt.

Die Vermeidung der Kritik


Es ist das aus dem Relativen stammende und verdinglichte Absolute, das sich der Kritik entziehen will und damit die Überprüfung deiurch die Vernunft vermeiden will. Solche Scheinwahrheiten sind es, die die Menschen verwirren und gegeneinander aufhetzen. Wenn sich diese Konstrukte gegen die Kraft der Vernunft behaupten müssen, haben sie keine Vernunft-Argumente zur Hand, die zumindest einen Dialog im Fluss bringen ließen. Deshalb besteht die Reaktion in Versteifung und Abschottung gegenüber jeder Infragestellung. Statt dessen werden Überzeugungen und Glaubensappelle präsentiert, an der nicht gerüttelt werden kann und darf.

Alles, was dem Dialog und der kritischen Auseinandersetzung entzogen ist, wird zur Ideologie, und Ideologie beinhaltet tendenziell die Bereitschaft zur Gewalt, und bewegt sich damit diametral vom Absoluten weg. Es sind massive unbewusste Ängste, die den hinter diesen Konstrukten spürbaren Druck ausüben und zur Zerstörung jeder Infragestellung aufrufen.

Die Radikalität der Kritik


Der kritische Geist ist vom Wunsch nach Befreiung getragen, motiviert vom Ruf des Absoluten. Kritik fordert zur Radikalität heraus, an die Grenzen der Vernunft gehen und nicht vorher innehalten. Alles, was empirisch verstanden und erklärt werden kann, muss auf dieser Ebene verbleiben. Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden, müssen im Licht der Vernunft überprüft werden, sonst verbleiben sie im Subjektiven.

Die Radikalität der Kritik ist die Triebkraft, die aufs Absolute ausgerichtet ist. Das Absolute verträgt eben keine Kompromisse, und deshalb braucht es die Kritik als Instrument, um Halbheiten und menschliche Beschränktheiten aufzudecken und die Wahrheit davon zu reinigen.

Die Vernunftkritik ist getragen vom  Geist, Impuls und Schwung des Mutes. Sie ist schonungslos bereit, Sicherheiten aufzugeben und alles, was auftaucht, mit dem scharfen Licht der radikalen Unterscheidung zu prüfen. Vorurteilslos und bedingungslos muss sie an ihre Gegenstände herangehen und hinter sich lassen, was dem Maßstab nicht standhält. Sie scheut kein Risiko und lässt sich nicht von Drohungen einschüchtern. Institutionelle Macht und Gewalt können ihr nichts anhaben. Sie überlebt den Tod von kritischen Individuen, weil sie ihre Kraft aus der kollektiven Evolution schöpft.

Menschliches Wissen entwickelt sich, so, wie das Leben wächst. Das Medium dieser Entwicklung ist die dynamische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und mit dem Wissen anderer. Wo diese Entwicklung eingedämmt wird, wo also das Wachstum des Wissens verhindert oder behindert wird, sind Ideologien im Spiel, starre Systeme mit Wissen, das im Dienst der Macht steht. Der kritische Geist ist unerlässlich für das Wachstum von Wissen, Erkenntnis und Wahrheit. Und dieses Wachstum ist das, was wir brauchen, um diese Welt zu einem besseren Platz für alles Lebendige zu machen.

Dienstag, 27. Dezember 2016

Toleranz und ihre zweifache Grenze

Toleranz ist ein hoher Wert in einer freien und offenen Gesellschaft und ein wichtiger Garant für ihren Fortbestand. Gerade deshalb können sich in ihrem Schatten Menschen frei tummeln und Gruppen bilden, die intolerante Meinungen vertreten und bereit sind, diese Meinungen in freiheitsbedrohende Handlungen umzusetzen. Wie soll also eine tolerante Gesellschaft mit intoleranten Menschen, Meinungen und Handlungen, die diese Toleranz bedrohen, umgehen? Ist jede Einschränkung der Toleranz schon intolerant?

Der Begriff der Toleranz markiert den Ausgang aus gesellschaftlicher und kultureller Unterdrückung. Über Jahrtausende mussten Menschen ihre persönlichen Werte und Überzeugungen an die vorherrschenden Ideologien und religiösen Systeme anpassen. Abweichende Meinungsäußerungen wurden meist konsequent und brutal verfolgt. In den Zeiten der europäischen Glaubenskriege wurde z.B. die Praxis verfolgt, dass Menschen zur Auswanderung gezwungen wurden, die sich einer religiösen Richtung nicht anschließen wollten, die in ihrem Gebiet die Macht hatte: Wenn du nicht den Mehrheitsglauben teilst, kannst du ja gehen. Diese Praktik stellte zwar einen Fortschritt dar im Vergleich zur grausamen Ausrottung Andersgläubiger, ging aber immer noch von der Ansicht aus, dass es unmöglich wäre, wenn in einem Haus an die Wirkmacht von sieben Sakramenten und im Nachbarhaus nur von zweien geglaubt wurde, so als müsste man sich wegen solcher Auffassungsunterschiede notgedrungen die Schädel einhauen.


Öffnung der Identität


Ein paar Jahrhunderte später wissen Menschen, die nebeneinander wohnen, nur in Ausnahmefällen von den jeweiligen Glaubensrichtungen. Das Thema hat in den meisten westeuropäischen Ländern jegliche Sprengkraft für den sozialen Zusammenhalt verloren. Und das ist eine Folge der Aufklärung, die sich die Toleranz auf die Fahnen geheftet hat.

Die europäische Geschichte, die auch eine Geschichte zur Ausformung der Toleranz darstellt, in dieser Hinsicht gekennzeichnet durch eine zunehmende Öffnung der individuellen und der kollektiven Identität. Im Mittelalter waren die meisten Menschen in engen Lebensformen eingebunden und eingeordnet. Es gab für Angehörige des Bauernstandes (und das waren fast alle Menschen damals) keine Alternative zum Bauer-Sein, zur Mitgliedschaft in der Kirche und zum Leben im dörflichen Verband. Alternative gesellschaftliche Entwürfe standen nicht zur Verfügung. Die vorgefertigte Identität war seit Jahrhunderten unverändert in Geltung, und deshalb konnte auch die Zukunft nichts anderes bringen.


Eine kurze Geschichte der Aufklärung


Mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, deren Wurzeln bis tief ins Mittelalter zurückreichen und die auch wesentliche Impulse aus dem Christentum aufnahm, werden neue Horizonte geöffnet. Die eingeschränkten traditionsgebundenen Identitäten werden sukzessive aufgebrochen. Parallel dazu entstanden neue wirtschaftliche Möglichkeiten und Notwendigkeiten, viele Menschen gingen vom Land in die Städte, von der Landwirtschaft zur Industrie. Zentral für diese Entwicklung ist auch das Bildungssystem, das zunehmend die Vermittlung von modernem Wissen (Alphabetismus, Mathematik, Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften) mit modernen Ideen verknüpfte. Bildung beinhaltet immer auch das Denken in Alternativen und verhilft dazu, Identitäten leichter wechseln und verändern zu können.

Einen weiteren Bereich für die Ausbildung der Toleranz bildet die Emanzipation der Kunst, die sich vor allem im 19. Jahrhundert vollzog und ungebrochen weiter wirkt. Bis dahin war die Identität der Kunst durch die vorherrschende Gesellschaftsform vorgegeben, z.B. in der Musik durch die Adelsgesellschaft und die Kirchenorganisation. Nun nahmen sich die Künstler die Freiheit, aus der eigenen Kreativität heraus schöpferisch zu werden, ohne Rücksicht auf bestehende Standards und Konventionen. Die Kunst wurde damit zum Dynamit für alle ideologischen Meinungen und Lebensformen. Schriftsteller griffen sie in ihren Werken direkt und die anderen revolutionären Künstler (Maler, Bildhauer, Musiker usw.) indirekt an.

Dementsprechend heftig war der Kampf zwischen der modernen Kunst und den traditionellen Weltbildern bis zu den Bücherverbrennungen und Kunstverboten der Nationalsozialisten, und das Unvermögen  der Rechtsparteien, die Symbolkraft der emanzipativen Kunst zu verstehen, legt noch immer Zeugnis von dieser Spannung ab. Kunst in ihrer nachmittelalterlichen Form ist ein unversiegbar sprudelnder Quell von Diversität, von der Differenzierung und Dekonstruktion der existierenden Formen, der von sich aus permanent und unüberhörbar zur Toleranz aufruft.

Zusammen bilden diese Strömungen eine starke Kraft der Veränderung zur Toleranz, der sich nichts entziehen kann. Die Widerstände waren und sind zahlreich, aber sie werden von dieser Dynamik der Emanzipation, der Befreiung des Individuellen unweigerlich unterschwemmt und schließlich irgendwann weggespült. Toleranz ist ein Megatrend in der Entwicklung der Moderne, der nicht rückgängig gemacht werden kann, sondern immer mehr Bereiche des Lebens zu mehr Offenheit und Respekt vor dem Anderen herausfordert.

Denn Toleranz wünscht sich jeder Mensch, sobald er seiner eigenen Individualität bewusst wird: Ich bin radikal anders als alle anderen Menschen. Versuche ich, mich an sie anzupassen, verbiege ich mich und schade mir selbst. Ich kann nur aus dieser Quelle der eigenen Einzigartigkeit heraus leben. Wenn ich dafür keine Duldung bei den anderen finden kann, gerate ich in einen massiven inneren Widerspruch.


Zur logischen Notwendigkeit von Toleranz


Toleranz ist also eine Konsequenz der Tatsache, dass die Natur nicht in der Lage ist, identische Lebensformen hervorzubringen, und weiters der Einsicht, dass trotz radikaler Unterschiedlichkeit die Menschen ihre Angelegenheiten nur im Zusammenwirken gestalten und verbessern können. Daraus folgt notwendig, dass die Unterschiedlichkeit, die Diversität geduldet und, so weit wie möglich, geschätzt werden muss.

Toleranz ist also kein Luxus, den sich eine Gesellschaft mit ausreichenden Ressourcen gestattet, sondern eine Grundbedingung des menschlichen Lebens. Insoferne bedroht jede Form der Intoleranz dieses gemeinschaftlich verfasste menschliche Leben.


Zwei Grenzen der Toleranz


Der deutsche Philosoph Michael Schmidt-Salomon spricht von zwei Grenzen der Toleranz. Die erste "verläuft zwischen dem, was toleriert werden muss, und dem, was nicht mehr toleriert werden darf." Hier geht es z.B. um das Ende der Toleranz dort, wo anderen Menschen Schaden zugefügt wird, z.B. durch das Ausüben von Gewalt. Eine Gesellschaft kann nicht bestehen, wenn sie das toleriert, was ihre Grundlagen angreift.
Dazu kommt noch eine zweite Grenze: „Sie markiert den Unterschied zwischen dem, was toleriert werden muss, und dem, was akzeptiert werden kann.“ Es gibt Phänomene, die z.B. im Sinn der Meinungsfreiheit toleriert werden müssen, aber nicht akzeptiert werden können, wie z.B. rassistische Aussagen, die das Gleichheitsprinzip der Gesellschaft aushebeln wollen.

Schmidt-Salomon: „Wir haben es also mit drei unterschiedlichen Bereichen zu tun: dem Akzeptablen, dem Nur-Tolerablen und dem Nicht-mehr-Tolerablen. Diese unterschiedlichen Bereiche müssen auch unterschiedlich behandelt werden. Als grobe Marschrichtung kann dabei gelten: Was in einer offenen Gesellschaft zu akzeptieren ist – etwa das Ideal der Gleichbehandlung aller Bürgerinnen und Bürger -, muss gestärkt, was nur zu tolerieren ist – zum Beispiel schwulenfeindliche Ressentiments -, geschwächt, und was nicht mehr zu tolerieren ist – etwa Gewaltaufrufe gegen Schwule -, strikt unterbunden werden.“

Es genügt also nicht, eine klare Abgrenzung zwischen dem, was geduldet werden kann, und dem, was nicht geduldet werden kann, zu ziehen. Das sollte im Rahmen jeder Rechtsordnung klar definierbar und mittels der Rechtsprechung durchsetzbar sein. Die Aufgabe hier liegt darin, die Rechtsnormen beständig entsprechend der gesellschaftlichen Veränderungen neu zu bestimmen, gewissermaßen upzudaten, wann und wo immer neue Störprogramme gegen die Toleranz auftauchen. 


Der Einsatz für die offene Gesellschaft geht alle an


Der andere Bereich betrifft die Politik und noch mehr die Zivilgesellschaft: Im Rahmen der Toleranz alles, was nicht akzeptiert werden kann, weil es die Werte der Toleranz unterminiert, mit allen Mitteln der öffentlichen Meinungsbildung und der reflektierten Argumentation zu bekämpfen. Intolerante Wertsetzungen dürfen nicht ohne Widerspruch bestehen bleiben, es braucht massive und entschiedene Gegenstimmen und Erwiderungen. Ein Beispiel dafür bildet das Institute for Strategic Dialogue, das u.a. Gegennarrative zu den Strömungen der fundamentalistischen Propaganda entwirft und publiziert.

Wir sollten eine Gesellschaft sein, die kollektiv aufschreit, sobald gegen die Werte der Toleranz Stellung bezogen oder gehandelt wird: Ein Schrei, der aus der Verletzung des Menschlichen kommt, denn jeden, der sich der eigenen Menschlichkeit bewusst ist, sollte im eigenen Mark getroffen sein, wenn die Toleranz angegriffen wird. Ein solches Aufschreien sollte es nicht erst geben, wenn Dutzende Menschen auf einem Weihnachtsmarkt umgebracht werden.

Wir leben in einer Welt allgegenwärtiger Medien, indirekt vermittelte Informationen bestimmen in großem Ausmaß unsere innere Wahrnehmungswelt und beeinflussen unsere Werte. Darum sollten wir, Mitglieder der Zivilgesellschaft, an dieser medialen Öffentlichkeit teilnehmen, nicht nur als passive Konsumenten, sondern auch als aktive Gestalter, die ihre Meinung zur Vielfalt der Meinungen beisteuern, wo immer es geht. Damit tragen wir aktiv zur Verbreitung von Toleranz bei.

Unsere Verantwortung geht noch weiter: Wir sollten uns auch als Wächter für die Offenheit der Gesellschaft verstehen und gegenüber allen Bedrohungen wachsam sein. Wir alle sind Hüter eines kostbaren Gutes, das wir nicht für etwas Selbstverständliches vergessen sollten, sondern als einen Schatz, den wir stärken und vermehren sollten, damit er lebendig bleibt. Und das Lebendige ist allemal stärker als das Tote.

Interview mit 
Michael Schmidt-Salomon

Vgl. Die Unausweichlichkeit der offenen Gesellschaft
Toleranz ist ein relativer Wert

Montag, 19. Dezember 2016

Wer die Würde nicht respektiert, verliert seine eigene

Albert Schweitzer schreibt: "Wer die Würde der Tiere nicht respektiert, kann sie ihnen nicht nehmen, aber er verliert seine eigene."

Wir sollten damit beginnen, das Zitat auf die Menschen zu übertragen: "Wer die Würde eines Menschen nicht respektiert, kann sie ihm nicht nehmen, aber er verliert seine eigene." Manchen mag es leichter fallen, die Würde von Tieren als die von Menschen zu respektieren, und das sind Menschen, denen von Menschen mehr angetan wurde als von Tieren. Doch zeigt sich gerade an diesem Beispiel, dass wir zunächst unseren Artgenossen, uns selbst, die Würde zukommen lassen müssen, die uns gebührt.

Die Würde des Menschen bezieht sich auf seine persönliche Integrität, auf sein Menschsein. Jeder Mensch verfügt darüber kraft seiner Geburt und Abstammung von anderen Menschen, kraft seiner Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht.

Dazu gibt es keine Alternative, wie wir keine Alternative darin haben, Menschen zu sein. Darum hat diese Würde einen absoluten Stellenwert, der nicht durch relative Annahmen außer Kraft gesetzt werden kann. Es wurde zwar immer wieder Menschen die Würde abgesprochen, weil sie einer bestimmten Gesellschaftsschicht, Kaste, Religion, Ideologie zugehörig waren, weil sie sich ein Fehlverhalten zuschulde kommen ließen oder weil sie an einer Behinderung litten. Der Status der Würde kann jedoch nicht an bestimmte Leistungen oder Eigenschaften gebunden werden, sondern besteht unbedingt; sonst hat der Begriff keinen Sinn: Menschen sprechen sich selbst das ab, was sie sind.


Entwürdigung als Folge von Ideologien


Alle Versuche, anderen Menschen ihre Würde abzusprechen, - und deren gibt es jede Menge im wechselhaften Lauf der Geschichte - sind leicht durchschaubare Machtaktionen: Wer keine Würde hat, kann von der Teilhabe am vorhandenen Reichtum ausgeschlossen werden. Wird der Kreis der Würdenträger kleiner, bleibt für jeden Würdigen mehr. Wer im Zentrum bleibt, hat den Überblick und Einblick in die ertragreichen Lebensmöglichkeiten. Die, die an den Rand gedrängt werden, sollen sich mit den Brotsamen begnügen.

Wie auch immer Abstufungen der Würde begründet und legitimiert werden, stets ist die Triebkraft Willkür und Selbstsucht. Jede Würdeverminderung, die einzelnen Menschen oder Menschengruppen zugeordnet wird, bringt denjenigen, die solche Festlegungen einführen, immanente Vorteile. Diejenigen, die auf diese Weise die Macht für sich reservieren, leben unverfroren auf Kosten von anderen.

Um die Ausbeutung von Menschen durch Menschen plausibel zu machen, braucht es eine Ideologie, die etwa festlegt, dass die Abstammung oder der Besitz von Gütern den Grad der Würde bestimmt. Umgekehrt zeigt sich, dass Ideologien immer auch den Sinn haben, Menschen mit unterschiedlichen Graden an Würde auszustatten. Sie sollen verständlich machen, warum es bessere und schlechtere Exemplare der Menschengattung gibt, die entsprechend dem Grad ihrer Güte am gesellschaftlichen Austausch beteiligt werden und Chancen zugeteilt oder entzogen bekommen.

Im Lauf der Bewusstseinsevolution haben sich die Ideologien gewandelt, je nach den Erfordernissen der jeweilig vorherrschenden Ängste. Zugleich finden sich auf jeder Stufe auch Gegenkräfte, die zur Befreiung aufrufen und die Unterschiede im Zusprechen von Würde aufheben wollen. Auf der personalistischen Stufe erst wird verstanden, dass Würde untrennbar mit Person verbunden ist: die Idee der Menschenrechte wird geboren.

Gleichzeitig wird auch der Schaden und die Ungerechtigkeit einsichtig, die durch das willkürliche Absprechen und Zuteilen von Würde in der Menschheitsgeschichte angerichtet wurde und wird. Allerdings richtet sich die Wut der Unterdrückten zunächst gegen die Unterdrücker, sodass diesen dann erst wieder die Würde abgesprochen wird. Deshalb enden viele Revolutionen, die sich die Befreiung von Unterdrückung auf die Fahnen geheftet hatten, in neuen Unterdrückungssystemen. Wo immer Gewalt gegen Menschen ins Spiel kommt, wird die Würde missbraucht. Deshalb waren die im 20. Jahrhundert auftauchenden Formen des gewaltfreien Widerstandes so besonders eindrucksvoll und zukunftsweisend, um den Kreislauf der Entwürdigung aufzubrechen.


Das Ende der Entwürdigung


Auf der systemischen Bewusstseinsstufe können wir erkennen, dass wir nur dann reibungsfreie, gewinnbringende und kreativitätsfördernde Austauschprozesse schaffen können, wenn die Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit der daran Beteiligten außer Streit steht. Menschenverachtende Ideologien müssen dabei ausgeschlossen bleiben. Das menschliche Potenzial zur Problemlösung und Lebensverbesserung kann sich dort am besten entfalten, wo Menschen auf der Grundlage der gegenseitigen Achtung miteinander interagieren.

Wenn wir den Schritt zum holistischen Bewusstsein weiterschreiten, kommt ein weiteres Motiv dazu, das Albert Schweitzer in dem obigen Zitat mitbedacht hat. Würde, die wir anderen Menschen absprechen, nehmen wir uns selbst weg. Wir wollen uns über andere erheben und unser Ego mit dieser Überlegenheit füttern. Wir machen unser eigenes Selbstgefühl von der Minderheit anderer abhängig, unser Wert hängt am Unwert anderer.

In dieser Perspektive schaden sich die, die an der Entwürdigung gewinnen, selbst und leiden im Grunde mehr an sich, als jene, die die Unterdrückung erleiden müssen. Denn diese behalten ihre innere Würde, auch wenn sie ihnen im Außen abgesprochen wird. Wer anderen ihre Würde nicht zugestehen kann, nimmt sie sich selber weg. Er verfügt über keine Selbstachtung, weil er das Menschliche, das er am anderen ablehnt, in sich selber nicht annehmen kann. Während für den anderen eine würdelose Identität konstruiert wird, wird die eigene Identität ein Teil davon. Der überhebliche Stolz, der in der Entwürdigung anderer liegt, ist so weit von der Würde entfernt wie die Eigenschaften, wegen derer anderen die Würde abgesprochen wird. Entwürdigen macht würdelos.

Wem die Würde verweigert wird, wer also keinen Respekt und keine Achtung bekommt, leidet an dieser Form der Entmenschlichung und den damit verbundenen Nachteilen und Ungerechtigkeiten. Zugleich ist klar, wo die Ursache des Leidens liegt: An überheblichen Menschen und an Strukturen, die diese Haltungen erzeugen und stabilisieren. Wer die Würde verweigert, fühlt sich aufgrund seiner Ideologie im Recht und merkt nicht, wie er damit seine eigene Integrität ruiniert.


Die ganzheitliche Sicht


Der Schritt ins holistische Bewusstsein erfordert die radikale Sicht auf diese Zusammenhänge: Jede Form der Lieblosigkeit ist neben dem Schaden, den sie in der Welt und bei anderen Menschen anrichtet, eine Form der Selbstschädigung. Es gibt keinen essentiellen Unterschied zwischen mir und meinem Nächsten. Was ich ihm gebe, gebe ich mir, was ich ihm vorenthalte oder abspreche, enthalte ich mir vor und spreche mir ab. In dem Maß, wie ich andere als unwert, dumm, unfähig oder böse halte, bin ich es selber.

Im holistischen Bewusstsein geht es nicht darum, immer lieb und nett zu sein, zu sich und zu anderen, und darum, alles lieb und nett zu finden, was sich abspielt. Vielmehr geht es um die Erkenntnis der Verbundenheit von allem mit allem und um die Übernahme der Verantwortung, die damit einhergeht. Nicht alles in der Welt ist lieb und nett, nicht jeder handelt aus dem Bewusstsein seiner Eigenwürde heraus, und diese menschlichen Schwächen gehören erkannt, benannt und rückgemeldet. Denn wir alle haben Teil an diesen Schwächen und brauchen die anderen, damit sie behoben werden können. Wir müssen Formen der Zusammenarbeit mit den anderen finden, die dazu führen, dass die Vorgänge der Entwürdigung in der Welt geringer werden und mehr Anerkennung von Würde stattfindet.

Das ist der eine Teil der Verantwortung, die wir für die Aufrechterhaltung der Würde in der Welt tragen.

Der andere Teil besteht darin, dass wir achtsam mit uns selber sind und uns unsere Tendenzen zur Entwürdigung bewusst machen. Wann immer wir an anderen etwas abwerten, werten wir uns selber ab. Wo wir anderen ihre Würde nicht zugestehen, entwürdigen wir uns selber. In dem Maß, in dem wir hingegen anderen ihre Würde zusprechen und stärken, wenn sie den Zugang dazu verloren haben, in dem Maß unterstützen wir unsere eigene Würde. An Würde zu wachsen erleichtert uns im Gegenlauf, die mit der Würde verbundene doppelte Verantwortung wahrzunehmen.

Das holistische Bewusstsein greift noch weiter. Es begnügt sich in seinem Anspruch nicht mit der Sphäre des Menschlichen. Das Zitat von Schweitzer ist ja auf diesen weiteren Horizont gemünzt: Würde kommt dem Leben überhaupt zu, dem tierischen wie dem menschlichen, und beide Bereiche sind ineinander verschränkt, sodass eine Nichtachtung des Tierischen auf den Menschen, der ja allein der Respektlosigkeit mächtig ist, schädlich zurückschlägt.

Über die Kreise des Lebendigens hinaus gilt das Zusprechen der Würde mit allen daraus resultierenden Konsequenzen dem Kosmos als ganzem. Also allem, was es gibt, sollen wir würdevoll und würdegebend begegnen, dann sind wir im rechten Verhältnis zu uns und zu allem um uns herum und nur dann tragen wir das Unsere dazu bei, dass diese Ordnung des Guten erhalten bleibt.