Samstag, 21. Mai 2022

Der Verlust des Selbstgefühls

Wie kommt es dazu, das Gefühl und damit die intime Beziehung für den eigenen Körper und für seine Bedürfnisse zu verlieren? Kleinkinder verfügen über ein organisches Bewusstsein, das ihnen in jedem Moment signalisiert, was es gerade braucht und wie es ihm geht. Bei jedem starken Stress bzw. bei traumatischen Erfahrungen wird allerdings die Innenbeziehung unterbrochen, während die Überlebensmechanismen aktiviert werden. Die organismische Selbstregulation geht verloren, außer die Störung wird gleich durch eine hilfreiche äußere Intervention aufgefangen und beruhigt. Ist das nicht der Fall oder erfolgt es nur unzureichend, so entsteht aus der aktivierten Überlebensreaktion eine auf Dauer gestellte Wachsamkeit, die verhindern soll, dass es je wieder zu ähnlichen Erfahrungen kommen kann. Im Inneren entstehen Kontrollinstanzen, die von den gespeicherten Ängsten angetrieben werden und die bewirken, dass immer eine Instanz zwischen dem Impuls und der Ausführung aktiv wird, die entscheidet, ob das eigene Handeln angemessen ist oder nicht. Das innere Spüren geht dabei verloren und die Wahrnehmung wird primär nach außen gerichtet, um mögliche Gefahren so schnell wie möglich zu identifizieren. 

Als Folge kommt es dazu, dass das Gefühl für den eigenen Körper nachhaltig geschwächt wird oder weitreichend verloren geht. Es gibt dann keine eindeutigen Antworten auf Fragen wie: Was ist die richtige Ernährung für mich? Wie soll mein Körper ausschauen? Wenn die Innenbeziehung lahmgelegt ist, strömen die Informationen von außen ohne Filter ein. Deshalb wird schnell und leicht übernommen, was die Eltern als Normen vertreten und von den Kindern erwartet haben und was in der Kultur verankert ist.

Die hochglänzenden und oft retuschierten Ideale der Medienwelt strömen auf diesem Weg ungehindert ins Inneren und werden dort zu einer unerbittlich geltenden Norm. Anerkennung und Wertschätzung verdient nur, wer dem Ideal entspricht, bei wem das nicht der Fall ist, der muss sich bemühen, dem Ideal näher zu kommen, sonst muss er mit Abwertung und Verachtung rechnen.

Das Selbst und das Fremde

Das Selbst wird nun vor allem über diese Kanäle definiert. Die Selbstliebe gilt dem an die äußeren Erwartungen angepassten Schein. In der Sage verliebt sich Narziss nicht in sich selbst, sondern in sein Spiegelbild. In ihm entdeckt er, dass die Erfüllung der Erwartungen der anderen Menschen gelungen ist.

Die Anpassung an familiale und gesellschaftliche Normen wird im Prozess der Entinnerlichung zur obersten Maxime. Das ursprüngliche Selbst wird dabei zum Fremden, es wird abgespalten und in den Untergrund verbannt. Es ist das Innere, das fortan fremd und unbekannt, vielleicht sogar unheimlich ist, weil es keinen offenen Kanal mehr zu ihm gibt. 

Das angenommene Äußere ist das Fremde, das zunehmend bekannt und vertraut wird und sich über Gewohnheiten im Selbsterleben immer mehr festsetzt. Es wird zum scheinbaren Eigenen, vollgefüllt mit Illusionen und blind übernommenen Idealen. Im Schlepptau kommen die Kontrollzwänge, die darüber achten, dass die Treue zum neuen Selbst erhalten bleibt. Denn die Sicherheit, die dieses Selbst vermittelt, ist brüchig und trügerisch. Sie ist davon abhängig, wie weit die Anpassung gelingt, was angesichts der sich beständig ändernden äußeren Bedingungen zur anstrengenden Dauerübung wird.

Die Anpassung kann so weit gehen, dass sie auch die Wahrnehmung verändert. Was wir schön oder hässlich finden, hat sich in vielen Bereichen schon lange davon abgekoppelt, was uns die innere Stimme vermitteln würde. Was richtig und falsch ist, wird über Meinungsumfragen erhoben und im Medienkonsum aufgesaugt. 

Der Preis der Selbstverlorenheit

Der Verlust des Innenspürens zeigt sich in vielen Symptomgestalten. Frauen, die von Diät zu Diät unterwegs sind, um den scheinbar von überall erforderten Schlankheitsgrad zu erreichen; Männer, die sich um jeden Preis fit halten, um für leistungsfähig gehalten zu werden; Menschen, die mehr essen und trinken als sie wissen, dass für sie gut ist; Personen, die Ideologien vertreten, deren Menschen- und Lebensfeindlichkeit sie nicht durchschauen, usw. Wir nennen solche Symptome Störungen, doch sind sie in mehr oder weniger ausgeprägter Gestalt millionenfach in unseren Gesellschaften vertreten und stecken hinter allen Auswüchsen, die uns besorgt machen und entsetzen. Wir alle zahlen den Preis, der aus dem Verlust von Menschlichkeit als Folge der inneren Verfremdung resultiert.

Die Verwirrung

Wenn Menschen über Verwirrung klagen, hat das häufig damit zu tun, dass sie die Innenbeziehung als verlässliche Richtschnur für das, was für sie stimmt, verloren haben. Sie haben viele, oft widersprüchliche Ideen im Kopf, wie es sein könnte und sollte,  wissen aber nicht, welche davon ihre eigenen sind und welche nicht. Sie wissen nicht mehr, was sie selber denken und was ihnen eingeflößt wurde. Sie haben kein Kriterium, das Eigene vom Fremden unterscheiden zu können und müssen die eigene innere Kontinuität und damit ihre Identität aus verschiedenen Versatzstücken zusammenbasteln. Sie können sich nicht entscheiden, wem sie Gehör schenken, weil der innere Maßstab diffus geworden ist. Es ist, als ob sich die Linse eingetrübt hätte und nicht mehr klar erkannt werden kann, was die Botschaften, die noch immer aus dem Inneren kommen, besagen und ob sie vertrauenswürdig sind. 

Verwirrung entsteht also durch den Verlust des inneren Spürens und dadurch des Selbstbezugs. Wir wissen nicht, ob das, was unser Inneres sagt, stimmt, oder das, was die Umgebung von uns erwartet. Wenn wir häufig das Gefühl bekommen haben, so, wie wir sind, nicht in Ordnung zu sein, wenn also unserem Wesen Scham zugefügt wurde, verlieren wir das Vertrauen in das innere Spüren. Die Folge ist dann Verwirrung. 

Umgekehrt gesagt, gilt auch: Wenn Verwirrung da ist, ist das innere Spüren verschwunden. In der Verwirrung wissen wir nicht, wer wir sind. Die Frage: Wer bin ich eigentlich? kommt aus einer Verwirrung. Sonst würde sich die Frage gar nicht stellen.

Die Botschaft der Befreiung

Andererseits steckt hinter der Verwirrung eine Ahnung und eine Botschaft: Sie signalisiert uns, dass es über das zusammengezimmerte Anpassungsselbst hinaus noch etwas anderes geben müsste und sollte, etwas, auf das unsere Sehnsucht bezogen ist und auf das alle Impulse zum inneren Wachsen gerichtet sind. Wir sind nicht nur ein Sammelsurium von Versatzstücken, die uns die Familientradition hinterlassen hat und die wir aus dem reichhaltigen Medienangebot übernehmen. Wir sind einzigartige und wunderbare Wesen, mit einer Tiefe im Erleben, an die keine äußeren Sinnangebote und Verlockungen heranreichen können. Die Schätze ans Licht zu bringen, gelingt, wenn wir unsere inneren Kanäle säubern und wieder zugänglich machen. Der Weg von der Außenlenkung zur Innensicht wird nicht geschenkt, sondern ist das Ergebnis von Innenarbeit und Achtsamkeit. Er lohnt sich in jedem Fall, denn er verheißt die einzige Freiheit, über die wir dauerhaft verfügen können und die allumfassend ist: Die, die tief in uns schlummert.

Zum Weiterlesen:
Der Raub des Selbst
Die Verdinglichungstendenz
Das Korsett der Erwartungen
Anpassung als Überlebenszwang


Donnerstag, 12. Mai 2022

Pazifismus in der Krise?

Es steht zu lesen, dass sich der Pazifismus in einer Krise befindet. Seit Februar tobt ein heftiger Krieg in Osteuropa ohne Aussicht auf ein Ende, mit Tausenden von Todesopfern und massiven Zerstörungen an Seelen und an Gütern. Es handelt sich um einen brutal geführten Angriffskrieg, in dem Russland das „Recht“ des Stärkeren gegen einen schwächeren Nachbarstaat durchsetzen will. Die Ukraine hat nur die Wahl zwischen Selbstaufgabe und Selbstverteidigung und hat den zweiten Weg gewählt. Auch wenn manche diese Wahl kritisieren, ist sie zu respektieren, denn jedem Land gebührt die Selbstbestimmung. Wo allerdings hat in diesem Szenario der Pazifismus, also die Idee, alle Konflikte ohne Einsatz von Gewalt zu lösen, einen Platz? 

Sobald die Waffen sprechen, gilt die Sprache der Waffen. Wer mit der Sprache der Vernunft und Menschlichkeit einen Panzer ansprechen will, wird nicht gehört, sondern überrollt. Im Kleinen kennen wir es von entgleisenden Streitgesprächen: Wenn die Emotionen aufkochen, gehen die leisen und ruhigen Stimmen unter. Eine Kriegsmaschine, die auf alles schießt, was sich bewegt, lässt sich nicht von Demonstranten aufhalten, die Friedenslieder singen und Fahnen schwenken. Brutalität breitet sich aus, solange sie mit ihrer Strategie Erfolg hat und hört erst dort auf, wo sie auf Gegengewalt stößt. Gewalt kann also nur durch eine stärkere Gegengewalt beendet werden. Wird sie nicht durch eine Gegenkraft aufgehalten, expandiert sie weiter. Denn die Gewalt lebt von ihren Erfolgen. Treten diese ein, indem ein Gegner besiegt wird, so verstärkt sich das Gewaltmuster. So wie der Krieg den Krieg ernährt (siehe die russischen Plünderungen in den eroberten Gebieten), so ernährt die Gewalt die Gewalt. 

Erfolgreiche Gewalt gebiert noch mehr Gewalt. 

Diese Logik der Gewalt ist einfach und zugleich unerbittlich und alternativlos. Sie hat archaische Wurzeln und beginnt mit den Uranfängen der Gewaltausübung. Die Menschheitsgeschichte ist voll von dieser Logik und der von ihr verursachten Blutspur. Der russische Präsident vertritt diese Logik ganz unverhohlen. Das übersehen all jene, die meinen, der Ukraine Ratschläge geben zu können, wie sie den russischen Wünschen entgegenkommen sollten, um den Krieg möglichst schnell zu beenden und die dem ukrainischen Präsidenten und seiner Regierung vorwerfen, für all die Toten, die der Krieg jeden Tag fordert, die Verantwortung zu tragen. Sie machen aus den Opfern die Täter, um die eigentlichen Täter von ihrer Verantwortung zu entlasten. Das hat nichts mit Pazifismus zu tun, sondern ist ganz einfach eine Identifikation mit dem Aggressor, die ihn von der Verantwortung für seine Handlungen entlastet. 

Der gewaltfreie Widerstand 

Was aber ist mit den vielen Beispielen des gewaltfreien Widerstandes? Wir denken z.B. an Mahatma Gandhi oder Martin Luther King. Sie haben Bürgerrechtsbewegungen angeführt und die Auseinandersetzung mit der Staatsmacht mit friedlichen Mitteln geführt, die langfristig erfolgreich waren. Andere friedliche Protestaktionen wie z.B. am Tien’amnenplatz 1989 in Peking oder in Weißrussland 2021 sind an der Brutalität des Staatsapparates gescheitert. Selbst bei den erfolgreichen Aktionen handelt es sich um innerstaatliche Konflikte, nicht um zwischenstaatlich geführte Kriege. Wenn zwei Militärapparate aufeinandertreffen und beide Seiten die Intention haben, Krieg zu führen, hat die Gewaltlosigkeit keinen Auftrag mehr und muss warten, bis der Schrecken der Kanonen verstummt. 

Es sind zwei völlig verschiedene Ligen, in denen die Gewalt und in denen der gewaltfreie Widerstand spielen. Das Modell der Bewusstseinsevolution macht diesen Unterschied deutlich: Die Logik der Gewalt gehört zur zweiten Ebene, auf der das Recht des Stärkeren zur Geltung kam. Die Notwendigkeit von größeren Sozialgebilden, die sich im Gefolge der Einführung der Landwirtschaft vor 10 000 Jahren stellte, gab der Gewalt einen fixen Platz in der Gesellschaft. Ein Kriegerstand wurde geschaffen, der die Wirtschaft vor Plünderungen schützen musste und das eigene Territorium vor Eindringlingen sichern sollte. Während die Bauern die Nahrungsmittel produzierten, bekämpften sich die Krieger, oder wie sie im Mittelalter benannt wurden, die Ritter. Mit der Weiterentwicklung der Gesellschaft wurde die Gewaltanwendung zunehmend zum Monopol für die Staatsmacht. Kriege im Inneren sollten mit dieser Macht unterbunden werden, während für die Kriege gegen die anderen Staaten Armeen gebildet wurden. Auf diesem Stand befindet sich das internationale Staatswesen im Wesentlichen bis heute, weil es noch immer keine Weltmacht gibt, die ein Gewaltmonopol über die Einzelstaaten hat. 

Die Entwicklung der Kultur und des Bewusstseins ging dennoch weiter und führte über die materialistische und personalistische Stufe zum systemischen Denken im 20. Jahrhundert, in dem der Pazifismus verortet werden kann. Es ist die Ebene, auf der wir genau wissen, wie wir die Gewalt eindämmen und dauerhaften Frieden stiften können. Es ist die Ebene, von der aus wir verstehen, dass Gewalt und das damit zusammenhängende Konzept des Rechts des Stärkeren für die Weiterentwicklung der Menschlichkeit ungeeignet ist, dass vielmehr das Eingrenzen der Gewalttendenzen in den Menschen und Gesellschaftsgruppen notwendig ist, um Sicherheit und Vertrauen zu vertiefen. Beim Projekt der Vermenschlichung der Menschheit geht es darum, dass Wege und Methoden der Gewaltfreiheit angewendet werden, getragen von gegenseitigem Respekt und von Gleichrangigkeit. Insofern kann es keine Krise des Pazifismus geben. Vielmehr zeigen die aktuellen Geschehnisse, wie unverzichtbar es ist, die Fackel des Friedens hochzuhalten. Das Ausmaß an Zerstörung zeigt, wohin wir gelangen, wenn wir unter das Niveau der Friedfertigkeit zurückfallen. 

Die Sackgasse der Gewalt 

Jede Gewaltaktion verbraucht übermäßig viel Energien und Ressourcen, die dann irgendwann ausgehen. Jeder Krieg belastet die Wirtschaft des eigenen Landes und trägt nichts zu ihrer Weiterentwicklung bei. Jeder Krieg mindert den Wohlstand und erzeugt Armut und Elend. Kriege gehen üblicherweise erst dann zu Ende, wenn die Kräfte zum Kriegführen erschöpft sind. Der dreißigjährige Krieg endete, weil ganze Landstriche in Mitteleuropa entvölkert waren. Es konnten keine neuen Soldaten rekrutiert werden und die kämpfenden Truppen hatten nichts mehr zu essen. Der erste Weltkrieg endete, als bei den Mittelmächten Hungersnöte ausbrachen und die Soldaten keine Schuhe mehr hatten. Der zweite Weltkrieg endete, nachdem die Städte in Deutschland und Österreich in Schutt und Asche lagen.  

Gewalt löst keine Konflikte, sondern verstärkt und vertieft sie und erschwert jede Konfliktlösung. Wir hören jeden Tag, wie stark die Verbitterung und der Hass in der ukrainischen Bevölkerung auf die Russen wächst, auch bei Menschen, die selber russische Wurzeln haben oder die nie etwas gegen ihre Nachbarn hatten. Die zerstörte Infrastruktur, Schulen, Spitäler, Kindergärten bilden Wunden, über das ganze Land verstreut, die es immer schwieriger machen, den Verursachern in die Augen zu schauen und deren verborgenes Leid zu sehen. Alles klagt an: Die Leichen der gefolterten Zivilisten, die Menschen, die entführt werden, die Wohnhäuser in Trümmern, die Granatentrichter, die Kühlschränke und Fernseher, die geplündert und weggeführt werden. Diese millionenfachen Anklagen bleiben so lange bestehen, bis sie von den Schuldigen eingestanden werden und gerechte Strafen verhängt sind, also vielleicht bis in alle Ewigkeit, jedenfalls, soweit kein Tatausgleich geschieht, bis in die nächsten drei Generationen. 

Seit es Gewalt gibt, wissen wir, dass sie alles schlimmer macht. Dennoch wird gegen jede Erfahrung und gegen jedes bessere Wissen immer wieder auf Gewalt zurückgegriffen. Entweder erhofft man sich durch einen Überraschungsangriff einen schnellen Gewinn, denkt sich, stärker zu sein und damit erfolgreich sein zu müssen, oder meint, dass es kein anderes Mittel mehr gibt, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Wir denken z.B. an jenen US-General im Vietnamkrieg, der verkündete, das gepeinigte Land in die Steinzeit zurück zu bombardieren, um endlich den hartnäckigen Widerstand gegen die überlegene Militärmacht zu brechen. In vielen Fällen enden Kriege mit einer Demütigung der Anstifter und Angreifer, so die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert, der Vietnamkrieg oder die Balkankriege vor dreißig Jahren.  

Niemals bewirkten Kriege dauerhafte und nachhaltige Friedensregelungen. Zwar konnte nach dem dreißigjährigen Krieg eine neue Staatsordnung eingeführt werden, die von einiger Dauer war; auch kam es nach dem zweiten Weltkrieg zur Gründung der Vereinten Nationen und der Europäischen Gemeinschaft. Aber diese Errungenschaften waren nicht den vorangegangenen Kriegen geschuldet, sondern besonnenen Politikern und vernünftigen Menschen aus der Zivilgesellschaft, vor dem Hintergrund der großen Mehrheit an Menschen, die unter den Kriegen leiden mussten und sich nichts mehr wünschten als dauerhaften Frieden. 

Der ewig gültige Pazifismus 

Wir wissen allerdings auch: Der Pazifismus lebt, solange es Menschen gibt. Es ist dieses Vermächtnis, dem die Schrift von Immanuel Kant über den ewigen Frieden gewidmet ist. Die Sehnsucht der Menschen nach Frieden setzt sich immer langfristig durch, so wie im Spruch von Lao Tzu das Weiche das Harte besiegt. Die Kraft der Menschlichkeit ist, von weiter oben betrachtet, stärker als die der Unmenschlichkeit. Denn die Gewaltneigung kommt aus der Einengung der menschlichen Möglichkeiten, aus einer ausweglosen Not, aus Angst und Verzweiflung. Das ist ihre Schwäche und ihre Aussichtslosigkeit. Sie verfügt über keine Ideen und Energien für die Verbesserung der Welt, nicht einmal für den Wiederaufbau dessen, was sie zerstört hat. Sie bleibt ratlos auf den Trümmern sitzen, die sie angerichtet hat.  

Die Friedenssehnsucht ist stärker als die kurzfristigen und trügerischen Hoffnungen, die von der Gewalt angestachelt werden. Sie speist sich aus dem Drang nach Weiterentwicklung und Wachstum, aus allen Quellen der Kreativität und der Kooperation. Wenn die Kräfte der Zerstörung verpufft sind und die Leichenberge zum Himmel stinken, gehen die Blicke zu den Tauben, die durch die Luft gleiten, als wäre nichts geschehen. Sie künden den Frieden, der uns allen zusteht und für den wir uns immer wieder einsetzen sollten. Es ist der Frieden, den wir alle wollen, selbst die Kriegstreiber. 

Kriegerische Krisenzeiten sind keine Krisenzeiten des Pazifismus. Im Gegenteil, sie zeigen uns, wie notwendig der Pazifismus ist und wie wichtig es ist, beständig an seiner Vertiefung und Erweiterung zu arbeiten.

Zum Weiterlesen:
Friede ist nicht das Gegenteil des Krieges
Der Friede ist ein Grundbedürfnis
Der Kraft der Zerstörung
Aufrüstung als Folge der Ukraine-Invasion
Kollektive Traumen hinter dem Angriff auf die Ukraine

Montag, 9. Mai 2022

Corona-Ängste und eingeflochtene Schamthemen

Wo Ängste sind, ist die Scham nicht weit. Die Corona-Krise hat die Gesellschaften ordentlich aufgemischt. Lager, Blasen und Glaubensgemeinschaften sind entstanden, politisierte Gruppen quer über Parteigrenzen haben die Parteienlandschaft verändert. Es sind Bruchlinien entstanden, die Freundeskreise, Familien und Arbeitsgruppen auseinandergerissen haben. Die Änderungen in den Lebensgewohnheiten, die durch die Corona-Maßnahmen notwendig wurden, haben viele Menschen stark verunsichert und Ängste hochgebracht, die angesichts der realen Bedrohung oft unangemessen hoch ausgefallen sind. 

Wir befinden uns zur Zeit in einer (vorübergehenden?) Phase des Rückgangs der Infektion und damit auch des Rückgangs der Debatten und Auseinandersetzungen rund um dieses Thema, die deutlich an Heftigkeit verloren haben. Deshalb ist jetzt ein guter Zeitpunkt, um die verschiedenen Ängste näher zu betrachten und den dahinter aktivierten Schammustern nachzugehen. Der psychologische Blick fällt dabei natürlich auf Pränatal- oder Kindheitstraumen, die die Massivität der Ängste erklären können. Hier betrachten wir außerdem die Schamprägungen, die die emotionale Belastung zusätzlich gesteigert haben. Ich versuche, ein breites Spektrum der emotionalen Reaktionen auf die Krise abzudecken, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Es gibt zwischen den einzelnen Reaktionsmustern auch Übergänge und Überschneidungen, manche Menschen kombinieren mehrere von diesen Mustern, während andere in Lauf der Zeit von einem Muster zu einem anderen Muster weitergewandert sind. Ich beziehe hier keine Partei für eine der Reaktionsformen, sondern sehe, dass sie alle einem inneren Leidensdruck entsprungen sind, der hier einem Verständnis näher gebracht werden soll.

Die Angst vor dem Virus und der Erkrankung 

Zunächst und naheliegend haben wir alle Angst davor, krank zu werden, weil Krankheiten immer unangenehm und bedrohlich sind. Dazu kommt, dass im besonderen der Verlauf einer Corona-Erkrankung nicht vorhersehbar ist, dass sie die einen kaum spüren, während sie bei anderen in die Intensivstation oder zum Tod führen kann. Mit dem Kranksein sind aber auch immer Schamthemen verbunden. Wer krank ist, ist schwach und braucht Pflege, was zu einer Bedürfnisscham führen kann, wenn sich jemand schwer tut, die eigene Schwäche anzunehmen und sich von einer Fürsorge durch andere abhängig zu machen. 

Eine andere Quelle der Scham zeigt sich bei denen, die stolz verkündet haben, dass sie ein tolles Immunsystem haben, deshalb nicht erkranken werden und aus diesem Grund keine Impfung brauchen und alle einschränkenden Maßnahmen ablehnen. Wenn sie das Virus doch erwischt hat, können sie ihrer Scham nicht entrinnen, die unter Umständen noch durch Häme aus ihrer Umgebungen verstärkt wird.

Angst vor dem Anstecken von anderen

Viele Menschen, darunter auch Kinder, haben die Folgen von Corona weniger in Bezug auf sich selbst befürchtet. Es wurde schnell klar, dass das Virus hochinfektiös ist und dass vor allem ältere Menschen schwer gefährdet sind. Deshalb bekamen viele die Angst, Angehörige aus der gefährdeten Gruppe anzustecken und möglicherweise dann an deren Tod schuld zu sein. Es spielt dabei auch die Angst vor der Scham mit, die mit einer derartigen Schuld verbunden ist: Für den Tod eines Mitmenschen verantwortlich zu sein, ist in jedem Fall eine schwere Schuld und eine immense Schamlast. 

Angst wegen der Regelverweigerung

Nicht alle haben die Regeln, die eingeführt wurden, für sinnvoll erachtet. Diejenigen, die davon überzeugt sind, dass die Maßnahmen die einzige Möglichkeit darstellen, um der Pandemie Herr zu werden und die weitere Verbreitung zu verhindern, sind mit der Angst konfrontiert, dass jene, die die Regeln nicht einhalten wollen, all die Anstrengungen zunichtemachen. Denn sie gefährden die Risikogruppen und tragen dazu bei, dass die Spitäler überlastet sind und Einschränkungen durch die Pandemie weiter aufrecht bleiben müssen. Sie schämen sich nicht ohne Selbstgerechtigkeit für jene, die sich so egoistisch und uneinsichtig verhalten und das Gemeinwohl mit Füßen treten. Aus dieser Haltung kommen dann oft öffentliche Zurechtweisungen für Regelübertreter oder Anschwärzungen und Vernaderungen von Nachbarn, die z.B. während eines Lockdowns Party feiern.

Die Angst wegen der drohenden Überlastung des Gesundheitssystems, die bei einer ungezügelten Ausbreitung der Erkrankung zu befürchten war, verstärkt diese Haltung und verleiht ihr eine solide Rechtfertigung. Es ist beschämend für eine Gesellschaft, die es nicht mehr schafft, für die Kranken und Schwachen zu sorgen und es müssen jene bekämpft werden, die dieser Entwicklung durch ihre Egoismen Vorschub leisten. Man könnte ja selber von einer schweren Krankheit betroffen sein oder vor einer wichtigen Operation stehen und dann gibt es keinen Platz in den Spitälern, weil alle Betten von Covid-Patienten belegt sind.

Angst vor dem Impfen 

Spezielle Ängste wurden aktiviert, nachdem die Impfungen zugelassen und von vielen Experten und Politikern als Königsweg zur Eindämmung der Pandemie propagiert wurden. Nicht wenige Menschen haben darauf mit einer kategorischen Ablehnung reagiert, die noch verschärft wurde, als Überlegungen zur Impfpflicht aufgetaucht sind, bzw. diese eingeführt wurde. Es entstand ein öffentlicher Druck sowohl von den Gesundheitsbehörden als auch von jenen, die sich impfen ließen, auf jene, die die Impfung verweigern. Dieser Druck wurde von vielen als Beschämung erlebt, als Menschen angeprangert zu werden, die sich weigern, der Allgemeinheit zu dienen und ihre Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten über das Gemeinwohl zu stellen. Manche wählten, um dieser Schamfalle zu entgehen, den Weg, sich bewusst anstecken zu lassen, um die Impfung zu umgehen, aber dafür einen Genesenenstatus zu erlangen. Einer Schamfalle zu entkommen führt oft, wie auch in diesem Fall, direkt in die nächste Schamfalle: Sich für die Feigheit, sich nicht impfen zu lassen, zu schämen und dafür einen Umweg zu gehen, der unter Umständen viel riskanter ist als die Impfung selber.

Viele der Impfgegner haben sich früher ohne Bedenken oder Ängste allen möglichen Impfungen unterzogen, z.B. um auf Reisen gehen zu können; die Corona-Impfung war für sie aber dann plötzlich etwas vom Schlimmsten, das die Menschheit je hervorgebracht hat. Auch solche innere Widersprüche können Scham hervorrufen. Die reichhaltigen Informationen gegen die Impfung, die in den verschiedenen Medien angeboten wurden, wurden auch deshalb so eifrig konsumiert, weil sie für die verschiedenen Schamthemen, die in diesen Zusammenhängen aktiviert werden, Abhilfe versprachen. Die Suche von vielen nach einer Rechtfertigung für die eigenen Ängste und als Gegenmittel gegen die Scham erzeugte einen großen Meinungsmarkt, auf dem sich Experten, Pseudoexperten, selbsternannte Experten, Faktenverdreher und Faktenerfinder tummeln, einen Namen machen und Berühmtheit erlangen konnten. Jeder kann sich im breiten Angebot der unterschiedlichen Wahrheitsanbieter aussuchen, was die eigenen Ängste und Schamgefühle am besten befriedet. Es wäre in diesen Fällen nur darauf zu achten, dass durch den Informationskonsum nicht hinterrücks weitere Ängste und Schamgefühle aktiviert werden.

Für eine weitere Gruppe von Impfgegnern, die auch das breitgefächerte Spektrum an Meinungen nutzen, bietet sich die Schamumkehr als Mittel zur eigenen Schambewältigung an: Schämen sollten sich nicht jene, die sich nicht impfen lassen, sondern jene, die wie die Lemminge hinter dem herlaufen, was die Obrigkeiten anordnen und blind in die Impffalle tappen (Lemminge sind im Übrigen nicht so doof wie sie in solchen Zusammenhängen dargestellt werden). Wenn auf mich mit dem tadelnden Finger gezeigt wird, zeige ich mit meinem Finger ebenso tadelnd zurück, verwehre mich gegen die Beschämung und weise ihr den Ort zu, auf den sie eigentlich hingehört. So gibt es in manchen Bereichen Betretungsverbote für jene, die nicht geimpft sind, als auch für jene, die geimpft sind. Wem eine Ausgrenzung angetan wird, der grenzt selber auch gerne aus. Dazu braucht es nur, den Mechanismus der Umkehr der Schamzuweisung zu aktivieren.

Angst vor dem Verlust der Demokratie und der Grundrechte 

Es gibt Überschneidungen zwischen der Gruppe der Impfgegner und der Gesellschaftskritiker, die obrigkeitlichen Verordnungen und Gesetze als Aushöhlung der Demokratie und Aushebelung der Grundrechte sehen. Sie sehen die Maßnahmen als unverhältnismäßig und bevormundend. Für sie maßt sich der Staat eine Autorität an, die ihm nicht zusteht und die geradewegs in die Diktatur führt. Es werden Ängste aus dem kollektiven Traumafeld aktiviert, die mit historischen Erfahrungen aus der Beseitigung der Demokratie zu tun haben. Nicht zufällig sind diese Kritiker besonders stark in Deutschland und Österreich vertreten, Länder, in denen im letzten Jahrhundert die Demokratie beseitigt wurde und diese Entwicklung in einen Weltkrieg mündete. Gegen solche Tendenzen müsse von Anbeginn Widerstand geleistet werden, denn die Regierenden würden am liebsten jede Gelegenheit aufgreifen, die es ihnen erlaubt, ihre Macht über die Individuen und Staatsbürger auszuweiten, bis es dann keinen Widerspruch gegen diese Macht mehr gibt. Es wäre eine Schande, diese Tendenzen nicht rechtzeitig bekämpft zu haben, so wie viele naive Zeitgenossen in den Zeiten des aufstrebenden Faschismus die Augen zu verschließen und zu spät zu bemerken, dass eine Diktatur errichtet war. Diese Schamgefühle zu vermeiden, ist ein wichtiger Antrieb bei dieser Form der Gesellschaftskritik.

Sicher ist es wichtig, ein gewichtiges Augenmerk darauf zu haben, dass die Staatsmacht nicht missbraucht wird und die Rechte der Individuen erhalten bleiben. Andererseits muss der Staat Maßnahmen treffen, um z.B. die Gesundheit seiner Staatsangehörigen zu schützen. Bei dieser Balancierung kann nicht eine Seite einfach weggekürzt werden, sonst leidet die Gesellschaft als Ganze Schaden. Über das Wie des Gesundheitsschutzes (Lockdowns, Maskenpflicht, Impfpflicht usw.) gibt es unterschiedliche Auffassungen, und in einer Demokratie ist es die Verantwortung der gerade regierenden Personen und Gruppen, nach ihren Vorstellungen für das Gemeinwohl zu sorgen. Die Gesetze und Verordnungen, die aus dieser Verantwortung heraus umgesetzt werden, stehen dann vor den Höchstgerichten bzw. bei der nächsten Wahl auf dem Prüfstand. 

Wird die an und für sich notwendige kritische Haltung der Staatsmacht gegenüber allerdings überdehnt, sodass Widerstand schon dort gerechtfertigt erscheint, wo es noch keine grundlegende Rechtseinschränkung gibt, so nähert sie sich nicht aus einem abgewogenen Realitätsbewusstsein, sondern aus historischen Ängsten und trägt damit zur Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung bei. Im Bestreben, die schmachvolle Situation der Entmachtung des „Volkes“ zu verhindern, werden Ängste geschürt, die auf irrealen Annahmen beruhen und die eben dieses Volk schwächen. Um Scham zu verhindern, wird die Scham vermehrt, ein häufig vorkommender selbstdestruktiver Mechanismus. 

Dieses Phänomen tritt insbesondere dann auf, wenn die irrealen Ängste zu einer missionarischen Einstellung führen: Die Mitmenschen müssen mit allen Mitteln aufgerüttelt werden, sonst taumeln sie blindlings in die Katastrophe; jene, die trotz allem nicht glauben wollen, wie gefährlich alles ist und wie weit die Grundrechte schon ausgehöhlt sind, müssen dann selbst als bewusste oder unbewusste Agenten der Mächtigen bekämpft werden. Damit verschärfen sich die gesellschaftlichen Spannungen. Wenn es in jedem Streitgespräch ums Rechthaben geht, verzieht sich die Scham in den Hintergrund und meldet sich höchstens, wenn die Debatten auf keinen grünen Zweig stoßen und stattdessen daran Freundschaften zerbrechen.

Angst vor Kräften im Hintergrund 

Einige Schritte weiter als die gesellschaftspolitischen Kritiker von Corona-Maßnahmen gehen jene, die hinter dem Vorgehen der Regierungen in den einzelnen Ländern eine weitverzweigte Verschwörung von dunklen Kräften identifizieren, denen die angebliche Pandemie beste Chancen bietet, um ihre Macht noch weiter durchzusetzen. So behaupten einige Personen aus dieser Ecke, dass es das Corona-Virus gar nicht gibt, sondern dass normale Grippewellen für das Schüren von Panik genutzt werden, in deren Schatten autoritäre Strukturen geschaffen werden. Entweder gibt es das Virus überhaupt nicht oder es ist von Geheimdiensten entwickelt worden, die für die geheimnisvollen Hintermänner arbeiten. 

Sobald das Impfthema am Tapet auftauchte, war bei diesen Leuten klar, dass die Beherrschung der Menschen mit diesem Mittel weitergetrieben wird, bis hin zur völlig unbelegten Idee, dass über die Impfung Chips im Körper eingepflanzt werden, mit denen dann die Menschen ferngesteuert werden können. 

In diese Sichtweisen haben sich alte Verschwörungsängste eingemischt: Häufig werden Juden als Drahtzieher vermutet oder Multimilliardäre, die auch an den Reichtum von jüdischen Bankbesitzern in früheren Zeiten erinnern. Genährt durch den Hass von Minderbemittelten und von eingefleischten Antisemiten baut sich ein dunkles Feld auf, das die Innenwelt der Verschwörungsgläubigen widerspiegelt. Sie sind stolz darauf, dass sie über Wissen verfügen, das anderen scheinbar nicht zugänglich ist, und bedauern oder verachten jene, die gutgläubig befolgen, was ihnen von den, wie es dann unter Verwendung von Nazi-Jargon heißt: gleichgeschalteten Medien vorgegaukelt wird. Dieser Stolz der eingeweihten Besserwisser verdrängt die Scham, die erst auftritt, wenn es Menschen gelingt, aus der Blase der eingeschworenen Verschwörungswitterer auszubrechen und sich mehr der Realität stellen.

Die Wissenschaftsfeindlichkeit ist ebenso Teil dieser Sichtweisen, denn sie ist notwendig, um die eigenen Denkstrukturen und Theoriegebäude gegen alle wissenschaftlichen Anfechtungen aufrechtzuerhalten. Viele Wissenschaftler haben sich neben ihren Forschungsaufgaben auch der Aufklärung von Verschwörungsmythen gewidmet und sind auch deshalb zum Feindbild des Lagers der Verschwörungsanhänger geworden, in dem sich viele Weniggebildete befinden und mit der Wissenschaftsfeindlichkeit eigene Schamgefühle wegen einer mangelhaften Bildung kompensieren können.

Zum Weiterlesen:
Politik nach Corona
Impfen - Wissen und Wissenschaft
Aufklärung in Zeiten einer Pandemie
Von der Angst zur Ethik
Die Ursprünge der Opferrolle
Krisenängste und ihr Jenseits

Das Geschehen und der Verstand

Ein naheliegender Einwand gegen die Orientierung des Geschehenlassens, die im vorigen Blogartikel beschrieben wurde, liegt darin, dass es wohl allzu leicht zum Nichtstun oder zum Faulenzen kommt, wenn es kein Funktionieren gibt: Ich lasse geschehen, was geschieht, lasse also das „Müssen“ weg, und schon bleibe ich morgens drei Stunden im Bett liegen. All die Aufgaben, die zu erledigen wären, bleiben unerledigt, es meldet sich keine Lust zum Tun. Ich habe eine probate Ausrede gegen jede Herausforderung des Lebens: Es wollte nicht geschehen. Vielmehr wollte geschehen, dass ich im Bett knotzen bleibe. 

Wenn wir allerdings genauer hinschauen, können wir sehen, dass wir in solchen Situationen nicht im Fluss sind. Vielmehr erkennen wir hier Anzeichen einer schleichenden Depression, verursacht durch hormonelle Störungen auf einer Ebene und durch belastende Kindheitserfahrungen auf der anderen. Dazu kann auch noch eine genetisch oder epigenetisch vererbte Neigung zur Depression kommen. Irgendwo führen dabei Ängste die Regie, die suggerieren, dass das Aufstehen zu Mühsal führen wird und deshalb besser unterlassen werden sollte. An anderer Stelle beginnen vielleicht Schamgefühle zu nagen, die uns vorwerfen unser Leben zu vergeuden, und bewirken irgendwann, dass der Entschluss zum Aufstehen erwacht und schließlich in einer Handlung mündet.

Die Macht des reaktiven Verstandes

In solchen Situationen kommt der reaktive Verstand dem Fließen in die Quere und nimmt es als Rechtfertigung für das Ausspielen der eigenen Muster und erlernten Gewohnheiten. Wo der Verstand Regie führt, gibt es keinen Flussmodus. Denn der Verstand ist von Ängsten angetrieben, die dann in ein „Müssen“ münden. Wer überlang im Bett liegt, um das „Müssen“ der täglichen Pflichten aufschieben zu können, unterliegt dem Müssen des Vermeidens, diktiert vom Verstand und den dahinter aktivierten Ängsten. Es ist ein versteckter Funktionsmodus, der regiert, das Nicht-Funktionierenmüssen besteht nur zum Schein. 

Die einzige Disziplin, die wir brauchen, ist jene, die den Machenschaften des Verstandes Einhalt gebietet. Sobald wir merken, dass wir aus dem Flussmodus herausgefallen sind und einem Müssen unterliegen, braucht es den bewussten Entschluss, die Vorherrschaft des Verstandes zu beenden. Wenn es nicht gelingt und der Verstand hartnäckig sein Terrain behauptet, gilt es, sich die Ängste bewusst zu machen, die aus dem Off den Verstand aktivieren. Dann können wir die Ängste mit der Realität konfrontieren und werden in den meisten Fällen draufkommen, dass es in Wirklichkeit keine aktuellen Bedrohungen gibt. Dann sollte sich die Angst auflösen und wir können wieder in den fließenden Modus zurückkommen.

Es ist also immer der reaktive Verstand, der diesen Zustand unterbricht. Er ist aus all den Unterbrechungen entstanden, die wir im Lauf unserer frühen Geschichte erlebt haben, und hat daraus seine Strategien abgeleitet. Gelehrig wie er ist, hat er die Agenda der Eltern aufgegriffen und unserem Bewusstsein als die besseren Strategien schmackhaft gemacht: „Wenn mich die Eltern aus meinem wunderbaren Zustand des Versunkenseins im Moment herausholen, werden sie schon wissen, wofür das gut ist. Sie sind ja die Großen und wissen, wo es lang geht. Da ich auch mal groß werden will, muss ich mich auch immer unterbrechen, wenn ich allzu lang im Geschehenlassen bin.“ So ungefähr tickt unser Verstand, der stets davon überzeugt ist, es gut mit uns zu meinen.

Bewusstheit unterbricht den Verstand

Der Verstand unterbricht, und mit unserer Bewusstheit unterbrechen wir den Verstand. Er reagiert auf alte Geschichten und spult dann sein Programm ab, das uns in den Müssen-Modus des Funktionierens hineinzwängt. Selber bleibt er solange drin, bis wir bewusst die Stopp-Taste drücken. Dann können wir wieder zurück in den Flussmodus gleiten.

Und siehe da: Im Flussmodus sind wir eben im Fließen, es gibt keinen Stillstand und keinen Leerlauf. Ein Impuls folgt auf den anderen. Jeder Moment bereitet den nächsten vor, der organisch aus ihm folgt. Deshalb kommen wir nicht in Zustände, in denen wir uns unwohl fühlen, wie z.B. in der anfangs geschilderten Situation des Nicht-Aufstehen-Wollens oder der Vermeidung von Herausforderungen. Vielmehr packen wir an, was zu tun ist, ob es schwierig oder einfach, anstrengend oder mühelos ist. Solange sich der reaktive Verstand fernhält, erledigen wir unsere Erledigungen, ohne Stress und Druck. Was an einem Tag geht, geht, was nicht, hat am nächsten Tag Zeit.

Von außen nach innen

Es ist zugleich eine Wendung von der Außenorientierung zur Innenorientierung. Im Funktionszustand ist unsere Aufmerksamkeit total nach außen gerichtet. Beständig scannen wir die Umwelt ab nach Anforderungen, Erwartungen und Bedrohungen. Sie liefert die Reize und wir reagieren auf sie, manchmal adäquat, manchmal unpassend. Dazu kommen die Pläne des Verstandes, die sich auch wie von außen machtvoll melden. 

Auf diese Weise funktionieren wir im Alltag und nehmen dabei kaum wahr, was sich innerlich abspielt, wie es uns also mit all dem geht. Unsere Gefühle werden uns meistens nur bewusst, wenn wir uns über etwas ärgern oder wenn wir uns vor etwas schrecken. Vor allem der Grundstress, der das Leben im Funktionieren kennzeichnet, ist uns schon so selbstverständlich geworden, dass er uns gar nicht mehr auffällt. Gerade deshalb ist die Wendung nach innen so wichtig. Denn sie macht uns auf unseren inneren Zustand aufmerksam, und dort liegt die einzige Möglichkeit, eine Änderung zu vollziehen. Der Schlüssel heißt Bewusstheit, und mit ihm können wir den Funktionsmodus beenden und in das Erleben des Moments zurückkommen, in dem Innen und Außen harmonisch miteinander schwingen.

Mit der Natur in Einklang

Oft hilft der Kontakt zur Natur, um unseren Verstand zu beruhigen und in den Moment zu kommen. Die Natur ist getragen und durchdrungen vom Geist des Geschehenlassens. Ihre entspannende Wirkung berührt uns deshalb, weil sie uns an unser eigentliches Sein erinnert, an das Übereinstimmen mit uns selbst. Da gibt es kein Müssen, kein Erwarten und kein Bewerten. Alles darf so sein, wie es ist.

Wir sind selber Natur, und das wird uns bewusst, sobald wir in Resonanz mit der Natur um uns herum treten. Wir sind ein Teil des Geschehens, das alles um uns herum in Bewegung hält. Wir sind nichts Besonderes im Sinn eines abgegrenzten Elements oder einer für sich bestehenden Einheit, sondern ein weiteres Sandkorn am Meeresstrand, eine Welle im Ozean, die kommt und wieder geht, ein Grashalm, der wächst und vergeht. Und wir sind etwas ganz Besonderes, etwas Einzigartiges, etwas noch nie Dagewesenes. Im Bewusstsein dieser beiden Aspekte unseres Seins kommen wir ganz zu uns.

Zum Weiterlesen:
Geschehenlassen und Funktionieren
Tun und Geschehenlassen
Funktions- und Flussmodus
Funktional und fließend wahrnehmen


Freitag, 6. Mai 2022

Geschehenlassen und Funktionieren

Wir stellen uns ein produktives und erfolgreiches Leben so vor, dass wir uns möglichst viel im Tun-Modus befinden. Wir haben unsere Listen von Dingen, die zu erledigen sind, und arbeiten sie Punkt für Punkt ab. Währenddessen kommen neue Dinge dazu, und auf diese Weise bleibt das Leben voll von Tätigkeiten. Manchmal tauchen Leerzeiten dazwischen auf, die uns unruhig werden lassen, weil wir dabei nachdenken, was denn zu tun wäre, damit die Leere gefüllt wird. Irgendwann gönnen wir uns eine Pause im Tun, die wir dafür nutzen, um Fitness fürs weitere Aktivsein zu tanken. 

Ein erfülltes Leben also? Oder befinden wir uns in dieser Orientierung die ganze Zeit in einem Zustand des Getriebenseins, sind wir da beständig unter Druck? Ein Termin folgt dem nächsten, ein Vorhaben reiht sich an das andere, stets haben wir das Gefühl, es ist nicht genug, wir haben es noch immer nicht geschafft. Es kann ein Gefühl sein wie beim Esel, der der Karotte vor der eigenen Nase nachrennt oder wie beim Hamster in seinem Rad. Es ist mehr ein Leben, das von Stress angefüllt ist als von Sinn. Es ist eine vergebliche und unendliche Suche nach dem Glück.

Wir wollen so viel machen, weil wir damit den Eindruck gewinnen, die Kontrolle über die Wirklichkeit mehr in unseren Händen zu haben und nicht so sehr äußeren Einflüssen ausgeliefert zu sein, die wir nicht überblicken können und die möglicherweise immer auch etwas Bedrohliches haben könnten. Wir wollen uns durch unsere Aktivitäten umfassend absichern, sodass nichts Unvorhergesehenes passieren kann, das uns dann aus der Bahn werfen könnte.

Die Einbahn des Funktionierens

Was ist das aber für eine Bahn? Sie wirkt wie eine Einbahn, die in eine im Wesentlichen immer gleiche Zukunft führt, geprägt von einem Funktionsmodus: Die Aufgaben, die sich stellen, abzuarbeiten, während sich dahinter gleich die nächsten Aufgaben anstellen, im Beruf wie im Privaten. Es ist eine Mühle des Müssens, in der das eigene Wollen keinen Platz und keine Nische finden kann. 

Der Verlust der spontanen Lebendigkeit

Kinder befinden sich die meiste Zeit in einem Zustand des Fließens. Sie wenden sich einmal diesem zu, dann jenem, verweilen bei einem Stein auf der Straße oder bei einer Blume, und im nächsten Moment ist wieder etwas anderes interessant. Sie kommen in Emotionen und sind völlig in ihnen gefangen, um ein paar Momente später wieder im Fluss des Geschehens zu sein. Sie schöpfen ihre Lebendigkeit aus dem, was jeder Moment gerade als Anregung und Herausforderung schenkt.

Warum geht diese Fähigkeit, mit dem Fluss des Lebens mitzugehen, verloren? Die Erwachsenenkultur verlangt andere Fähigkeiten, um in ihr das Überleben zu sichern. Das wissen die Eltern und bereiten ihre Kinder darauf vor, indem sie ihre Fließerfahrungen unterbrechen. Es sind analoge Abläufe, die das Leben des Kindes bisher bestimmt haben: Die Rhythmen des Organismus, der Hunger hat, verdaut, entspannt, anspannt, der Wahrnehmungen von außen aufnimmt und verarbeitet, der sozial interagiert und sich mit der Umgebung austauscht. Mehr und mehr kommen digitale Abläufe dazu, die nicht mehr von einem Kontinuum geprägt sind, sondern von Unterbrechungen. Das Kind spielt, die Mutter kommt und sagt, dass es Zeit ist zu gehen. Das Kind protestiert und fügt sich dann irgendwann. Es ist aus einem Flusszustand herausgerissen und taucht, sobald es wieder geht, in einen neuen ein. 

Finden solche Unterbrechungen mit Härte statt, also mit Strenge und Sturheit und nicht mit Verständnis und Eingehen, werden also die Nöte des Kindes, das unter der Unterbrechung leidet, übergangen, so entwickelt sich ein Gefühl der Feindlichkeit und Fremdheit dem ausgeübten Verhaltensdruck gegenüber. Irgendwann ändert sich die Einstellung, und die Entfremdungserfahrung wird nach innen gerichtet, auf sich selbst. Das Funktionieren gemäß äußerer Anforderungen wird zur eigentlichen Natur, während die innere Beziehung zum Flussmodus verloren geht. 

Die Weitergabe der Überlebensprogramme

Dieser Umschwung geschieht vor allem dann, wenn die Eltern immer wieder ihre eigenen Überlebensprogramme im Kontakt mit den Kindern abspulen. Sie unterbrechen den Lebensfluss, in dem sich die Kinder befinden, auf ähnliche Weise, wie es ihre Eltern mit ihnen gemacht haben. Daraus haben sie ihre Überlebensstrategien entwickelt und vermitteln ihren Kindern die Notwendigkeit, aufs Neue solche Strategien auszubilden. Natürlich werden sie auf diese Weise auf die Gesellschaft und ihre Ansprüche vorbereitet, ob die Eltern es wollen oder nicht.

Den Kindern wird damit unbewusst beigebracht, dass sie kein selbstverständliches Recht auf ihre Existenz und ihre Grundsicherheit haben, sondern dass sie dieses Recht nur bekommen, wenn sie durch ihre Anpassungsleistungen beweisen, dass ihre Überlebensstrategien zu den Anforderungen der Gesellschaft und Wirtschaft passen. Das bedeutet, dass die ursprünglichen Geburtsrechte aberkannt werden; sie kommen nicht einfach dem Menschen qua seiner Existenz zu, sondern sie müssen erarbeitet werden, durch die Anpassung an die gesellschaftlichen Erwartungen. 

Digitale Normen im Schulsystem

Das Schulsystem verstärkt diese Tendenzen weiter. Die digitalen Abläufe dominieren, vorgegebene Aufgaben müssen erfüllt und Zeitpläne eingehalten werden. Die Schulglocke ist wie ein Symbol für die Außensteuerung der Zeit. Die inneren Bedürfnisse der Kinder müssen sich diesen Rhythmen unterordnen – es soll nicht mehr Hunger spüren, wenn ihn das Bauchhirn meldet, sondern wenn die Schulglocke die Pause einläutet. 

Die Erwachsenenwelt fordert, dass wir unsere Brötchen „im Schweiße des Angesichts“ verdienen müssen und dafür unsere Leistungen erbringen. In den meisten Bereichen der modernen Arbeitswelt gelten Anforderungen, die vom Gegenprinzip des Fließens geprägt sind. Es sind Aufgaben, die unter einem Zeitdruck erledigt werden müssen, gleich wie die innere Verfassung gerade beschaffen ist. Gefragt ist nicht der aktuelle innere Zustand und die aktuelle Verbindung mit der umgebenden Wirklichkeit, sondern das Erfüllen einer vorgegebenen Leistungserwartung. Wir haben darüber keine unmittelbare Kontrolle, sondern fühlen uns gezwungen, zu tun, was verlangt ist. Wir brauchen dafür den Funktionsmodus, mit dem wir unsere Aufgaben abarbeiten. Funktionieren heißt, dass wir unsere innere Befindlichkeit hintan stellen und ignorieren, so gut und solange es geht. Wir reizen gewissermaßen den Toleranzbereich aus, den unser Organismus zur Verfügung hat, um mit Stress umzugehen. Früher oder später merken wir allerdings, dass wir an eine Grenze gekommen sind oder dass wir sie schon überschritten haben.

Die Sinnfrage

Oft meldet sich an diesem Punkt die Scham, die mit der Erkenntnis verbunden ist, an sich selbst vorbei gelebt zu haben oder großteils vorbei zu leben. 

Diese Scham ist oft verbunden mit einer Sinnfrage: Worum geht es mir eigentlich in meinem Leben? Soll das Weiterhecheln von einer Erledigung zur nächsten, von einem Termin zum nächsten alles sein, worum es im Leben geht? Nichts von dem erfüllt mich wirklich, wo finde ich mehr Glück?

Das Auftreten der Sinnfrage ist ein typisches Indiz für den Verlust des Zugangs zum Flussmodus. Erst wenn wir merken, dass wir aus diesem Zustand herausgefallen sind, stellt sich die Frage nach dem Sinn. Die Antwort ist eigentlich ganz einfach, doch übersehen wir sie oft, weil wir im Funktionsmodus feststecken: Lass geschehen, was geschieht – dann verliert die Frage ihre Bedeutung. Wenn wir uns auf diese Formel besinnen, merken wir bald, dass sich etwas in uns entspannt und erleichtert. Es ist, als wären wir in einer neuen Welt angekommen, einer Welt, die jenseits der Leistungszwänge und Terminforderungen existiert und die wir schon so lange verloren haben, dass sie uns wie neu erscheint. 

Zum Weiterlesen:
Tun und Geschehenlassen
Funktions- und Flussmodus
Funktional und fließend wahrnehmen
Das Geschehen und der Verstand