Montag, 23. Dezember 2013

Die Erleuchtungsfalle

Ich habe eine Reihe von Personen erlebt, die von sich sagen, dass sie „erleuchtet“ oder „erwacht“ sind. Sie geben Satsangs, in unterschiedlichen Formaten, aber immer so, dass sie selber draußen sitzen, und alle Besucher mit bestimmtem Abstand vor ihnen. Manche von ihnen reden viel, manche wenige oder gar nichts, manche unterschiedlich. Manche lassen Fragen stellen und geben darauf Antwort oder auch nicht, bei manchen finden Gespräche und Austausch statt. Alle, die ich getroffen habe, haben eine freundliche und akzeptierende Ausstrahlung und vermitteln eine besondere Qualität von Stille und Gelassenheit.

Was ich bei all diesen Menschen auch beobachten und mit ihnen erfahren konnte, ist, dass sie, so reif sie in ihrer spirituellen Erfahrung erscheinen, in Bereichen des zwischenmenschlichen Lebens ihre Schwächen und Unklarheiten zeigten. Daran ist auch nichts Schlimmes, es zeigt, dass niemand vollkommen ist und dass die Fehlerhaftigkeit und Unfertigkeit etwas Menschliches ist. Wie ginge es uns auch mit jemandem, der immer alles richtig, stimmig und perfekt macht, bei dem jeder Satz makellos und jede Handlung von höchster ethischer Reinheit ist?

Das Problem jedoch, das diese Menschen aufwerfen, liegt in folgendem Dilemma: Sie verfügen offenbar über einen inneren Zustand, der sie dem emotionalen Leiden an den Problemen des Lebens enthebt. Sie leiden nicht an verlorenen Geldbörsen und zerbrochenen Beziehungen, sondern sehen in allem, was geschieht, das Stimmige und Richtige. Deshalb sind sie auch ihren eigenen Fehlern gegenüber blind, es ist ja alles in Ordnung so, wie es ist. Es braucht nichts geändert zu werden. Wenn sie jemand darauf aufmerksam macht, dass sie etwas an sich, an den eigenen Einstellungen und Überzeugungen, an Verhaltensgewohnheiten ändern könnten, um es ihrer Umwelt leichter zu machen, reagieren sie verwundert, ignorant oder aggressiv. Sie sind blind für ihre eigenen ungelösten Traumatisierungen und blind für das Leiden, das sie anderen Menschen antun.

Bei solchen Gelegenheiten wird es offensichtlich, dass solche Menschen als Menschen weiter lernen müssten. Da sie aber in ihrem Leben einen so hohen Grad an Zufriedenheit gefunden haben, verstehen sie nicht mehr, wie dieses Lernen geschieht – durch das beständige Feedback in Beziehungen und durch tiefergreifende Selbsterforschung dort, wo sich Leiden erzeugende Gewohnheiten nicht durch bewusstes Wollen verändern lassen. Erleuchtete Menschen haben meistens keine Menschen um sich, die ihnen ein ehrliches und offenes Feedback geben, bzw. von denen sie ein solches annehmen können. Meist sind sie von Menschen umgeben, die solchen „voll“ realisierten Personen bedingungslose Verehrung entgegenbringen, und das festigt dann in diesen Personen die Überzeugung, dass sie nur solches verdienen. Sie scharen also, wie die Potentaten einer Diktatur, einen Kreis von Ja-Sagern und Bestätigern um sich. Es ist kein Wunder, dass sich dann schnell sektenartige Zirkel bilden, deren Angehörige möglichst viel Zeit bei der angebeteten Person verbringen wollen, anfangen, so zu denken und zu reden wie diese Person, und andere abwerten, die davon abweichen.

Damit kommt es zu einer sich selbst bestätigenden Gemeinde von Gleichgesinnten und Gleichgeschalteten. Kritik und Auseinandersetzung ist nicht erwünscht; es geht ja darum, sich vom Denken zu befreien und „den Kopf auszuschalten“. Allerdings ist unser Kopf auch dazu da, Zusammenhänge zu erkennen und damit die Bewusstheit weiter zu verbessern. Dieses Potenzial bleibt in den spirituellen Sanghas ungenützt, weil es von der Zentralfigur monopolisiert ist.

Manchmal kommen die persönlichen Schwächen der Meister an die Öffentlichkeit, wie z.B. die sexuellen Missbrauchsfälle, die Baba Muktananda angelastet werden, oder die Verbrechen, die in der Umgebung von Bhagwan Shree Rayneesh (Osho) in Oregon zum Zusammenbruch der dortigen Gemeinschaft mit Tausenden von Betroffenen geführt haben. Manchmal fallen sie nur auf, wenn sich die kritische Beobachtungsgabe nicht durch die überwältigenden Gefühle und erhebenden Erfahrungen blenden lässt. Dann rückt sich wieder etwas zurecht: Wo Menschen sind, menschelt es. Und das ist gut so, und das entlastet von dem Druck, die eigene Unvollkommenheit endlich loswerden zu müssen.


Therapie und Meditation


Doch auch hier zeigt sich eine Falle in der gesamten Erleuchtungsbewegung unserer Tage. Menschen strömen zu den Satsangs und Retreats der Lehrer und Lehrerinnen, weil sie dort die Stille und Versenkung erfahren wollen – und: Weil ihnen dort jemand sagt: Du brauchst nichts mehr an dir zu ändern, du bist schon vollkommen, du bist schon erleuchtet, erkenne es doch nur. Da sagt etwas ganz begeistert Ja im Inneren, etwas freut sich, endlich bedingungslos angenommen zu werden. Und die Meisterin erklärt weiter, dass Therapie völlig nutzlos ist, sie habe ihre Weisheit durch keine Therapie erlernt, sondern dadurch, dass sie sich der Weisheit gegenüber geöffnet hat. Und alles, was jemand machen muss, ist, in ihrer Gegenwart zu sein, so viel wie möglich, dann wird sich auch die Tür zur Weisheit eines Tages ganz von selber öffnen.

Was für eine Erleichterung: Ich muss keine Therapie mehr machen. Ich muss mich nicht mühsam meinen Ängsten stellen und Schicht um Schicht von meinen Traumatisierungen lösen. Ich brauche nur mein ganzes Leben an dem Meister ausrichten, möglichst viel Zeit mit ihm verbringen und dazwischen seinen Übungen und Anweisungen folgen und mit seinem Bild meditieren, dann werde ich eines Tages so sein wie er, dann ist endlich Friede und unermessliches Glück.

Das ist allerdings eine Illusion, denn Themen, die in die Tiefen unserer Seele versenkt sind und dennoch unser Lebensgefühl, unsere Kommunikationsfähigkeit und unser Selbstverhältnis einschränken, lassen sich nur mittels therapeutischer Erforschung lösen. Wir können alle möglichen Glückserfahrungen und Befreiungserlebnisse sammeln; diese werden solange oberflächlich bleiben, solange wir nicht die tiefen Fundamente unserer Persönlichkeit und Lebensgeschichte gereinigt haben. Diese Arbeit erfordert Einsatz, Mühe und die Konfrontation mit unangenehmen Gefühlen. Meditationen und Stilleerfahrungen können dabei helfen, können aber diese Arbeit nicht ersetzen. Und jeder Lehrer, der das behauptet, handelt unverantwortlich, weil er seine Schüler an der effektiven Befreiung von ihrem Leiden hindert und sie an sich und seinen Weg bindet, der die Schüler auf einer oberflächlichen Befreiungserfahrung festhält und das Wachstum, das in die Tiefe der eigenen Lebensgeschichte zurückführt, nicht fördert, sondern im Gegenteil für unnötig erklärt.

Damit ist nicht gemeint, dass spirituelle Lehrer und Lehrerin vorsätzlich Menschen in die Irre führen. Im Gegenteil glaube ich, dass sie alle, soweit ich sie kennen gelernt habe, von den besten Motiven beseelt sind, dass sie Menschen auf ihrem Weg weiterhelfen wollen. Aber klar wurde mir auch, dass sie eine spezielle Art des Schattens kultivieren, der sie in ihren eigenen Absichten behindert und einschränkt. Und dass das soziale Umfeld, das in solchen Kreisen entsteht, zusätzlich zur Stabilisierung dieses Schattens beiträgt. Das schmälert nicht den Wert dessen, was spirituelle Meister weitergeben, zeigt aber auch die großen und unverzichtbaren Vorzüge der Therapie.


Vgl.: Gute LehrerInnen,
Benennungen auf dem Weg

Österreich hat eine neue (?) Regierung

Die neue österreichische Bundesregierung wurde vor einer Woche angelobt. Sie hat wenig Begeisterung geerntet und musste unter verschiedenen Protesten ihre Arbeit aufnehmen.

Wenn Regierungen ein Ausdruck ihrer Bevölkerung sind, die sie in die Ämter gewählt hat, was sagt das dann über die Österreicher und Österreicherinnen? Manche halten der neuen Regierung zugute, dass sie nicht wesentlich anders ist als die alte. Kontinuität möge sich bewähren in krisengeschüttelten Zeiten. Andere kritisieren gerade dieses. Allem Anschein nach setzen nicht nur die Personen, sondern auch die Programme der neuen Regierung gemächlich und bieder fort, was bisher schon im Gange war. Alle Kommentatoren sind sich einig, dass große Reformschritte und neue bahnbrechende Ideen fehlen.

Das entspricht einer Schiene, die wir alle im Gehirn haben: Was sich bewährt hat, verfolgen wir weiter – bis wir Schiffbruch erleiden, und oft noch darüber hinaus. Es entspringt einem Bedürfnis nach Sicherheit, nach Kontrolle der Zukunft. Wenn die Schritte bescheiden und immer in die gleiche Richtung erfolgen, kann nicht viel passieren, nicht viel Gefährliches und nicht viel Neues.

Es gibt auch eine andere Schiene, die statt der kleinen Schritte Sprünge macht. Sprünge führen auf ein neues Territorium, sie bringen uns schneller an Orte, die wir noch nicht kennen. Das Risiko ist größer, und die Chancen auch. Diese Schiene ist offenbar bei uns schwächer ausgeprägt als die andere, bei den Staatsbürgern als auch bei den Regierungsverantwortlichen.

Viele meinen wohl, dass im Zuge der großen Zockerkrise der letzten Jahre keine Abenteuer eingegangen werden sollten – warum aber nicht? Viele meinen wohl, dass Österreich gut dasteht, mit dem zweithöchsten Prokopfeinkommen in der EU und einer der niedrigsten Arbeitslosenraten und dass deshalb so weiter gewirtschaftet und gewurstelt werden sollte wie bisher – warum nicht anders? Freilich, woher sollte dieser Mut kommen, wenn bei jedem Wort, das ein Politiker spricht, bei jeder Entscheidung, die dann getroffen wird, starr auf die Wähler bei der nächsten Wahl und auf die Interessensgruppen der eigenen Partei gestarrt wird? Wird eine unkonventionelle oder sogar unpopuläre Entscheidung getroffen, sind Verluste zu befürchten: Verluste an Sympathien und Wählerstimmen. Wer will das schon, vor allem hierzulande?

So bleibt alles beim Alten, niemand ist glücklich (bei einer aktuellen Befragung wollen 78% neue Schwerpunkte) und niemand muss sich allzu sehr fürchten. Für jede Angst gibt es ein Beruhigungspflaster – die einen schützen die Pensionisten, die anderen die Millionäre und Milliardäre. Die einen verteidigen die Positionen der Lehrer und der Bauern, die anderen jene des Sozialsystems. So soll die Republik im gleichen Gleichgewicht gehalten werden, das es jetzt schon gibt.

Wir leben in einer Zeit der schnellen Veränderungen, die wir am deutlichsten im Bereich der Technologie bemerken. Alle anderen Bereiche sind im Bann der gleichen Veränderungsgeschwindigkeit, auch wenn sie da und dort unterschiedlich abläuft. Doch scheint sich das noch nicht auf die Art und Weise, wie dieses Land gelenkt und geleitet wird, herumgesprochen zu haben. Auch deshalb ist es für viele unverständlich, dass gerade das Wissenschaftsministerium abgesägt und dem Wirtschaftsminister zugeschlagen wurde, wo besonders in den Wissenschaften der Fortschritt am signifikantesten gefördert wird (neben der Kunst und Kultur, aber die ist ja nur ein Nischenbereich der Politik und notorisch in ihrer Bedeutung für die Gesellschaftsentwicklung unterschätzt).

Auch die Wirtschaft ist ein Bereich schnell wechselnder Neuentwicklungen und Trends. Doch sind diese im Wesentlichen unabhängig von der Politik, die sich vor allem um die Folgewirkung von Entwicklungen in der Wirtschaft kümmern muss, die gegen die Interessen der meisten Menschen gehen. So schurlt die Politik hinter der Wirtschaft her, die in ihrer Eigendynamik ein Desaster nach dem anderen produziert, und kaum haben sich alle vom Schock erholt und fangen an, die riesigen Finanzlöcher zu stopfen, die sich aufgetan haben, kommt schon die nächste Katastrophe. Was ist von einem solchen Wirtschaftssystem zu lernen, außer, dass es so nicht geht? Dennoch erhoffen sich die Parteien, die ja alle die Arbeitsplätze sichern und mehren wollen, von dieser Wirtschaft die Erlösung.

Was wäre zu tun und wird wieder einmal nicht getan? Die Reform des Bildungssystems, das in seinen Grundstrukturen noch fest im 19. Jahrhundert verankert ist, wird weit ins 21. Jahrhundert vertagt. Das Pensionssystem bleibt auf ein paar Jahre hinaus gesichert, also bis zur nächsten Wahl, dann tun sich, wenn man den Experten glauben darf, die großen und rapide wachsenden Fehlbestände auf. Das Steuersystem, das fleißig auf die Einkommen der Mittelschicht zugreift, die Spitzenverdiener weiterhin hätschelt und die Vermögenden neidlos ignoriert, wird solange Geld in die Staatskassen spülen, solange es diese Mittelschicht noch gibt. Da es an deren Ausdünnung arbeitet, arbeitet es auch an der Verwirklichung eines Szenario, das für manche Sozialtheoretiker schon am Horizont auftaucht: Der Zerfall der Gesellschaft in eine immer dünner werdenden Schicht von Superreichen, die die Vermögenswerte und die politischen Entscheidungen kontrollieren, und der großen Masse der immer weiter abrutschenden Unterschichten.

Währenddessen und im Zuge dessen geht der Raubbau weiter, der Raubbau an den Ressourcen der Umwelt und der Menschen. Die Ausbeutung der Menschen durch die Menschen wurde ergänzt durch die Ausbeutung der Natur durch die Menschen und durch die Ausbeutung der Menschen durch sie selbst. Das Gegensteuern, das die Änderung von mächtigen Gewohnheiten und fest zementierten gesellschaftlichen Strukturen erfordern würde, bräuchte Energien und Mittel, die im Sinn des Weitertuns des bisher Üblichen restlos verbraucht werden.

Aufgewendet werden diese Energien und Mittel auch für die Absicherung des Bestehenden in der Abschottung gegen außen. Mit den Befestigungswerken, mit denen wir unsere Staaten wie riesige mittelalterliche Burgen umgeben, werden die Ausbeutungsstrukturen aufrecht gehalten, und die Impulse, die aus der Begegnung mit dem Fremden und Andersartigen entstehen, bleiben ungenutzt. Integriert wird nur, was schon integriert ist.

Was also in der politischen und öffentlichen Landschaft der Republik fehlt und was nicht einmal in Ansätzen sichtbar ist, ist die kreative Fantasie, die Bereitschaft zum Aufbruch, die Leidenschaft für Erneuerung und die bewusste Begegnung mit den kollektiven Ängsten, die all das behindern. So können wir nur selber daran arbeiten, unsere Leben mit diesen Energien zu beleben und wachsen zu lassen, und dieses Wachstum an der Bewusstheit, das immer auch ein Wachstum an Kreativität beinhaltet, wird immer größere Kreise ziehen, bis es Einzug hält in die Entscheidungszirkel und Machtgremien. Dann werden, wie es schon Platon gefordert hat, die Philosophen zu den Staatslenkern und die Staatslenker zu Philosophen, die mit emotionaler und intellektueller Redlichkeit und Integrität ihren Dienst an der Allgemeinheit verrichten.

Mit Nelson Mandela wurde dieser Tage einer betrauert, der uns gezeigt hat, dass wir dieses Potenzial alle in uns tragen. Lassen wir also immer mehr von unserem inneren Nelson-Mandela-Potenzial zur Wirkung kommen!

Donnerstag, 19. Dezember 2013

Außerkörperliche Erfahrungen und die Leib-Seele-Dualität



Außerkörperliche Erfahrungen (OBE = Out of Body Experience) sind oftmals dokumentiert. Viele Menschen, die die Erfahrung gemacht haben, aus ihrem Körper herauszutreten und z.B. oberhalb schwebend ihren am Boden liegenden Körper zu betrachten, haben von einem ganz besonderen und herausragenden Gefühl berichtet, als etwas, das sie ihr ganzes Leben nicht mehr vergessen würden.

Aus: Metzinger S. 124
Solche Zustände treten nach Unfällen, epileptischen Anfällen, Operationen oder auch beim Aufwachen in der Nacht oder bei Tagträumen auf. Aber auch Drogen oder Meditationen können zu außerkörperlichen Zuständen führen. Manchmal kommen uns außerkörperliche Erfahrungen beim Einschlafen unter. Untersuchungen haben ergeben, dass zehn Prozent der Menschen (und 25 % der Studenten; bei Cannabiskonsumenten bis zu 50%) im Lauf ihres Lebens solche Erfahrungen machen. 42% der Schizophrenen kennen solche Erfahrungen. Allerdings kommen auch viele OB-Zustände bei gesunden Personen in Alltagssituationen vor.

In Wikipedia ist zu lesen, dass in den meisten von 50 untersuchten Kulturkreisen „die Vorstellung existiert, der Geist oder die Seele könne den Körper verlassen. Auch die Struktur von außerkörperlichen Erfahrungen ähnelt sich weltweit. Allerdings ist die Interpretation dieser Erfahrungen wesentlich vom jeweiligen religiösen Umfeld abhängig.“     

Jeder Mensch kann aber auch ganz einfach die Möglichkeit von außerkörperlichen Erfahrungen nachempfinden. Wir brauchen nur an ein vergangenes Erlebnis denken, z.B. wie wir irgendwann einmal eine Wanderung unternommen haben. In den meisten Fällen wird die Erinnerung so auftreten, dass wir uns von außen, meist leicht von oberhalb wahrnehmen, wie wir da irgendwo dahinspazieren. Wir befinden uns also an einem außerhalb des Körpers gelegenem Beobachtungspunkt und betrachten von dort aus unseren Körper in Bewegung.

Zum Unterschied von einer echten außerkörperlichen Erfahrung haben wir dabei allerdings bei solchen Alltagsszenen das deutliche Bewusstsein, dass es sich um eine Erinnerung handelt und dass wir im gegenwärtigen Moment ganz im Körper sind. Bei echten OB-Erfahrungen ist der Realitätscharakter sehr stark, es besteht also der ganz klare Eindruck, dass es sich nicht um eine Vorstellung oder Erinnerung handelt, sondern um eine reale Erfahrung in der Gegenwart.

Außerkörperliche Erfahrungen und die Seele


Vielen gelten solche Erfahrungen als Beweis für den Dualismus zwischen Leib und Seele. Offensichtlich ist es so, dass Menschen über die Möglichkeit verfügen, dass ihre Seele den Körper verlässt und ihn von außen betrachtet. Also muss diese Seele über eine eigenständige Existenzform verfügen, die ihr ein vom Körper unabhängiges Dasein gestattet. Damit wäre klar, dass sie nach dem körperlichen Tod weiter existieren kann, bzw. vor der Empfängnis an einem anderen Ort gewesen sein kann, von wo aus sie dann z.B. in die befruchtete Eizelle „schlüpft“.

Die menschliche Existenz zwischen Empfängnis und Geburt wäre dann eine duale: Zwei Wesenheiten finden zu einer zusammen, die eine „geistig“ und die andere „materiell“, wobei die geistige von längerer oder ewiger Zeitdauer und die materielle eben auf die Lebenszeit begrenzt wäre. Solche Vorstellungen einer unsterblichen Seele sind auch in den meisten Religionen sowie in esoterischen Kreisen in der einen oder anderen Form maßgeblich.

Wissenschaftliche Forschungen


Inzwischen gibt es umfangreiche Forschungen zum Phänomen der außerkörperlichen Erfahrungen. Eine der für den Zusammenhang mit dem Leib-Seele-Dualismus wichtigsten Erkenntnis hat sich zufällig ergeben: Bei der Suche nach dem Herd von epileptischen Störungen wurden bei einem Patienten durch die Reizung einer bestimmten Gehirnregion außerkörperliche Erfahrungen ausgelöst.

Es konnten in der Folge bestimmte Gehirnareale lokalisiert werden, die für die Auslösung dieser Zustände maßgeblich sind. Eine jüngere Hypothese aus der Forschung geht dahin, dass zwei Störungen zusammenkommen müssen, um einen außerkörperlichen Erfahrungszustand zu erzeugen: Zwei verschiedene pathologische Bedingungen müssen zusammenkommen, damit ein OBE ausgelöst wird: „Zum einen eine Desintegration auf der Ebene des Selbstmodells, die dadurch entsteht, dass Informationen über den eigenen Körper, die aus dem Tast- und Gesichtssinn sowie aus der propriozeptiven Eigenwahrnehmung stammen, nicht mehr zu einer Ganzheit verbunden werden können. Zum anderen ein Konflikt zwischen dem äußeren, visuellen Raum und dem inneren Bezugsrahmen, der durch vestibuläre Information erzeugt wird.“ (Metzinger, Ego-Tunnel 143) (vestibulär = den Gleichgewichtssinn betreffend)

Die besonderen Glücksgefühle, die bei OBEs auftreten können, werden von der Wissenschaft mit der Ausschüttung von Endorphinen und anderen Botenstoffen erklärt, die in extremen Stresssituationen z.B. bei Unfällen oder Operationen vorkommen.

Wenn wir diese wissenschaftlichen Befunde ernst nehmen, folgt daraus, dass es bei außerkörperlichen Erfahrungen nicht um eine Spaltung zwischen Geist und Körper geht, sondern dass ein Koordinationsproblem innerhalb des Gehirns vorliegt. Solche Erfahrungen sind also (wie alle unsere Erfahrungen) Produktionen des Nervensystems. Das Gehirn ist in der Lage, in sich selbst die Spaltung herbeizuführen, die zu einer Doppelung im Bewusstsein führt - das Ich-Bewusstsein bewegt sich mit dem außerkörperlichen Körper aus dem Körper heraus, während der ursprüngliche Körper als Objekt wahrgenommen wird. Es handelt sich also um eine seltsame und selten auftauchende Erfahrung innerhalb des Gehirns, das in solchen Fällen die als total real erfahrene Illusion erzeugt, als wäre der Körper und damit auch das Bewusstsein außerhalb seiner selbst.

Die Nähe und Verwandtschaft mit traumabedingten dissoziativen Zuständen wurde ebenso dokumentiert. Auch wenn es Unterschiede zwischen verschiedenen Formen der Dissoziation gibt, scheint es doch möglich, dass das Gehirn einen Vorgang bereithält, der in Situationen extremer Bedrohung einen außerkörperlichen Zustand erzeugen kann.

Vermutlich liegt der evolutionäre Sinn solcher Zustände darin, das Bewusstsein von überwältigenden Schmerzerfahrungen abzutrennen und damit zum Überleben unter lebensbedrohlichen Umständen beizutragen. Möglicherweise werden während dieser Abspaltung Ressourcen mobilisiert, die dazu beitragen, dass die Erfahrung anschließend besser bewältigt werden kann. Wenn nun OBEs in Situationen ohne offensichtliche Bedrohung auftreten, kann das entweder ein Wiederbeleben einer früheren traumatischen Situation sein, oder die Reaktion wird durch eine andere Umstände, wie z.B. bei der Epilepsie durch Änderungen im Hirnstrombild, ausgelöst.


Die Tatsache, dass außerkörperliche Erfahrungen in Wirklichkeit Erfahrungen innerhalb des Körpers, also innerhalb des Gehirns sind, das in der Lage ist, eine sehr überzeugende Illusion herzustellen, entzieht den Schlussfolgerungen der Leib-Seele-Dualisten den Boden unter ihren Argumenten.

Umgekehrt ist die Vermutung naheliegend, dass solche Erfahrungen, über die Menschen immer wieder im Lauf der Geschichte berichtet haben, schon in frühester Zeit dazu geführt haben, dass der Glaube an eine vom Körper unabhängige Seele überhaupt entstanden ist und sich bis heute gehalten hat. Da Menschen erlebt haben, dass sie sich mit ihrer „Seele“ aus ihrem Körper herausbewegen können, und überzeugend davon berichtet haben, wurde dieser „Seele“ eine Art dinglicher Existenz unabhängig vom Körper zugesprochen. Nun jedoch, mit dem Vorliegen wissenschaftlicher Befunde, die uns klar vor Augen führen, dass unser Gehirn selber in der Lage ist, solche Vorstellungen mit ihrer ganzen Überzeugungskraft hervorzubringen, müssen wir diese Form des Glaubens aufgeben, wie jene an die so augenfällige „Tatsache“, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Wieder müssen wir ein Stück Entzauberung der Welt hinnehmen.

Was wir mit dem Begriff der „Seele“ machen, steht auf einem anderen Blatt. Wir werden ihn weiter verwenden, weil er uns hilft, vieles verständlich zu machen, was in uns und in anderen abläuft. Außerdem hat er so vielfältige Bedeutungen, dass wir schwerlich auf ihn verzichten können. Stattdessen von  neuronaler Selbstorganisation oder innerem Informationsfluss zu reden, mag für wissenschaftlich denkende Menschen befriedigend sein. Lyrischer angehauchte Gemüter werden sich aller wissenschaftlicher Terminologie zum Trotz immer wieder auf die Schwingungen ihrer „Seele“ und ihres „Gemüts“ einlassen.

Die Verfechter des Leib-Seele-Dualismus müssen sich wohl andere Gründe einfallen lassen, um ihre These zu stützen. Auf phänomenologische Erfahrungen können sie dabei leider nicht mehr zurückgreifen, denn diese sind immer „innerhalb“, also Teile des von unserem Gehirn beständig erzeugten Selbstmodells. Es läuft also immer ein materieller Vorgang ab (Nervenzellen, die aktiv sind), wenn eine solche geistigen Erfahrung gemacht wird, gleich, was ihr erlebter Inhalt ist. Wenn wir also noch so fest davon überzeugt sind, in einer anderen Galaxie unterwegs zu sein, turnen wir in Wirklichkeit nur in einer Ecke unseres Innenbewusstseins herum, das von einer riesigen Menge von feuernden Neuronen hergestellt wird.

Wir können uns weiterhin auch an den Wundern dieser Welt der Selbstmodelle freuen, selbst wenn der Begriff der „Seele“ seine Unschuld verloren hat. Sollte uns der Verlust der Sicherheit, die wir durch den „Besitz“ einer unsterblichen Seele hatten, zu mehr Bescheidenheit und zu mehr Wissen des Nichtwissens verleiten, sollte das nicht unbedingt zu unserem Schaden sein. Was wir wissen können, macht uns reicher und bringt uns in mehr Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, was wir nicht wissen, wird uns immer neugierig machen; was wir nicht wissen können, hilft uns, die Begrenztheit unserer Erkenntnisfähigkeit zu akzeptieren. Bloße Meinungen, Phantasien und Glaubensinhalte, die wir mit Wissen verwechseln, entfernen uns von der Wirklichkeit und von uns selbst.

Literatur:
Thomas Metzinger, Der Ego Tunnel. Berlin: Bloomsbury 2009‎

Samstag, 7. Dezember 2013

Die Arbeit im Modell der Bewusstseinsevolution

Die Menschen sind die einzigen Lebewesen auf dem Planeten, die arbeiten. Was "Arbeit" ist und bedeutet, liegt nicht von Anfang der Menschheit fest, oder in einem "Wesen" der Arbeit begründet, sondern kann als eine Funktion der jeweiligen Bewusstseinsstufe verstanden werden. Was also die Menschen unter Arbeit unter den jeweiligen inneren und äußeren Umständen verstehen, unterscheidet sich deutlich und wirkt auf die Lebensqualität und Lebenseinstellung der Menschen zurück.

Tribale Stufe


Die Menschen, die auf dieser Bewusstseinsstufe leben, brauchen keinen Begriff der Arbeit, der sie von anderen Tätigkeiten unterscheidet. Alle Aktivitäten spielen eine prinzipiell gleichartige Rolle im umgrenzten Sinnzusammenhang des Stammes. Die Überschaubarkeit in der kleinen Gruppe beinhaltet eine beständige und selbstverständliche soziale Kontrolle. 


Wer was macht oder nicht macht, wird von allen bemerkt und anerkannt. So können auch kleinere Abweichung von den Normen, die im Stamm gelten, unmittelbar korrigiert werden.
Jede Person leistet den Beitrag zum Ganzen des Stammes, wie er von einer tradierten Rollenverteilung definiert wird. Ab einem bestimmten Alter gehen die jungen Männer auf die Jagd, ab einem bestimmten Alter fertigen die jungen Frauen bestimmte Gebrauchsgegenstände. Es gibt keine Möglichkeit, sich von diesen Aufgaben abzumelden oder sich ihnen zu entziehen.
 

Die über Generationen überlieferten Regeln sorgen dafür, dass ein ausgewogenes Verhältnis von Rechten und Pflichten besteht, in dem sie alle Mitglieder des Stammes wohlfühlen können. Es wird auf individuelle Unterschiede ebenso eingegangen wie auf

Emanzipatorische Stufe


Mit der Einführung neuer Lebensweisen durch die jungsteinzeitliche Revolution kommt es zu einem grundlegenden Wandel im Auseinanderbrechen der Stammeskulturen. Die soziale Differenzierung in Stände wird eingeführt. Je nach Stand werden unterschiedliche Normen in der Arbeitsleistung eingeführt, die auch mit unterschiedlichem sozialem Prestige verknüpft werden. Die obersten Stände werden von manueller Arbeit freigestellt. Damit erhält die Handarbeit zum Unterschied von der Kopfarbeit ein vermindertes Sozialprestige. Zugleich erhöht sich das Ausmaß an Leistung, das erbracht werden muss, denn die manuellen Arbeiter müssen nicht nur sich selbst, sondern auch die anderen, die selber keine Handarbeit leisten, versorgen.

In diesem Zusammenhang entsteht die Assoziation von Arbeit und Mühsal: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen, heißt der biblische Fluch. Unter Arbeit werden Tätigkeiten verstanden, die geschehen müssen, die also einem Zwang unterliegen. Dieser Zwang gilt unabhängig von persönlichen Befindlichkeiten, ein jeder muss zu jeder Zeit die geforderte Leistung erbringen. Tut er es nicht, gibt es harte Bestrafungen, die ihn letztlich dazu zwingen.

Die Unterschiede der Stände sind auch durch den Zugang zu arbeitsfreier Zeit gekennzeichnet, der von oben nach unten drastisch abnimmt. Freizeit ist ein Privileg der obersten sozialen Schichten, von allen anderen wird erwartet, dass sie ihre Lebenszeit zum größten Teil der Arbeit widmen.

Im Zusammenhang mit dem Entstehen von Kriegen, also gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Großgruppen von spezialisierten Kämpfern, wird das System der Sklaverei eingeführt. Menschen aus einer besiegten Gegengruppe werden zur Arbeit für die eigenen Zwecke unter Aberkennung ihrer persönlichen Rechte gezwungen. Damit wird es möglich, Menschen als Sachen zu definieren und zu behandeln. In diesem Zusammenhang wir die Arbeit ein dinglicher Begriff, ähnlich wie ihn später die Physik definiert, und die Menschen werden zu Arbeitskräften.

Hierarchische Stufe


Die soziale Differenzierung geht weiter, die soziale Stellung definiert die Arbeit und umgekehrt. Wer am meisten zu arbeiten hat, kommt auch im sozialen Prestige am schlechtesten weg. Je härter die Arbeit, desto größer die Verachtung.

Zwischen den Stufen der Hierarchie gibt es wenig bis gar keine Bewegungsmöglichkeiten. Die Geburt legt den Rahmen für das künftige Lebensschicksal fest, bestimmt das Ausmaß und die Art der Arbeit, die zu erbringen ist, und begrenzt damit die Chancen auf Erfolg und Glück. Der Grad an Zwang, dem eine Person ausgesetzt ist, wird durch die Position in der Hierarchie festgelegt.

Der Großteil der Menschen arbeitet für den Wohlstand einer dünnen Schicht anderer Menschen, ohne selber mehr zu bekommen als das Fristen des Überlebens und ohne Aussicht auf Besserung. (Das ist bis heute außerhalb der Luxusinseln des Reichtums so: Die Näherin in einer Bruchbude in Bangla Desh, die unsere billigen T-Shirts näht, wird für den Rest ihres Lebens nichts anderes mehr machen und froh sein, dass sie wenigstens auf diese Weise ihr Überleben sichern kann).

Die Arbeitshaltung wird verinnerlicht: Es ist die Pflicht eines jeden Menschen, zu arbeiten, wer sie nicht erfüllt oder erfüllen kann, muss sich schämen. Die Arbeitsscheu gilt als moralischer Makel. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Und wer nicht arbeitet, soll sich zusätzlich selber dafür geißeln.

Die freie Verfügung über freie Zeit bleibt eine der Privilegien des Adelsstandes und wird oft in geradezu frivoler Weise zur Schau gestellt. Die Lustgärten der Barockschlösser zeugen noch heute davon. Der Snobismus, wie er insbesondere in der Oberschicht der englischen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts zelebriert wurde, kann als besonders skurrile späte Blüte dieser Einstellung gesehen werden, wo es z.B. als nobel gegolten hatte, sich mit Aktivitäten die Zeit zu vertreiben, die möglichst unproduktiv waren. Die Haute Couture produziert aufwändigste Kleider zum Einmal-Getragenwerden.

Materialistische Stufe


Mit der Erfindung der Maschinen und der Betriebsorganisation im Zug des Kapitalismus wird die Verbindung der Stellung in der Hierarchie mit der Arbeitsleistung aufgelöst. Tendenziell entsteht eine einheitliche Klasse von Arbeitern, die die gleiche, vor allem in Zeit gemessene Leistung erbringen sollen. Die Arbeitskräfte werden austauschbar.

Die verinnerlichte Arbeitshaltung, also die Selbstverständlichkeit der Arbeit unter Zwang und Mühe, wird nun zusätzlich vom Rhythmus der Maschinen bestimmt. Deren Unermüdlichkeit gilt nun als Vorbild für die Arbeitskräfte. Sie müssen schauen, es ihnen gleich zu machen, sonst werden sie von ihnen überrollt. Die Ausbeutung durch die Produktionszwänge geht einher mit einer Perfektionierung der Selbstausbeutung. Die Menschen benutzen ihre Körper wie eine Maschine. Es entsteht die Spaltung und Entfremdung zwischen Körper und Geist.

Die Freizeit, die als Ausgleich gewährt wird, steht unter der Notwendigkeit zur Reproduktion der eigenen Arbeitskraft. Eine arbeitsfreie Zeit muss eingeführt werden, weil die Optimierung der Ausbeutung in der Arbeit (an deren Vervollkommnung bis heute fleißig gearbeitet wird) danach strebt, die Energiereserven der arbeitenden Menschen maximal zu konsumieren. Die Menschen sollen in der Arbeit alles hergeben, was sie haben. Sie werden dafür entlohnt und dürfen sich in der Freizeit wieder erholen, indem sie die Produkte konsumieren, die unter den Rahmenbedingungen der entfesselten Wirtschaft immer billiger hergestellt werden.

Die personalistische Stufe


Was in der hierarchischen Stufe noch das Vorrecht einer dünnen Oberschicht war, nämlich die freie Verfügung über freie Zeit, wird in der Zeit des Personalismus zur Forderung für alle. Die Arbeit wird zum Beruf, und es entsteht der Ruf nach der Berufung. Das Arbeiten soll nicht mehr nur dem Überlebenszwang dienen, sondern einen inneren Sinn bekommen. Sie soll die Gaben der eigenen Individualität zum Ausdruck bringen und damit zur Bereicherung des Lebens beitragen. Der Anspruch auf Selbstverwirklichung gilt auch für den Bereich der Arbeit: Im Produkt der Arbeit soll sich ein Aspekt des Selbst darstellen. Die Entfremdung, die in der industriellen Produktion zwischen dem Arbeiter und der hergestellten Sache entsteht, wird kritisiert. An die Stelle der Mechanik sollen Kreativität und Freude am Arbeiten treten. Es kommt zu einer Weideraufwertung der Handarbeit, wenn auch häufig in einem romantischen Kontext. Die Schaffenskraft wird in vielen Bereichen mit der Ästhetik verbunden.

Die Bedürfnisse des Körpers gewinnen an Bedeutung und sollen mit den Arbeitserfordernissen koordiniert werden. Parallel dazu entsteht die Entwicklung, den Körper als eigentlichen Leistungsträger zu formen. Dazu dient der Sport als Freizeitaktivität wie als Beruf.

Die systemische Stufe


Diese Stufe bringt eine Tendenz zur Gleichbewertung von Arbeiten. Soziale Bewertungen und Einstufungen werden abgeschwächt. Von jedem Mitglied der Gesellschaft wird ein Beitrag zu ihr erwartet, wobei zunehmend darauf geachtet wird, dass Menschen ihren Fähigkeiten und Begabungen entsprechende passende Arbeitsbedingungen vorfinden und ausfüllen können. Die Förderung dieser Begabungen beginnt schon früh und zieht sich durch das gesamte Bildungssystem. Damit erhält die Gesellschaft einen konstanten Zufluss an Kreativität.

Neue Formen der Arbeitsorganisation werden entwickelt, um den unterschiedlichen Bedürfnissen einzelner Lebensphasen und Lebensumständen gerechter zu werden. Es gibt im Arbeitsleben flexible Möglichkeiten für Eltern mit Kindern, für jüngere und für ältere Personen, für Kranke und Behinderte.

Die Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie die Unternehmensführungen orientieren die Ziele an verschiedenen übergreifenden Bereichen, z.B. ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, fairer Handel usw. Die Implementierung solcher Orientierungen wird mit wirtschaftlichen Vorteilen belohnt.

Hierarchien werden von Netzwerken abgelöst. Die Flexibilisierung der Arbeitskraft stellt neue Anforderungen an die Menschen.

Die Menschen verinnerlichen zunehmend eine Haltung des Dienens, die die Vorstellung der Arbeit als Zwang oder Mühsal ablöst. Sie sehen in der eigenen Arbeitsleistung einen unverzichtbaren Beitrag zu einem größeren Ganzen. Das eigene Tun wird an seiner Bedeutung für das soziale Umfeld sowie für die Weltgemeinschaft bemessen, von den kleinen Dingen wie der Mülltrennung bis zur Reflexion der ökologischen und sozialethischen Verträglichkeit des Berufs.

Der zentrale Aspekt der Nachhaltigkeit stellt das individuelle und kollektive Arbeiten in den Zusammenhang mit globalem Fortschritt. Neue Formen des Ausgleichs und neue Normen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit werden gesucht und zunehmend institutionalisiert.

Die holistische Stufe


Jede Tätigkeit ist sinnerfüllend, es gibt keine Wertungsunterschiede mehr zwischen blue- oder white-collars, zwischen Hand und Kopfarbeit. In jedem Tun, ob es für jemand anderen wichtig oder unwichtig erscheint, gilt es, Freude und Erfüllung zu finden. Arbeit dient dazu, das Wohlbefinden zu steigern, das eigene und das der anderen. Mühsal gibt es nur für einen Körper, dessen Kraft sich erschöpfen kann und der seine Zeit für die Rekreation braucht, nicht für den Geist, der in jeder Erfahrung etwas findet, was ihn bereichert und erfüllt.

Die Würde des Menschen ist das Zentrum der Wirtschaft. Die Arbeitsverhältnisse werden an diesen Maßstäben gemessen, sodass alle Formen der Ausbeutung abgeschafft werden müssen. Not, Hunger und Armut werden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eingedämmt.

Soweit angstbestimmte Gefühle wie Gier, Neid und Konkurrenz als Triebkräfte der Wirtschaft verschwinden, wird die Verteilungsgerechtigkeit und Fairness, an der alle Menschen „guten Willens“ interessiert sind, einen globalen Ausgleich zwischen arm und reich bewirken. Dann wird es möglich, weltweit vergleichbare Maßstäbe für Leistung und Kompensation einzuführen. Die Leistung der Näherin in Bangla Desh wird also nach den gleichen Normen entlohnt wie die Leistung einer Schneiderin in New York.

Vermutlich werden die Unterschiede im Einkommen nie verschwinden, und das ist auch nicht notwendig. Es werden sich aber die Abstände zwischen den Spitzenverdienern und den Habenichtsen drastisch verringern.

Für ein menschenwürdiges Leben zu sorgen, wird zum Anliegen von allen Menschen. Da das Bewusstsein der Einen Menschheit in jedem Menschen immer tiefer verankert wird, weil die Angstgefühle, die uns davon abhalten, aufgelöst werden, fällt es immer mehr Menschen leichter, aus ihrem Überfluss zu teilen. Schließlich wird diese Haltung des Gebens von dem, was in der Fülle da ist, zur Selbstverständlichkeit.

Donnerstag, 28. November 2013

Die zwei Wahrheiten und die Konfliktkultur

Wenn wir den Unterschied zwischen den relativen Wahrheiten und der absoluten Wahrheit gut verstanden haben, haben wir einen wichtigen Aspekt der Klarheit nicht nur für unseren spirituellen Weg, sondern auch für das Verständnis der menschlichen Gesellschaftsformen gewonnen.

Verwechslungen im Typ der Wahrheit, die immer auch mit Prä-Trans-Verwechslungen im Sinn von Ken Wilber zu tun haben, liegen an der Wurzel vieler Konflikte, innerer Konflikte, zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Konflikte. Ich möchte in diesem Beitrag einige Themen in diesem Zusammenhang aufgreifen und auch darauf eingehen, wie wir mit solchen Konflikten umgehen können.

Menschen unterliegen immer wieder ihrer Tendenz zur narzisstischen Selbsttäuschung. Das wird uns immer dann passieren, wenn wir aus dem Fließen des unmittelbaren Erlebens dessen, was jetzt gerade da ist, aussteigen. Vermutlich geschieht das, weil sich ein verstecktes ungelöstes Thema meldet, das mit Angst besetzt ist. Irgendetwas, das wir denken oder wahrnehmen, erinnert uns an eine frühere Erfahrung, die wir damals nicht integrieren konnten. Die Aufmerksamkeit geht zurück zu dieser Erfahrung bzw. zu den Gefühlen und Gedanken, die damit verbunden waren. Wir sind plötzlich in einem Film aus der Vergangenheit und nicht mehr bei dem, was jetzt gerade geschieht.

Wir merken allerdings nicht, dass wir gar nicht mehr wirklich anwesend, sondern von unserem Kopfkino beherrscht sind. Aus diesem selbstgetäuschten Selbstverständnis heraus nehmen wir leicht die Pose eines Rechthabers ein, der über alles und jedes das richtige Urteil hat. Wir werfen uns in die Haltung eines Verkünders absoluter Wahrheiten und fühlen uns berufen, die anderen darüber zu belehren, was jetzt in Wirklichkeit und eigentlich Sache ist und was genauso klar daneben und falsch ist.

Mit solchen Aktionen, die ja andauernd und fortlaufend im täglichen Leben passieren, stiften wir vor allem eine Verwirrung, in die wir andere verwickeln und uns selber. Deshalb zählt es zu den wichtigsten Lernaufgaben auf dem Weg zur absoluten Wahrheit, ein feines und zuverlässiges Gespür dafür zu entwickeln, wann wir den Bezug zu ihr verloren haben und dabei zu erkennen, welchen typischen Neigungen zur Selbsttäuschung wir bei solchen Gelegenheiten gerne verfallen.

Die Demagogen


In verschiedenen Sektoren der Gesellschaft treten charismatische Personen auf, die Einfluss und Macht gewinnen, auch wenn zugleich deutlich wird, wie stark sie sich dabei selber in Szene setzen und begünstigen. Hier begegnet uns z.B. der Typ des Demagogen. Seine Erfolgsmasche liegt darin, seine eigenen relativen Einsichten als absolute Botschaften zu tarnen und mit der Selbstsicherheit und Überzeugungskraft aufzutreten, die aus einer gekonnten Selbstverleugnung stammt. Da reden Menschen von ihren Berufungen, die Welt zu erretten und das Unheil von den Menschen abzuwenden. Sie benennen mit plumpen Argumenten die Schuldigen und propagieren den Kampf gegen sie.

Warum fallen immer wieder viele Menschen auf ein derartiges Theater herein? Sie erkennen sich darin selbst und bestätigen ihre Selbsttäuschungen. Ähnliche Schicksale verbinden. Wer sich z.B. einmal als kleines Kind gedemütigt gefühlt hat, wird auf einen Redner oder Schreiber hereinfallen, der dieses Thema in einem neuen Zusammenhang anspricht, und wird jeden Ausweg, sprich jede Projektion, die er anbietet, bedingungslos akzeptieren. Wer das Gefühl hat, anderen gegenüber benachteiligt zu sein, wird in Resonanz mit Demagogen gehen, die diese Gefühle kanalisieren und ihnen nachfolgen, weil sie mit dem Pathos einer scheinbar absoluten Wahrheit die scheinbare Wurzel des eigenen Übels formulieren und zugleich das scheinbare Heilmittel anbieten.

Bei den Demagogen selber wird es wohl so laufen, dass sie ihrer eigenen Überzeugungskraft, die aus ihrer besonderen Fähigkeit zur Selbsttäuschung stammt, auf den Leim gehen. Da sie als Narzissten derart begeistert von sich selber sind, verlieren sie jedes Gefühl für wahr und falsch. Sie sind ja in ihr gefälschtes Selbst verliebt. Deshalb sind sie Virtuosen in der Selbsttäuschung, weil sie es schaffen, sich selber doppelt hinters Licht zu führen: Zum einen, indem sie ihre verzerrte Wirklichkeitserfahrung nicht durchschauen, und zum anderen, weil sie sich noch dafür bewundern. Das macht wohl auch ihre Faszination für andere aus, die sich in diesen Formen der Blindheit wiedererkennen.

Mit etwas Distanz mag es skurril wirken, wie sich der dieser Tage von der Macht entfernte Meisterdemagoge Berlusconi mitsamt seinem selbstgerechten und realitätsvergessenden Zorn ins Internet stellt; für seine Anhänger wirkt es wohl so, als wäre hier einem Unschuldigen die größte Ungerechtigkeit widerfahren, die sich Menschen vorstellen können.

Wer nicht bemerkt hat, wie störanfällig jede Aktion und jede Kommunikation auf der Ebene der relativen Wahrheit ist, wie leicht sich also Elemente der Ignoranz, Selbstbezogenheit und Wirklichkeitsverleugnung einschleichen, wird Personen Glauben schenken, die die eigenen frustrierten Hoffnungen und Wünsche ansprechen. Deshalb kann es auch einen armen Schlucker rühren, wenn der angebetete Milliardär (wie in einem Sketch von Otto Waalkes) bitterlichst darüber klagt, dass sein Rasierpinsel ins Klo gefallen ist, worauf ihm der Komiker den Trost spendet, dass manch anderer ja nicht einmal einen Bart habe.

Mit ihrer Selbstfaszination schaffen es die Demagogen jeden Metiers, eine nebelartige Aura der Irreführung und Falschinformation um sie herum zu verbreiten, in der wiederum die Unfähigkeit zur Unterscheidung gedeiht und Wissen durch blinden Glauben ersetzt wird. Dabei gründet sich der Glaube auf nicht mehr als auf die Faszination durch jemanden, der grenzenlos in der Selbstglorifizierung versunken ist.

Wenn nicht mehr unterschieden werden kann, welchen Rang eine Wahrheit hat, dann ist der Willkür Tür und Tor geöffnet. Je mehr relative Wahrheiten als absolute angepriesen werden, desto mehr wird der Zugang zur absoluten Wahrheit verstopft.

Die Pflicht zum Widerstand


Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht, heißt es bei Bert Brecht. Wo eine relative Wahrheit zu einer  absoluten verdreht wird, ist es wichtig, dagegen aufzutreten. Denn die Verallgemeinerung einer solchen Vertauschung ist die Verallgemeinerung einer Vertuschung. Wenn ihr nichts entgegen gehalten wird, wird der Schaden, den sie anrichtet, vermehrt.

Dagegen aufzutreten ist nicht mit den Mitteln der absoluten Wahrheit möglich. Sie gibt zwar die Motivation und die Kraft, denn sie weiß, wie wichtig sie ist und wie wichtig es ist, dass sie nicht missbraucht wird. Aber ihre Stimme wird auf dem Markt der relativen Wahrheit nur wie eine weitere Meinung im Gewirr des Marktgeschreis untergehen.

Wer gegen Egoismen im Kleid von ewigen Weisheiten auftreten will, muss deshalb aus der absoluten Wahrheit heraustreten und in die Arena der relativen Wahrheiten gehen. Er nimmt dafür allerdings die Kraft mit, die aus der Verbindung mit dem Fließen kommt. Der heilige Zorn, mit dem Jesus die Tische der Händler vor dem Tempel umwirft, das ist die Energie, mit der jemand nicht um seiner selbst willen, also aus einem Ego-Motiv heraus, sondern aus einem Gefühl der Verantwortung für etwas Größeres und gegen das Hintertreiben der essentiellen Klarheit auftritt.

Nicht mehr ist bei diesem Auftreten möglich als die verdrehten und überzogenen Ansprüche zu entlarven und bloßzustellen und damit der anmaßenden Verwechslung Einhalt zu gebieten. Es gilt also, die Lüge als Lüge und die Verdrehung als Verdrehung bloßzustellen und die als absolut ausgegebene Botschaft auf ihren relativen Rang zurückzustufen. „Was du hier verkündest, ist deine Meinung und nicht mehr. Was du sagst, gilt vielleicht für dich, aber nicht für mich.“ So können wir eine Grenze ziehen und die Aussage wieder in das Feld ihrer Herkunft, auf das Feld der Relativität zurückholen, wenn sie aus dieser stammt. Wir müssen die andere Person nicht kritisieren und schlechtmachen, es genügt, ihren (Macht-)Anspruch einzudämmen. Wir können dabei nur für uns sprechen, ohne uns auf höhere Einsichten berufen zu können, weil wir in einer Sphäre des Kampfes nur die Waffen der relativen Welt zur Verfügung haben. Die absolute Wahrheit taugt nicht für Konflikte, weil sie außer Streit steht. Streiten erfordert relative Positionen und relative Methoden der Auseinandersetzung.

In der Sphäre der Relativität können wir nicht „rechter“ haben als die anderen. Wir können nur einem Rechthaben, das sich auf eine angemaßte Absolutheit beruft, entgegentreten und es damit relativieren. Wir unterbrechen ein Spiel, das verwirrt und verschleiert, indem wir seine Regeln brechen. Dabei setzen wir der die Wahrheit verdrehenden Definitionsmacht, die sich ungehindert ausbreiten will, eine ebensolche Macht entgegen, nicht, um uns selbst ebenso ausbreiten zu können, sondern um die Ausbreitung der Vernebelungskultur zu verhindern. Eine Farbe, die über alles gegossen werden soll, wird eine Kontrastfarbe hinzugefügt, und damit ist das einheitliche Bild verdorben, wie es sich für eine relative Welt gehört. Die dahinterstehende absolute Wahrheit wirkt allein aus dem Verborgenen.

Wachsamkeit gegen die Gleichgültigkeit


Wer von der absoluten Wahrheit gekostet hat, muss wachsam bleiben: Wachsam auf die eigenen Anmaßungen, den gehobenen Schatz für eigene Zwecke zu missbrauchen, und wachsam auf die Versuche anderer Menschen, Dreck als Gold zu verkaufen.

Und es gilt wachsam zu bleiben gegenüber der eigenen Tendenz, die Gelassenheit und Toleranz mit Gleichgültigkeit in einen Topf wirft. Es darf nicht egal sein, wenn die großen und kleinen Demagogen auftreten, um ihre Schäfchen hinterlistig ins Trockene zu bringen. Es muss Widerstand geleistet werden, damit solche Blockierungen erkannt und gemieden werden können. Wer von sich meint, dass er sich zu gut oder zu erhaben ist für solche Streitigkeiten und deshalb die Konflikte in der Öffentlichkeit und im Privaten meidet, unterliegt der eigenen Überheblichkeit und Feigheit, Haltungen, die nicht besser sind als das, worüber sie sich erheben wollen.

Das Missverständnis liegt darin, dass das Reich der absoluten Wahrheit nicht als Zuflucht dienen kann, in das sich alle, denen es in der Welt zu gewaltsam, gemein oder hässlich zugeht, zurückziehen könnten, um dort das biedere Gärtchen einer wohlgehegten Heiligkeit zu pflegen. Wenn das geschieht, ist längst schon verloren, was gesucht wurde. Eine solche spirituelle Idylle ist nur eine weitere Nische der relativen Welt, versteckt hinter einem kunstvollen Gespinst aus scheinbar absoluten Fäden.

Tatsächlich fallen wir sofort aus dem Reich des Absoluten, wenn wir auf die Widersprüche der Kommunikation und der Gesellschaft stoßen. Und das ist auch gut so, denn dort müssen wir uns immer wieder behaupten, dort müssen wir auftreten und Anmaßungen entgegentreten. Automatisch geraten wir in die Versuchung, unseren eigenen Anmaßungen zu erliegen. Und das ist auch gut so, damit wir immer wieder auf uns selbst zurückgeworfen werden, um immer wieder den Blick auf unsere eigene Bewusstheit zu richten. So können wir in uns wieder den Kontakt zur absoluten Wahrheit herstellen.

Je mehr Ahnung wir von der absoluten Sphäre haben, desto mehr von den Selbst- und Fremdtäuschungen, die wir selbst und die anderen Menschen inszenieren, wird uns bewusst werden und desto mehr können wir aufzeigen und bewusst machen. Damit halten wir das Gewissen wach, das uns immer wieder darauf aufmerksam macht, uns aus dem Leben im Relativen auf das Absolute zurück zu beziehen und damit die Bereiche des Absoluten im Gesamten zu erweitern.

Donnerstag, 21. November 2013

Die zwei Wahrheiten und die Paradoxie


Absolute (transrationale) Wahrheiten sind in mehrfacher Hinsicht paradox. Wer sie ausspricht, ist sich dieser Paradoxie bewusst und kann die Paradoxie aushalten. Diese Fähigkeit erwächst zunächst aus der Rationalität, die sich bis an ihre eigenen Grenzen denken will. Dort löst sich die Eindeutigkeit auf, die zu stiften die Rationalität als ihre eigentliche Aufgabe angesehen hat. Zum Beispiel fand Immanuel Kant in den letzten Bereichen, die der Vernunft zugänglich sind, Antinomien, also Erkenntnisse, die sowohl in der einen Form wie auch in ihrer gegenteiligen Form vernünftig bewiesen werden können. Man könnte auch im Sinn von Hegel sagen, dass sich die Vernunft an ihren Grenzen selbst aufhebt.

Wenn sie zurücktritt und der transrationalen Erkenntnisform Platz macht, wird die Paradoxie zum Kennzeichen der Stimmigkeit. Sie besteht schon einfach darin, dass Unendliches in endlichen Worten, Freiheit in der Begrenztheit ausgesprochen wird. Viele Mystiker, aber auch Philosophen, beklagen die Unmöglichkeit, die zeitlosen Erfahrungen in einer an die Zeit gebundenen Sprache auszudrücken (vgl. Blog zur Sprache der Wahrheit).


Ein weiteres Element der Paradoxie besteht in Folgendem: Viele dieser Erfahrungen führen zu einer Auflösung der Körpererfahrung z.B. in einer grenzenlosen Weite oder in einer vollkommenen inneren Leere, Erfahrungen, die gleichwohl in einem Körper stattfinden. Es wird also beides zugleich erlebt: Ein Körper und ein Nicht-Körper. Deshalb ist es ein Charakteristikum von transrationalen Erfahrungen, dass sie diese Paradoxien beinhalten und ihnen Raum geben, weil das Transrationale das Rationale in sich enthält. Auch wenn das Transrationale als das Größere, Bedeutungsvollere oder Erfüllendere erlebt wird, weiß die erlebende Person um die Existenz der begrenzten Welt, und sie hegt dabei nicht den Wunsch, diese begrenzte Erfahrungswelt los werden zu wollen oder aus ihr entfliehen zu müssen. Im Gegenteil, durch die Besuche in den transrationalen Räumen wird die relative Welt immer wieder neu entdeckt und das Dasein in ihr immer mehr wertgeschätzt und in seiner Schönheit erkannt.

In der transrationalen Sphäre gibt es keine Körperverleugnung, -verachtung oder -kasteiung. Der Körper wird manchmal als „Tempel des Geistes“ bezeichnet oder als Quelle von Lebendigkeit und Freude erfahren. Er gilt als eine Ausdrucksform des Geistes, als Äußeres eines Inneren, das es (vermutlich) ohne das Äußere nicht gibt.


Die Angst vor der Rationalität


Auf der prärationalen Ebene wird dagegen Paradoxie als eine Form der Verwirrung erlebt und vermieden. Sie löst Angst aus. Aus dieser Angst nährt sich die Abwertung jeder Form von Rationalität, wie sie manchmal in der esoterischen Szene auftritt. Entgrenzende Erfahrungen sollten vor mentalen Konzeptualisierungen geschützt werden, und von daher kommt der manchmal geäußerte Imperativ, dass der Verstand oder das Ego zerstört oder zertrümmert werden muss, dass der „Kopf“ zum Schweigen gebracht werden muss usw. Die Aggressivität in dieser Sprache zeugt von einer Angst, die mentalen Fähigkeiten unseres Geistes könnten kaputt machen, was sich als kostbare Erfahrung jenseits des Verstandes gezeigt hat. Für die Vorstellung, dass eine reife Intelligenz in der Lage ist, eine umgreifende spirituelle Erfahrung anzuerkennen und wertzuschätzen, ist kein Platz.

Stattdessen wird dem Wiedererleben von dissoziativen Zuständen Tür und Tor geöffnet, weil es kein rationales Korrektiv gibt. Scheinbar spirituelle Erfahrungen wiederholen die Flucht aus der Wirklichkeit, wie sie einst im Traumamoment vor unerträglichen Schmerzen oder Leiden geschützt hat. Hier ist Heilungsarbeit notwendig, die oft mühsam, langwierig und schmerzhaft sein kann. Aber es führt kein Weg darum herum, alle Abschneider führen immer wieder zurück auf den Ausgangspunkt. Nur auf diesem Weg, der Abspaltung nach Abspaltung zusammenführt, kann die Ganzheit und innere Identität gefunden werden, in der Verbindung von lebendiger Emotionalität und klarer Rationalität.

Von dieser Basis ausgehend, öffnet sich dann wie von selber und in natürlicher Weise die transrationale Welt und die Erkenntnis der absoluten Wahrheiten. Das Leben wird als freier Tanz von Paradoxien erkannt, als ein immer wieder überraschendes Fließen vom Einen ins Andere.

Ein Zustand, wie er z.B. im Zen durch das unablässige Meditieren über „Koans“, also über paradoxe Aussagen erreicht werden soll, ermöglicht die Freiheit. Es ist ein Zustand, in dem die Wahrheit in der unmittelbaren Erfahrung auftaucht, die sich im nächsten Moment schon wieder verändert hat und in dem die Veränderung in ihrer Widersprüchlichkeit genossen werden kann. Das große Spiel des Lebens entfaltet sich in seinem Reichtum an Formen und Gestalten, frei von Erwartungen, Kontrollen und Zwängen. Die Emotionalität und die Rationalität dienen dabei als Spielzeug unter anderen. Das Eintauchen in ihre Relativität geschieht bewusst und die Rückverbindung an das Absolute geht nie wirklich verloren.


Die Aufgabe der Lehrer


Ein guter Lehrer braucht ein sicheres Gespür für Prä- und Transverwechslungen, für den Unterschied von Relativität und Absolutheit. So kann er die Schülerin auf alle die Fallen, die sich auf dem Weg versteckt halten, aufmerksam machen. Je freier er selber ist von den Antrieben der relativen Welt, von den Egomotiven und selbstsüchtigen Interessen, zu desto mehr Freiheit kann er seiner Schülerin verhelfen. Er braucht dafür den absoluten Respekt für die Einzigartigkeit des Weges, auf dem sich die Schülerin befinden, sodass er mit ihr lernt, wie sie sich Schritt für Schritt der Befreiung nähert und lernt, mit der Paradoxie umzugehen.


Vgl. Prä-Trans-Verwechslungen
Vgl. Narzissmus 

Die zwei Wahrheiten: Relatives verkleidet als Absolutes

Die zwei Wahrheiten klar zu unterscheiden, ist wichtig, weil wir daran erkennen können, ob unser Weg weiter in die Tiefe des Seins oder zurück in die Untiefen unserer Lebensgeschichte führt. Diese Unterscheidung ist jedoch deshalb knifflig, weil wir für diese Aufgabe die Fähigkeit brauchen, die vielfältigen Fallen und Tricks der relativen Wahrheit zu erkennen, und weil wir ebenso in der Lage sein müssen, die absolute Wahrheit in ihrer Reinheit und Klarheit zu erkennen. Wir brauchen also die Weltläufigkeit und zugleich den Zugang zur Tiefe der Erkenntnis, um uns im Gelände zwischen Relativität und Absolutheit sicher orientieren zu können.

Mit dieser doppelachsigen Bewusstheit wird es uns möglich, Verwechslungen, die immer auch dem von Ken Wilber beschriebenen Prä-Trans-Fehlschluss verfallen sind, zu durchschauen und zu erkennen, wo sich relatives Wissen als absolutes ausgibt. Solche Verkleidungen geschehen zumeist in guter Absicht und aus mangelnder Selbstreflexion. Sie können aber, wie schon in anderen Beiträgen zu dem Thema dargestellt, Menschen in die Irre führen und damit Schaden anrichten.

Die Flüchtigkeit des Absoluten


Die absolute Wahrheit gibt es nicht in einer fixen Form. Sie ist beweglich wie ein Quecksilberkügelchen. Wer sie fassen will, hält nur einen relativen Abklatsch von ihr in der Hand. Alles, was sich unserem Zugriff entzieht, macht uns misstrauisch und fordert unsere Kontrollzwänge heraus. Wir wollen, was wir schon einmal hatten, sicherstellen, damit wir es immer wieder kriegen können, wann wir es brauchen. Ähnlich wie die reichen Länder der Welt die Rohstoffquellen dieser Erde unter ihre Kontrolle behalten wollen, damit sie ihr verschwenderisches Leben unbehindert weiter führen können, möchten wir auch unsere inneren Schätze in einem imaginären Tresor verwahren, wo sie uns niemand nehmen kann und wir sie zu jeder Zeit für unsere Zwecke nutzen können.

Da eine der zentralen Fähigkeiten, die wir brauchen, um in der Welt des Relativen erfolgreich zu sein, im Täuschen und im Selbsttäuschen besteht, fällt es uns nicht auf, wenn wir eine absolute Wahrheit mit einer relativen vertauschen. Doch woran können wir erkennen, dass wir uns selbst oder andere auf den Holzweg geführt haben?

Jede Wahrheit, die unbeweglich und in einem starren sprachlichen Korsett präsentiert wird, kann nicht absolut sein, so schön sie auch klingen mag. Vielmehr haben wir es mit einem Dogma zu tun. Die Wahrheit ist zu einem Ding geworden, das gegen jedes andere Ding ausgetauscht werden kann. Die Richtigkeit beruht nur auf der Autorität dessen, der sie verkündet hat. Wie die Geschichte zeigt, lassen sich mit Gewalt alle Wahrheiten durchsetzen, außer die absoluten.

Wahrheit und Kritik


Relative Wahrheiten sind grundsätzlich kritikfähig, was ihren Inhalt anbetrifft. Jede relative Einsicht kann ganz einfach auch anders sein. Relativ betrachtet, ist es gleich richtig, ob das Licht eine Wellen- oder eine Teilchennatur hat. Wir brauchen nur den Blickpunkt zu verändern, schon schaut alles anders aus. Jede relative Erkenntnis steht in Konkurrenz zu anderen Ansichten. Sie unterliegt allen Formen der emotionalen und rationalen Kritik. Gerade deshalb gibt es immer wieder die krampfhaften Versuche, relative Wahrheiten unter dem Schleier der Absolutheit vor Kritik zu immunisieren.

Die absolute Wahrheit fürchtet keine Kritik, sie braucht sie aber nicht, weil sie in sich einleuchtend ist. Wird an ihr Kritik geübt, so kommt diese aus einem fehlenden Verständnis von der Tiefe des Gesagten. Wenn jemand sagt: „Alles ist eins“, wird jemand, der ganz dem Relativen verhaftet ist, meinen, dass das nicht einmal auf einen Eintopf zutrifft, solange man Kartoffel und Karotten unterscheiden kann, geschweige denn dass das auf das ganze Universum bezogen werden könnte. Doch verfehlt eine Kritik aus dieser relativen Ecke den Erfahrungskern des Satzes, der eben auf der relativen Erfahrungsebene nicht zu finden ist.

Das ist auch das defensive Standardargument, das jeden gestandenen Skeptiker zur Weißglut treibt, wenn ihm jemand aus der spirituellen oder esoterischen Welt berichtet. Gleich ob prä- oder transrational, also der Prä-Trans-Verwechslungsecke kommt: Mitreden kann nur, wer die entsprechende Erfahrung gemacht hat. Und damit öffnet sich ein Graubereich, der mit dem Reinheitsgebot einer intellektuellen und spirituellen Redlichkeit in Konflikt kommt.

Doch die transrationale Erfahrung – und das unterscheidet sie von der prärational-esoterischen – ist so beschaffen, dass sie dem rational denkenden Menschen zumindest intellektuell verdeutlichen kann, warum bestimmte Einsichten nur auf einer vertieften Erfahrungsebene Sinn machen. Es ist argumentierbar und kann einem verantwortungsbewussten Rationalisten verständlich gemacht werden, wo die Grenze der Rationalität liegt. Soweit reichen eben die Argumente, und das Jenseits der Argumente ist nur dem zugänglich, der bereit ist, seine einschränkenden Denkgewohnheiten zurückzulassen.

Der kommunikative Raum des Absoluten


Absolute Wahrheiten kann man nicht zwischen zwei Buchdeckeln kaufen oder aus einschlägigen Seminaren in der Aktentasche mitnehmen. Sie erscheinen nur unter ganz bestimmten Bedingungen, wie Glühwürmchen zu Sommerbeginn. Es ist eine nicht konventionelle Form der Offenheit bei der Sprecherin und beim Empfänger erforderlich, damit sich eine absolute Wahrheit als solche überhaupt manifestieren kann. Diese Form der Offenheit ist dann möglich, wenn weitgehend alle emotionalen und mentalen Einschränkungen zurückgenommen sind. Sowohl der Sprecher wie die Empfängerin müssen in der Lage sein, ihre konventionellen Sprech- und Wahrnehmungsgewohnheiten abzulegen. Das ist dann möglich, wenn die emotionalen Fixierungen, die die Gewohnheiten an ihrem Platz festhalten, also vor allem die alten Ängste, aufgelöst sind.

Angst- und vorurteilsfrei sowie mit dem gebührenden Respekt müssen wir in den Raum der absoluten Wahrheit eintreten, dann wird sie sich zeigen. Nehme ich nun eine solche Wahrheit, der ich teilhaftig geworden bin, und trage sie in die Welt der Relativität, so werde ich erkennen, dass sie verblasst und ihre Kraft verliert, weil die Menschen, auf die sie trifft, sie nicht empfangen können. Sie wollen nur, dass ihre Vorurteile und Ängste bestätigt werden und bekämpfen alles, was diese in Frage stellt. Der Weise erkennt daran, dass geschwiegen werden muss, wo nicht geredet werden kann.

Die Lehrerin dagegen, die übersehen hat, dass sie das Heiligtum verlassen hat und auf den Marktplatz getreten ist, wird vielleicht Wege der Überzeugung und Überredung suchen, um ihre Wahrheit „an den Mann“ zu bringen. Sie macht dann schnell die Erfahrung, dass manche Leute fasziniert sind, weil sie die Wahrheit hinter der Überzeugung spüren, die ihre Sehnsüchte nach Befreiung anspricht. Deshalb werden sie der Lehrerin folgen und ihre Lehren übernehmen. Solange sie jedoch selber nicht ins Heiligtum eingetreten sind, werden sie nicht verstehen, worum es wirklich geht. Und die Lehrerin kann der Versuchung verfallen, die Schüler statt ins Heiligtum in die Irre zu führen, indem sie sich selbst und ihre Lehren als das Heiligtum darstellt. Damit ist die absolute Wahrheit von beiden Seiten, Sprecherin und Hörer, relativiert und verdinglicht.

Im System der Vorurteile und Ängste wird die absolute Wahrheit ein Spielball von allen möglichen Interessen und Motivationen. Dann können mit ihr Geschäfte gemacht, Abhängigkeiten aufgebaut, Lehrgebäude errichtet werden. Die Sehnsüchte werden mit Fantasien und Illusionen gefüttert, und die Seelen der Suchenden regredieren in einen dumpfen Kindheitsschlummer, den sie für ein tiefes Erwachen halten.

Die absolute Wahrheit zerfällt also sofort, wenn die Bedingungen ihrer Existenz verloren gehen. Sie ist wie eine sensible Pflanze, die nur in einem fein  abgestimmten Ökosystem wachsen und gedeihen kann.

Wahrheit und Aggression


Wahrheiten, die mit Aggressivität und mit der Abwertung von Andersdenkenden vertreten werden, entlarven sich selbst als relative, die sich als absolute verkleidet haben. Relative und absolute Wahrheiten kann man nicht an den Worten unterscheiden, sondern am Kontext, in dem sie ausgesprochen werden. Damit wird auch jede Form der Missionierung obsolet, denn die absolute Wahrheit will nur einleuchten und nicht überzeugen. Sobald sie erkannt, verstanden und inkorporiert worden ist, hat sie ihren Sinn erfüllt.

Die absolute Wahrheit braucht keine Schutzgefühle wie Angst oder Aggression. Sie wirkt oder sie wirkt nicht, je nach Kontext und Empfänger. Sie kann nicht um Verständnis und Akzeptanz kämpfen. Sie weiß, dass ihre Wirkmächtigkeit vom Erfahrungsgrad und emotionalen Zustand des Empfängers abhängt. Denn sie kann nur jemandem einleuchten, der sich ihr frei von Ängsten und Traumatisierungen nähert.

Dienstag, 19. November 2013

Prä- und transrationale Erfahrungen unterscheiden

Nach dem Modell von Ken Wilber gilt alles als prärational, was vor der Entwicklung der rationalen Fähigkeiten, also vor der Ausbildung des Großhirns, vor allem des präfrontalen Kortex geschehen ist sowie auch alle Inhalte des Bewusstseins, die zwar später auftauchen können, aber die Form des Prärationalen haben. Diese Form ist gekennzeichnet durch  eine assoziative, bildhafte und emotionale, in Bezug auf das Gehirn also eine dominant rechtshemisphärische Informationsverarbeitung. Sie kennt weder die verbale Sprache noch die Gesetzmäßigkeiten der Logik.

Die prärationale Phase der frühen Kindheit wird im Lauf des Aufwachsens durch die rationale ergänzt und weitgehend abgelöst, die durch eine Dominanz des logischen und abstrakten Denkens gekennzeichnet ist und das Vorherrschen der linken Gehirnhemisphäre anzeigt.

Dann zeigen sich in der Weiterentwicklung des Bewusstseins die transrationalen Bereiche, die durch Weite, Offenheit, innere Freiheit, vernetztes und systemisches Denken gekennzeichnet sind. Solche Zustände sind frei von Angst und Kontrolle, und sie können nur auftauchen, nicht gemacht werden. Psychodynamisch betrachtet, beruhen sie auf der erfolgreichen Auflösung von Traumatisierungen. Jedes aufgearbeitete und integrierte Trauma bringt einen Zugewinn an innerer Freiheit.

Prärationale Trans-Erfahrungen


Das Modell der Peakstates-Therapie nach Grant McFetridge relativiert dieses einfache Stufenmodell von Ken Wilber mit folgender Grundannahme: Peakstates, also Gipfelzustände, wie sie für die transrationale Erfahrungswelt kennzeichnend sind, sind nicht nur spätere Errungenschaften durch meditativen Übungen usw., sondern sie sind zuallererst der ursprüngliche Zustand des prärationalen Bewusstseins, der allerdings dann fast immer durch Traumatisierungen im Lauf der organischen und psychischen Entwicklung blockiert wird. Also gibt es nach diesem Modell weit zurück im prärationalen Bereich die Erfahrungsformen des Transrationalen, und was wir dann später als transrational erfahren, ist eigentlich „nur“ eine Wiederherstellung ursprünglich zugänglicher Gipfelzustände. Das deckt sich mit der von mir vertretenen Gefühlstheorie: Gipfelzustände sind Erlebensformen des Wachstumszustands und deshalb mit Wachstumsgefühlen (Glück, Lust, Freude etc.) verbunden. Im Schutzzustand, der vor allem durch Angst und andere “negative” Gefühle gekennzeichnet ist, sind sie allerdings blockiert. Traumatisierungen chronifizieren den Schutzzustand und führen dazu, dass wir den Schutzzustand als normal und den Wachstumszustand als Besonderheit oder Absonderheit erleben.

Damit wird das Modell von Wilber als Entwicklungslogik, die strukturelle Abläufe untersucht und die Phänomene nach ihrem Gehalt und ihrer Form einordnet, in seiner zeitlichen Struktur in Frage gestellt. Phänomene, die eigentlich erst nach der rationalen Phase auftauchen können, gibt es im Erleben schon vor ihr, sie werden nur im Wiedererleben nach der Traumalösung in einer mit der Erwachsenenrealität und ihren rationalen Strukturen verträglichen Form neu wahrgenommen. In der Bewusstseinsrekonstruktion können wir erkennen, dass aus dem Wiedererleben und Heilen von Traumatisierungen an Entwicklungspunkten, dass Gipfelzustände und damit transrationale Erfahrungen zum ursprünglichen Repertoire des Bewusstseins gehören. Prärationale Gipfelzustände unterscheiden sich von den transrationalen darin, dass sie ohne Rationalität und verbale Sprache auskommen. Sie benötigen nicht mehr als eine einfache Körperform wie die befruchtete Eizelle, um sich entfalten zu können. Also benötigen sie weder eine fortgeschrittene Zelldifferenzierung noch ausgeprägte Strukturen des Nervensystems, geschweige denn ein voll entwickeltes Großhirn als Grundlage. Deshalb sind prärationale Trans-Zustände in ihrer Struktur ganz einfach und haben keinen Bezug zur Paradoxie, die erst in der Spannung von Rationalität und Transrationalität entsteht.

Prärationale Gipfelerfahrung versus dissoziative Zustände


Allerdings, und da meldet sich wieder die Wilber’sche Prä-Trans-Schere, müssen prärationale Gipfelzustände von prärationalen dissoziativen Zuständen unterschieden werden. Denn gerade traumatische Erfahrungen hinterlassen die starke Neigung zu dissoziativen Abspaltungen. In der Dissoziation können wir Phänomene erleben, die Erfahrungen, wie wir sie aus der transrationalen Bewusstseinswelt kennen, „zum Verwechseln“ ähnlich sind. Ein Beispiel ist die Erfahrung von Leere: Sie kann die Folge einer Erfahrung des Abgeschnittenseins sein, wenn etwa eine werdende Mutter dem fötalen Leben keine Aufmerksamkeit und Zuwendung geben kann. Diese prärationale traumatische Erfahrung wird als Leere aus Mangel erlebt, häufig verbunden mit einem Gefühl der Einengung, mit Angst und Grauen. Die transrationale Leereerfahrung dagegen ist verbunden mit einem Gefühl der inneren Freiheit. Sie ist keine Mangel- oder Verlusterfahrung, sondern  die Befreiung von Ballast, unnützen Gedanken usw.

So ist also tatsächliche die prärationale Landschaft gekennzeichnet von heil gebliebenen Inseln der Freude und Glückseligkeit und von dissoziativen Bruchstücken.

Wenn wir die Phänomene der Dissoziation betrachten: Ihrem Sinn nach dienen sie dazu, das Bewusstsein vom körperlichen Erleben, das im Trauma von massivem Schmerz überwältigt wird, abzutrennen, um in einen Bereich der Schmerzfreiheit und Gelöstheit zu gelangen. Das Bewusstsein trennt sich also vom Körper, um sich zu schützen.

Wenn wir solche Zustände wiedererleben, ist die Erfahrung der Körperlosigkeit, des Aus-dem-Körper-Gehens typisch. Die innere Verbindung zum körperlichen Dasein ist abgeschnitten. Ähnlich wie bei Nahtoderfahrungen kann der eigene Körper nur von außen wahrgenommen werden, es gelingt aber nicht mehr, mit der Aufmerksamkeit in ihm drinnen zu sein.

Deshalb sind solche Erfahrungsräume durch eine scharfe Außengrenze geschützt, und wenn sie überschritten wird, (z.B. durch eine Störung von außen), bricht der Zustand ab und es kommt zu einer tiefgreifenden Irritation und Verwirrung, bis erst nach einiger Zeit wieder der Kontakt zur Realität hergestellt werden kann. Es gibt also keine graduellen Übergänge, kein langsames Auftauchen aus der Erfahrung, sondern das Gefühl, herausgerissen zu werden und darauf mit einem Schock zu reagieren. Äußere Störungen wirken also als Zerstörungen des Bewusstseinszustandes und lösen Angst oder Aggressionen aus.

Typisch für solche dissoziativen Erfahrungen ist demnach das Fehlen von Empfindungen, oft sind auch die Gefühle nur vage, es besteht keine Verbindung zur Sprache. Der Kontakt nach außen, also zur umgebenden Realität oder zu anwesenden Menschen ist kaum oder gar nicht vorhanden. Dazu kann ein Gefühl der Unwirklichkeit kommen, das sich auf das eigene Selbst oder auf die Außenwelt bezieht. Statt dessen tritt das Erleben eines mentalen Zustandes, in dem Bilder und assoziativ ablaufende Filme sowie traumartige Sequenzen vorkommen können.

Da die Sensibilität für die Innen-Außenunterscheidung verlorengeht, verschwimmt das Innere und das Äußere. Deshalb können Innenerfahrungen leicht mit Außenerfahrungen verwechselt werden, was ja auch eine Form der Prä-Trans-Verwechslung darstellt und zu den Vorformen von Psychosen gerechnet werden kann.

Im Modell der Peakstates-Therapie, sind Gipfelzustände, zum Unterschied von Dissoziationen, durch die Buchstaben „CPL-BL“ gekennzeichnet: Calm, Peace, Light, Bright, Large. Gipfelzustände fühlen sich also ruhig und friedlich an, leicht, unbeschwert, sowie hell und weit. Diese Merkmale bezeichnen einen traumafreien Zustand. Solange noch eine Spannung im Körper wahrgenommen wird, handelt es sich nicht um einen transrationaler Zustand. Vielmehr ist es ein Hinweis darauf, dass das Trauma noch nicht gelöst ist.

Wenn uns Prä-Trans-Verwechselungen begegnen


Wie können wir bei anderen Menschen unterscheiden, ob das, was sie uns mitteilen, aus einer dissoziativ-prärationalen oder aus einer transrationalen Quelle stammt? Zu dieser Frage ein paar Beispiele:

Manche Menschen neigen dazu, ihre Lehrer oder Gurus zu idealisieren, und so erzählen sie von ihren Erfahrungen und von dem Wissen, das sie davon mitnehmen, ohne rationale Distanz und Differenzierung. Es wird deutlich, dass sie sich keine eigene Meinung mehr erlauben. Vielmehr neigen sie dazu, sich einem fremden Wissen unterzuordnen, das sie selber nicht prüfen, sondern ihm wie einem Dogma folgen. Damit verzichten sie auf ihre eigene erwachsene Rationalität und erfüllen sich als Ersatz ein narzisstisches kindliches Bedürfnis nach Klarheit und Sicherheit. (vgl. Narzissmus)

Wenn sich Menschen bei der Begründung ihrer Ansichten, Einsichten oder Entscheidungen auf eine Eingebung aus einer höheren Quelle berufen und, so kann es sich zwar um Informationen des inneren Sinnes handeln, der Zugang zum eigenen Unbewussten hat. Wenn sie dabei allerdings die Frage nach rationalen Begründungen aggressiv abwehren, kann das ein Hinweis sein, dass die Einsichten weniger mit einer höheren Realität oder einer tieferen Erkenntnis über die Zusammenhänge der äußeren Realität oder mit verlässlichen Prognosen für die Zukunft zu tun haben, sondern dass es um Verschlüsselungen oder assoziativ symbolisierten Erfahrungen aus unbewältigten Erfahrungen der eigenen Lebensgeschichte geht, die in spirituellem Gewand ihren Ausdruck suchen und mit Hilfe von Aggressionen verteidigt werden müssen.

Die Quellen der menschlichen Fantasie können unbegrenzt sprudeln. Für viele Menschen war von früher Kindheit an die Flucht ins Reich der Fantasie ein Ausweg aus Situationen des Unverstandenseins, der Hilflosigkeit und Verzweiflung. Damit wird die Fantasie zu einer vertrauten Ressource, die jederzeit mobilisiert werden kann, um sich tieferen inneren Konflikten nicht stellen zu müssen. Solche Tendenzen können die Verunsicherungen und Störungen im Realitätsbezug und im Selbstbezug verstärken, was den Hintergrund für die Attraktivität von esoterischen Angeboten der Welterklärung abgeben kann. Modelle, wie sie z.B. in esoterischen Geschichtsdarstellungen oder Zukunftsszenarien angeboten werden, spiegeln diese verschwommene Unterscheidung von Fantasie und Realität wider.

Da solche Modelle in rational strukturierten Kreisen auf Ablehnung und Unverständnis stoßen, bestätigt sich das Gefühl des Unverstandenseins, was wiederum die Fluchttendenz verstärkt und die pseudospirituelle Welterklärung noch vehementer vor rationaler Überprüfung und Infragestellung abschottet.