Montag, 14. November 2022

Die kapitalistische Trauma-Trance

„It's the economy, stupid.“

Warum ist das Wirtschaftswachstum ein derartig wirksames Totschlagargument, wenn es um Maßnahmen für den Klimaschutz geht? 

Eine einfache Erklärung würde besagen: Es gibt die Propaganda, mit der die Lobbyinginteressen von Unternehmen vertreten werden, die ihre Gewinne schwinden sehen, wenn sie ihre Produktion umstellen müssten. Davon müssten wir uns nicht beeindrucken lassen. Es gehört zum Wirtschaftsgeschehen, dass sich die Produktion laufend modernisieren muss, und wenn die Modernisierung jetzt darin besteht, klimafreundlich zu produzieren, dann ist das eben die Aufgabe, der sich das Unternehmen stellen muss.

Was aber häufig geschieht, ist, dass die ökologische Debatte dort aufhört und Klimamaßnahmen abgeschmettert werden, weil ja das Wirtschaftswachstum gefährdet würde, damit Arbeitsplätze wegfallen, die Wirtschaft schrumpft, allen geht es schlechter und schließlich und endlich bricht alles zusammen.

Der Clinton-Slogan: "it's the economy, stupid", könnte so übersetzt werden: Es dreht sich alles um die Wirtschaft, und wenn du das nicht begreifst, bist du ein Dummkopf. Oder: Die Wirtschaft ist der wichtigste Bereich, um den sich alles andere dreht und drehen muss. Oder: Die Wirtschaft betrifft die Menschen am unmittelbarsten und am wirkmächtigsten, alles andere ist dagegen sekundär.

Das Kapitalismus-Trauma

Dass wir solche Slogans verstehen und für plausibel und richtig halten, hängt mit der kollektiven Traumatisierung durch den Kapitalismus zusammen. Die Wirtschaft ist ein Teilbereich in jeder menschlichen Gesellschaft, aber seit der Einführung des kapitalistischen Wirtschaftssystems hat dieser Teilbereich die zentrale Stellung eingenommen. Diese Themenführerschaft hat sich tief in unser Bewusstsein eingegraben. Sie ist in alle Bildungs- und Ausbildungsvorgänge eingebunden und wird den Kindern und Jugendlichen von früh an eingetrichtert. Sie sollen in den Schulen „für das Leben“ fit gemacht werden, d.h. sie sollen in der Wirtschaft bestehen und sich eine „Existenz“ aufbauen können. Der Kapitalismus hat es also geschafft, die menschliche Existenz vom wirtschaftlichen Erfolg abhängig zu machen: Wenn wir es in der Wirtschaft nicht schaffen, verlieren wir unsere Existenz.

Was ist hier geschehen? Natürlich wussten Menschen immer, dass ihr Überleben davon abhängt, dass sie genug zum Essen und einen sicheren Aufenthaltsplatz haben. Aber sie wussten auch, dass sie das nie alleine schaffen können, sondern dass es nur gelingt, wenn alle zusammenhalten. 

In den Anfängen konnten und mussten unsere Vorfahren selber in ihren Gemeinschaften für alles sorgen, was zum Überleben notwendig war. Vor allem seit der jungsteinzeitlichen Revolution ist die Wirtschaft durch die fortschreitende Arbeitsteilung immer komplexer geworden. Es ist ein System von wechselseitigen Abhängigkeiten entstanden, das dann durch das kapitalistische System mit den Prinzipien von Gewinnmaximierung und Konkurrenz verschärft wurde. Während im Mittelalter geregelt war, wieviel ein Handwerker verdienen konnte, sollte im Kapitalismus jener, der am billigsten und effizientesten produziert, die anderen Mitbewerber ausstechen. Aus einem relativ ausgewogenen System von wechselseitigen Abhängigkeiten, in dem der soziale Ausgleich eine wichtige Rolle spielt, wird ein System des Konkurrenzkampfes nach dem Motto: Jeder gegen jeden. Wer zu wenig kämpft, geht unter. Stirb du, bevor ich sterbe. Die Existenzangst liefert den hintergründigen Antrieb für wirtschaftliches Handeln und wird jedem Teilnehmer an der Wirtschaft eingepflanzt. 

Wie ich schon an anderer Stelle ausgeführt habe, ist der Kapitalismus ein angstgetriebenes System, das allen eine chronische Stressbelastung auferlegt. Die versteckte Ideologie dieses Systems suggeriert, dass das Überleben permanent prekär ist. Man kann sich nie genug anstrengen, um endlich vor dem Untergehen sicher zu sein. Die Menschen werden gezwungen sich „freiwillig“ selber Gewalt anzutun, nicht mit vorgehaltener Pistole, sondern mit der implantierten Überlebensangst. 

Die Kapitalismus-Trance

Rein logisch betrachtet, hat das Umweltproblem, in das sich die Menschheit manövriert hat, den Vorrang vor den Wirtschaftsproblemen. Denn auf einem nicht mehr bewohnbaren Planeten kann auch keine Wirtschaft betrieben werden. Die Wirtschaft müsste also alles tun, was in ihren Kräften steht, um diese globale Bedrohung abzuwenden, und dazu bräuchte sie von der Politik die zwingenden Vorgaben. Aber weil im kapitalistischen Denken der kurzfristige Gewinn immer besser ist als eine langfristige Perspektive, trommeln die Vertreter der Wirtschaft ihre Parolen vom Vorrang der Wirtschaft und ihres Wachstums, gleich welche Kosten das sonst noch verursacht und welche Probleme daraus längerfristig erwachsen. Denn für Schäden aus den Wirtschaftsprozessen haftet die Allgemeinheit, bzw. der Staat, diese braucht die Wirtschaftsvertreter nicht zu bekümmern. 

Warum aber ist die Politik nicht in der Lage, der Wirtschaft die Rahmenbedingungen vorzuschreiben, die notwendig sind, damit die Umweltkatastrophe abgewendet werden kann? Offenbar steht sie, wie die meisten Menschen, genauso unter dem Druck, den die Überlebensangst, die Triebfeder des Kapitalismus, ausübt. Kollektive Traumen führen zu kollektiven Dissoziationen, und Dissoziationen führen zu Trancezuständen. Sobald von Gefahren für die Wirtschaft die Rede ist, geraten die meisten Politiker in einen Trancezustand, in dem sie alles andere vergessen, wofür sie sonst noch verantwortlich sind. 

Ein Aufwachen aus diesem entrückten Zustand gibt es für die meisten offensichtlich nur, wenn Erfahrungen auftreten, die so mächtig sind, dass sie nicht mehr ignoriert werden können. Verschwindende Gletscher oder abnorm heiße Sommer sind unangenehme Erfahrungen, aber wir können mit ihnen leben. Ein Sturm, der das eigene Haus niederreißt oder eine Flut, die alles wegschwemmt, was einem gehört, kann nicht mehr so leicht ignoriert werden. 

Die Gefahr besteht, dass wir uns langsam, so wie sich die Klimabedingungen und alle von ihnen abhängigen Phänomene verändern, an die veränderten Umstände anpassen und deshalb alles hinauszögern, was an neuen Gesetzen und an neuen Verhaltensgewohnheiten notwendig wäre. Wir verhalten uns wie die Frösche in dem Wasserglas, das langsam erhitzt wird, und wir merken die Misere erst, in der wir stecken, wenn wir schon verbrüht sind. (Die Geschichte mit den Fröschen ist übrigens ein Fake, Frösche sind nicht so blöd, sie springen aus dem Wasser, sobald es ihnen zu heiß wird.)

Wir haben die Wahl: Die Traumatrance, angetrieben vor der kapitalistischen Überlebensangst, oder das Aufwachen, angetrieben vom Überlebenswillen und von der Verantwortung für die Menschheit und den Planeten.

Zum Weiterlesen:
Kollektive Traumen und ihre Folgen
Kollektive Traumen hinter dem Angriff auf die Ukraine
Die kollektiven Traumatisierungen durch den Kapitalismus
Unverschämtheit, ein Merkmal des Kapitalismus
Kapitalismus und Sozialismus: Angstorientierung und Schamorientierung


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