Sonntag, 18. Dezember 2022

Du musst dein Leben nicht verstehen

„Du musst dein Leben nicht verstehen“, schreibt Rainer Maria Rilke in einem Gedicht, und setzt fort: „dann wird es werden wie ein Fest“.

Wenn wir nicht verstehen, was abläuft, fühlen wir uns verunsichert und irritiert. Wir haben keinen Plan und können auch mit dem Plan, den unser Leben mit uns vorhat, nichts anfangen. Wir fühlen uns ohnmächtig einem Geschehen ausgeliefert, das wir nicht kontrollieren können. Wir wollen also verstehen, was unser Leben ausmacht. 

Was meint jedoch der Dichter mit diesem Satz? Er erinnert daran, dass Kinder ihr Leben nicht verstehen, sondern leben wollen: „Und lass dir jeden Tag geschehen, so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen sich viele Blüten schenken lässt.“ Er regt an, dass wir die kindliche Unbefangenheit und Spontaneität zurückholen, die wir im Lauf des Erwachsenwerdens so gründlich verloren haben. Der „Ernst des Lebens“, vor dem wir als Kinder immer wieder gewarnt wurden, wäre das „eigentliche“ Leben, auf das wir hinstreben sollten. Die ganze Kindheit ist dann nur eine Vorbereitung auf diesen Lebensmodus. Alles Kindliche müsse so rasch wie möglich überwunden werden, damit wir uns in diesem ernsten Leben bewähren und behaupten können.

Spaß und Ernst

Der Gegensatz zwischen Spiel und Ernst kennzeichnet in dieser Auffassung die Grenze zwischen der Kinder- und der Erwachsenenwelt. Wenn Erwachsene spielen, dann machen sie das mit schlechtem Gewissen und fühlen sich kindisch. Unschwer erkennen wir in dieser Haltung die Prägung durch die kapitalistische Ideologie. Jede Tätigkeit, die nichts mit Produktion „im Schweiße des Angesichts“ zu tun hat, ist nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich, weil sie unseren Status und unsere Sicherheit in diesem System gefährden könnte. Wir dürfen uns keine Schwäche leisten und müssen immer am Ball bleiben. Wir brauchen also die maximale Kontrolle über unsere Lebensumstände und über unsere Handlungen. Jeder Kontrollmangel oder Kontrollverlust führt dann schnell zur Panik. Wir müssen so viel wie möglich von den Zusammenhängen verstehen, in denen wir tätig sind, einschließlich der Zusammenhänge in uns selber, die für unsere Leistungsmotivation zuständig sind.

Da erscheinen uns die Worte des Dichters als weltfremd, wenn nicht gar bedrohlich. Andererseits wecken sie auch die Sehnsucht, aus dem Treiben und Getriebensein des Wirtschaftsmolochs auszusteigen und ein anderes Leben zu beginnen. Wir hören von Menschen, die den Brokerjob hinschmeißen und Schafhirten werden. Wir spüren die unmenschlichen Züge des Systems, in das wir eingespannt sind und suchen eine Form des Menschseins, in der wir uns entspannen können. 

Die Logik der Produkion

Eine Klientin beklagt sich, dass sie mitten in der Woche krank wird und nicht am Wochenende. Sie befürchtet, dass sie ihren Job verlieren könnte, wenn sie zu oft krank wird – obwohl sie nur selten krank wird. Sobald das Optimum an Leistung, das vom System erwartet wird, nicht erbracht werden kann, meldet sich die Existenzangst.

Wir tun so, als ob wir das Leben verstehen würden, indem wir der Logik unserer Überlebensprogramme folgen. Diese Programme sind aus Traumatisierungen gespeichert, individuelle und kollektive. Das kapitalistische Szenario hat sich mit der Macht von kollektiven Traumen in den Seelen der Menschen eingenistet, sodass es wie eine zweite Natur geworden ist, die von Angst beherrscht wird und zum Kontrollzwang führt. Wir merken gar nicht, dass wir einem Lebensverständnis folgen, das von einem Bewusstsein geleitet ist, das am weitesten von dem entfernt ist, was unsere menschliche Natur ausmacht. 

Gerade deshalb erscheint die Vorstellung, das Leben als kontinuierliches Fest zu feiern statt es zu verstehen, so lebensfremd und absurd. Doch indem wir meinen, das Leben zu verstehen, merken wir nicht, dass wir nur vorgeprägte Angststrukturen wiederkäuen.

Bruchstückhaftes Verstehen

Ein Charakteristikum von Traumaerfahrungen besteht darin, dass im Traumamoment die bestehenden Lebenszusammenhänge zerfallen und zu Fragmenten werden, die nur als Bruchstücke Sinn ergeben. Kollektive Traumen wie das Kapitalismustrauma können deshalb nur einen bruchstückhaften Sinn vermitteln, der aus einem Überlebenswissen stammt. Sinn macht das, was das Überleben in diesem System möglich macht. Wenn wir uns im Bann des Traumas befinden, erkennen wir die Relativität nicht, sondern erleben diesen Sinn als umfassend und zwingend. Wir merken nicht, dass es sich um eine Ideologie handelt, die wir für wahr halten. Vielmehr glauben wir, dass die Welt so funktioniert und dass alle anderen Menschen das gleiche Verständnis haben. Vor diesem Hintergrund meinen wir, dass es um uns geschehen ist, wenn wir wieder, wie es im Evangelium heißt, wie die Kinder werden. Ja, es ist schon um uns geschehen, wenn wir ein wenig Schwäche zeigen wie es bei einer Krankheit der Fall ist.

Die Freiheit vom Verstehen

Der Zwang zum Verstehen ist das, was in dem Gedicht von Rilke bewusst gemacht wird. „Das Leben verstehen“ ist in unserem Verstand immer fragmentarisch, vorläufig und relativ. Es sind Konzepte, die wir unseren Lebensabläufen anheften, von denen wir annehmen, dass sie uns die Orientierung erleichtern. Meist stammen diese Konzepte aus traumatischen Erfahrungen, sodass ihr Wert auf diese Erfahrungen beschränkt ist. Deshalb ist es wichtig, die Wurzeln unserer Lebenskonzepte zu kennen, sodass wir die Spreu vom Weizen trennen können. Auf alle Konzepte, in denen Angst enthalten ist, können wir getrost verzichten. Sie sind nicht nützlich und erklären auch nichts von der aktuellen Welt. 

Das Leben verläuft, wie es verläuft. Wir erleben ruhigere und heftigere Zeiten, haben angenehmere und unangenehmere Erlebnisse, verstehen manchmal mehr, manchmal weniger davon. Nehmen wir uns die Anregung des Dichters zu Herzen, so finden wir in jedem Moment einen prächtigen Anlass zum Feiern.

Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.


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