Dienstag, 27. Dezember 2022

Die Neugier und die Kreativität

Die Neugier ist ein von jeder Scham befreiter Zustand. Sie führt uns in einen Zustand der Unschuld, der uns an unsere Anfänge auf dieser Welt erinnert – diese faszinierende Welt, die wir einst mit staunenden Augen und Ohren erschlossen haben. Und wir erschließen noch immer, solange die Neugier in uns waltet. Es ist der Kontakt mit einer Welt voll von Wundern und Rätseln, voll von Mysterien und Schönheiten. 

Die Neugier ist der Schlüssel zur Kreativität, die sich ja nur entfalten kann, wenn die Scham überwunden ist. Sie bricht aus Gewohnheiten des Erlebens und Denkens aus und überwindet die Schranken, die mit jeder Gewohnheit errichtet werden.

Das Korsett der Gewohnheiten

Das erwachsene Leben besteht zu großen Teilen aus einer Aneinanderreihung von Gewohnheiten, die nur selten von angenehmen oder unangenehmen Überraschungen unterbrochen werden und auf die wir meist mit der Errichtung neuer Gewohnheiten reagieren. Sobald eine Lücke im Netz der Sicherheiten, die wir um uns errichtet haben, auftaucht, wollen wir es stopfen. Auf diese Weise streben wir nach der Absicherung unserer Sicherheit, sobald uns etwas verunsichert. 

Die Kehrseite der Ritualisierung des Lebens bildet die Langeweile, die uns befällt, wenn wir merken, dass wir in einem Korsett der Gewohnheiten gefangen sind und uns nicht mehr wohl fühlen. Wo bleibt die Abwechslung, wo bleibt das Neue? Wie kommen wir heraus aus der Eintönigkeit der Gewohnheiten? 

Viele Möglichkeiten bietet die Welt des Konsums, die realen und virtuellen Schaufenster in ihrer Pracht und Üppigkeit, die uns zum Einkaufen verlocken wollen. Sie versprechen uns das Neue, das wir noch nicht kennen und dessen Reize wir noch nicht ausgekostet haben. Wir kaufen uns die Kreativität anderer Menschen oder künstlicher Intelligenzen, um der Langeweile für kurze Zeit zu entfliehen. Schnell gewöhnen wir uns an die neuen Güter, sie werden eingereiht in das Inventar unserer Absicherungsgewohnheiten. 

Die nächsten Möglichkeiten gibt es in den weiten Feldern der Unterhaltungsindustrie, die uns wiederum mit Produkten fremder Kreativität zum Konsumieren verleiten möchte. Der nächste Blockbuster verspricht einige Zeit Spannung und Nervenkitzel, die nächste Serie will uns mit ihren Beziehungsdramen fesseln, das nächste Kurzvideo soll uns zu kurzzeitiger Heiterkeit bringen. Auch in diesen Bereichen wirkt die Macht der Gewohnheit und die Langeweile kommt verlässlich zurück. 

Schule der Neugier

Wie entrinnen wir der Pendelbewegung zwischen Gewohnheit und Reizsuche? Die Frage lautet auch: Wie finden wir unsere eigene Kreativität? Wie kommen wir in den Zustand schöpferischen Fließens, der uns in eine Welt jenseits der Gewohnheiten führt?

Ein verlässlicher Weg besteht darin, dass wir unsere Neugier aktiv halten, kultivieren und selbst zu einer Gewohnheit machen. Statt uns im Trott von Alltagsgedanken und Verhaltensgewohnheiten zu verlieren, können wir unsere achtsame Wahrnehmung nutzen, um in unserer Umwelt Neues zu entdecken. Selbst Wege, die wir täglich beschreiten, enthalten Elemente, die wir noch nie gesehen haben. Musikstücke, die wir immer wieder hören, können neue Stimmungen wecken, wenn wir aus darauf einstellen, sie auf eine neue Weise zu hören. Formen der Bewegung, die wir uns angewohnt haben, können wir erneuern, indem wir sie anders machen. Wir können z.B. anders gehen als wir es üblicherweise tun. Selbst jeden Atemzug können wir in seiner Neuheit entdecken. Wir können die Idee des Tanzes, also der freien Bewegung, in viele Abläufe unseres Lebens hineinbringen und dadurch in jedem Moment eine Abwechslung erschaffen. 

Die Neugier ist bei all diesen kreativen Impulsen beteiligt und wird durch sie gefördert. Wir steigern unsere Lebenslust, sobald wir das Fließen der Energie wahrnehmen, die mit dem beständigen Neuerfinden unseres Lebens verbunden ist.

Wir können davon ausgehen, dass solche achtsamen Flexibilitätsübungen unsere Neugier fördern und unser Gehirn motivieren, neue Ideen zu produzieren. In der Psychologie wird dieser Vorgang als divergierendes Denken bezeichnet, also ein Denken, das nicht irgendwelchen bekannten Bahnen folgt, sondern völlig neue Assoziationen und Kombinationen hervorbringt. Es kommt zustande, wenn wir gut gelaunt, entspannt und in einem dopaminreichen Zustand sind. Diesen Zustand können wir mit verschiedenen Pillen oder Drogen herbeiführen, die immer auch Nebenwirkungen haben. Natürlicher und risikofrei ist es, wenn wir uns immer wieder einer offenen Beobachtungsmeditation (open monitoring meditation, im Yoga auch als Yoga Nidra bekannt) widmen. 

Eine Studie konnte nachweisen, dass diese Meditationsform den Dopaminlevel um 65 % steigern kann. Damit wird ein optimaler Zustand hergestellt, in dem dann das divergierende Denken stattfinden kann. Die Meditationsübung besteht darin, im Liegen möglichst ohne Bewegung einfach kommen und gehen lassen, was aufsteigt. Die Übung kann man 10 – 60 Minuten lang machen. Da sich der Körper nicht bewegt, produziert das Gehirn vermehrt Bilder, die aus der visuellen Erinnerung kommen. Zugleich wird das autobiografische Gedächtnis, das Erinnerungen untereinander vergleicht, reduziert und es entsteht ein Bewusstseinszustand, der für das divergierende Denken optimal ist. 

Zum Weiterlesen:
Gier und Neugier
Dopamin und unsere Anfälligkeit für Verführung

 

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