Montag, 28. Februar 2022

Kollektive Traumen und ihre Folgen

Kollektive Traumen entstehen durch Katastrophenereignisse, die eine größere Gruppe von Menschen gleichermaßen betreffen. Es sind Ereignisse, denen sich die Menschen hilflos ausgeliefert fühlten, Ereignisse mit einer Bedrohungsmacht, gegen die die eigenen Ressourcen machtlos sind und restlos überfordern. Insbesondere Ereignisse, die von Menschen verursacht sind wie Kriege oder andere gewaltvollen Prozesse führen zu solchen Traumatisierungen. Sie werden bei jedem Mitglieder der Gruppe unterschiedliche Reaktionen auslösen und von jeder Person unterschiedlich verarbeitet werden. Es kann sich aber niemand der Macht des Traumas entziehen, jedes Mitglied des Kollektivs ist in irgendeiner Weise davon betroffen und in die allgemeine Reaktion eingeschlossen. Manche verfügen über mehr Resilienzfaktoren als andere, manchen stehen mehr Ressourcen zur Verfügung als anderen. Aber das Trauma hinterlässt Spuren in allen, die es miterleben.  

Oft bestehen nach dem Ende der Schockbelastung keine Möglichkeiten zur Aufarbeitung und Integration des Traumas. Die zur Verfügung stehenden Kräfte müssen zur Bewältigung der unmittelbaren Traumafolgen eingesetzt werden. Zum Beispiel hinterließ der zweite Weltkrieg in vielen Gegenden ein derart großes Maß an Zerstörung, dass das Überleben der Überlebenden nur gesichert werden konnte, wenn die notdürftigste Infrastruktur wieder aufgebaut werden konnte. Die Wiederaufbaumentalität verfestigte sich, auch als Möglichkeit zur Verdrängung der Katastrophenerfahrungen, und mündete in Mitteleuropa in das "Wirtschaftswunder" der sechziger und siebziger Jahre, mit zunehmenden Möglichkeiten, die Lasten der Vergangenheit durch die Verlockungen der Unterhaltungsindustrie und der Reisemöglichkeiten zu endgültig vergessen. Auf der Strecke blieb weitgehend die Aufarbeitung der Traumen, auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene. Die nachfolgenden Generationen bekamen das gesamte Paket übertragen.  

Verdrängte Traumen bewirken, dass der innere Bezug zu sich selbst unterbrochen oder geschwächt wird. Das Spüren der eigenen Innenwelt wird reduziert. Denn die Verdrängung verbraucht Energie, die für andere Vorgänge nicht mehr zur Verfügung steht. Die Einheit der Persönlichkeit geht verloren und die Kontinuität der eigenen Geschichte ist unterbrochen. Eine Folge der Fragmentierung, also der Aufsplitterung der Persönlichkeit ist die Schwächung der Beziehungsfähigkeit, vor allem der Empathie. Die Mechanismen der Traumatisierung verlaufen bei Individuen wie bei Gruppen ähnlich.

Kollektive Traumen lähmen und stumpfen ab. Sie lasten wie schwere dunkle Wolken über dem Gemüt und brüten verschiedene Emotionen aus, vor allem Resignation und Aggression sowie deren Abkömmlinge wie Gier, Depression, Streitsucht, Halsstarrigkeit, Ideologieanfälligkeit. Sie führen zu Verhaltensstörungen, Süchten, Die davon betroffenen Menschen wissen nicht, woher diese Belastungen kommen, sie nehmen an, dass das zur “Normalität” ihres Lebens gehört. 

Wodurch werden kollektive Traumatisierungen ausgelöst? 

Es gibt viele Beispiele für die Traumatisierung von Gesellschaften und Gesellschaftsgruppen. Sie entstehen, wenn Menschengruppen aufeinander gewaltsam losgehen. Ethnische oder religiöse Verfolgungen und Vertreibungen, Völkermord, Ausrottung von Stammeskulturen, Sklaverei, Massenvergewaltigungen. Eine besondere Kategorie stellt der Krieg dar, weil das Ziel der Kriegführung in der Vernichtung von Menschenleben durch Menschen besteht. Den eigenen Tod zu fürchten und zu fürchten, fürs eigene Überleben andere töten zu müssen, ist die allgegenwärtige Stressbelastung für einen Soldaten im Kriegsgebiet. Alle Zivilisten in diesen Bereichen sind der Todesdrohung ebenfalls ausgesetzt, ohne Möglichkeit sich zu wehren, und wenn sich Kriege dahinziehen, kann diese Belastung jahrelang andauern.

Jeder Krieg führt zu Traumatisierungen der Menschen in den kriegführenden Länder, der benachbarten Staaten und darüber hinaus. Die primären Traumatisierungen entstehen in den Kriegsgebieten, in denen Menschen, Soldaten und Zivilisten, mit dem Tod bedroht sind. Wenn, wie in der Ukraine dieser Tage, ein Land von seinem Nachbarland überfallen wird, geraten alle Bewohner dieses Landes in eine existenzielle Bedrohungssituation. Mit betroffen sind alle Familienangehörigen und Freunde im Ausland und ebenso die Bewohner des angreifenden Landes. Auf einer sekundären Ebene überträgt sich die Traumatisierung auf alle, die mit den unmittelbar Betroffenen mitfühlen. In einer vernetzten Welt hängt alles mit allem und jeder mit jedem in irgendeiner Weise zusammen. Deshalb übertragen sich mit den Bildern und Informationen Traumatisierungsereignisse wellenförmig auf die ganze Welt. Und deshalb gibt es Traumatisierungsfolgen und posttraumatische Belastungsstörungen auf der ganzen Welt.  

Kriege zählen deshalb zu den schlimmsten kollektiven Traumaauslösern, weil sie in kurzer Zeit ein großes Ausmaß an Leid bewirken und dazu bestehende Strukturen, die Sicherheit gegeben haben, zerstören, oft in einer Weise, die über Jahrzehnte weiterbesteht. Die Balkankriege der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts z.B. haben diese Region so nachhaltig destabilisiert, sodass bis heute in Bosnien kein funktionierender Staat geschaffen werden konnte und die Feindschaften zwischen den einzelnen Gruppen weiterbestehen. 

Generationentraumata

Kollektive Traumatisierungen sind langlebig und werden an die nachfolgenden Generationen weitergegeben. Oft werden Geschichten erzählt, die bestimmte Sichtweisen über historische Ereignisse wiedergeben, mit denen Opfermythen aufrechterhalten werden. Oder es wird nicht über die Vergangenheit geredet, wie das viele vom Krieg heimgekehrte Väter machten, und die Last des erlebten Grauens bleibt in den Seelen gefangen und pflanzt sich in den Kindern fort.

Aus kollektiven Traumen werden entweder traumagespeiste Erzählstränge, in denen die kollektive Täter- und Opferrollen fixiert werden (die "Guten" und die "Bösen"). So wurden z.B. durch das kollektive Trauma der Abtrennung von Südtirol nach dem 1. Weltkrieg die Tiroler zu Opfern und die Italiener zu Tätern gemacht . Oder es wird ein Mantel des Schweigens über die Geschehnisse und Erlebnisse gebreitet und jeder Versuch, diesen zu lüften, mit allen Mitteln bekämpft. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Wehrmachtsausstellung, bei der vor ca. 25 Jahren die Verbrechen der deutschen Wehrmacht im 2. Weltkrieg dokumentiert wurden – ein Beitrag zur Traumabewältigung. Massive Proteste dagegen wollten sich dafür einsetzen, den Mythos von einer “sauberen” Wehrmacht aufrechtzuerhalten, um sich die Scham über die von ihren Mitgliedern begangenen Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen nicht eingestehen zu müssen. 

Dieses Beispiel zeigt einerseits die Traumatisierung bei den Tätern und andererseits, wie lange die Traumaverdrängung wirksam bleibt und wie sie auf die nächsten Generationen übertragen wird. Denn die Proteste wurden nicht nur von ehemaligen Wehrmachtsangehörigen, sondern auch von Vertretern der nachfolgenden Generation veranstaltet. 

Wie kann die Macht von kollektiven Traumen gebrochen werden? 

Tiefgehend können Traumatisierungen nur auf einer individuellen Ebene aufgearbeitet und aufgelöst werden. Bei der großen Anzahl von Menschen, die von solchen Traumawellen erfasst werden, bräuchte es eine noch viel größere Zahl von Therapieeinheiten, um die psychischen Folgen bei allen Betroffenen soweit aufzufangen, dass die nachfolgenden Generationen davon unbelastet bleiben können. Aber jeder Schritt in diese Richtung, jedes kollektive und transgenerationale Trauma, das jemand bearbeitet und integriert, ist ein Beitrag zur Entlastung und Befreiung auch für die Gesellschaft. 

Auf der kollektiven Ebene geht es darum, Verdrängtes bewusst zu machen, indem die erlebten Geschichten in die kollektive Geschichte eingebracht werden. Was geschehen ist und traumatisiert hat, muss erzählt werden. Die Erzählungen müssen zudem in einen reflektierten Rahmen eingebettet werden, in den die Ergebnisse der historischen Forschung eingespeist werden. Emotional gefärbte Erfahrungsberichte werden dabei mit der objektivierenden Sichtweise der Geschichtswissenschaften verbunden. Diese Kombination aus Erfahrungen und Wissen soll dann in die Bildungsprozesse einfließen und Gegenstand des öffentlichen Diskurses werden, sodass möglichst viele Menschen mit diesen Erkenntnissen in Kontakt kommen und damit ihre inneren Bilder, Erzählungen und Mythen reflektieren und korrigieren können. Dazu gehört auch, dass die obersten Verantwortlichen des Gemeinwesens mit einer objektivierten Form der Geschichtsbetrachtung vertraut sind, sodass es nicht zu peinlichen “Schnitzern” kommen kann wie in den letzten Tagen durch den österreichischen Außenminister und dem Präsidenten des Nationalrates. Geschichtsverdrehungen weisen auf die wunden Punkte hin, bei denen sich nicht bearbeitete kollektive Traumatisierungen melden.  

Ich habe den Vorgang der kollektiven Traumaarbeit an anderer Stelle als Geschichtstherapie bezeichnet. Denn die Aufklärung der Schatten in der Geschichte hat eine ähnlich kathartische Wirkung wie die Aufarbeitung der dunklen Flecken der eigenen Lebensgeschichte.

Gesellschaften können nur dann mit all ihren gestalterischen Potenzialen in die Zukunft schreiten, wenn sie mit ihrer Vergangenheit im Reinen sind. Wenn sie ihr nicht Aug in Aug begegnet sind, wenn sie sich nicht ihren eigenen Unmenschlichkeiten gestellt haben, sind sie verdammt, ihre Fehler zu wiederholen. Und solche Wiederholungen sind Retraumatisierungen und erzeugen neue kollektive Traumatisierungen, wie wir sie gerade miterleben müssen. 

Zum Weiterlesen:
Rechtsterror braucht Geschichtstherapie
Kriegsverbrechen und Schamverdrängung
Erzählend sind wir und erzählt
Kollektive Traumen hinter dem Angriff auf die Ukraine
Kollektive Traumen und ihre missglückte Bewältigung

Literaturempfehlung:
Thomas Hübl: Kollektives Trauma heilen. Persönliche und globale Krisen verstehen und als Chance nutzen. Irisiana 2021

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