Mittwoch, 20. Juli 2022

Unverschämtheit, ein Merkmal des Kapitalismus

Der Kapitalismus kennt keine Rücksichtnahme auf die Natur und auf die Menschen und deshalb hat die Scham im Rahmen des Kapitalismus und des dahinterstehenden materialistischen Bewusstseins keinen Platz. Das kapitalistische System kann nur funktionieren, wenn die Scham gründlich ausgeblendet und unterdrückt wird. Das Gesetz des Profits regiert und steht über jeder Form der Menschlichkeit.

Menschen können nicht einfach nur skrupellose Materialisten sein, weil sie nicht zu hundert Prozent unmenschlich sein können. Selbst die hartgesottensten Geschäftsleute und skrupellosesten Manager haben einen menschlichen Kern in sich, der sich in bestimmten Situationen meldet, etwa wenn sie mit Kindern zusammen sind oder wenn sie Kunst und Natur erleben. Allerdings korrumpiert das System die Menschlichkeit, je länger und intensiver man sich darin aufhält und je mehr man sich damit identifiziert. Der Druck zur Kostenminimierung und zur Profitsteigerung schlägt durch auf die inneren Schichten der Körperlichkeit und der Seele aller Beteiligten. Je höher oben sich jemand in diesem System befindet, desto stärker wirkt der Druck und desto höher ist die Stressbelastung und desto größer die Entfernung vom Menschsein.

Gefühle sind in diesen Zusammenhängen unwillkommen, denn wie würden an das Menschsein erinnern. Als einzige Gefühlsenergie hat die Aggression einen fixen Platz. Sie bildet die systemimmanente Antriebskraft, die das ganze Regelwerk in Gang hält. Wütend werden die Mitarbeiter angetrieben, wütend werden die Konkurrenten bekämpft. Das Konkurrenzprinzip, das als wesentlicher Motor den Kapitalismus antreibt, erfordert eine permanente Aggressionsbereitschaft bei allen Mitspielern: Es geht um Kampf – auf Gedeih und Verderb. Wer sich durchsetzt, fürchtet schon den nächsten Gegner, wer am Markt unterliegt, geht unter oder muss wieder von vorne anfangen wie beim Mensch-ärgere-dich-nicht.

Die Aggression im Kapitalismus

Diese dem Kapitalismus innewohnende Aggression bewirkt auch, dass die Natur zum Freiwild wird und rücksichtslos ausgebeutet werden kann. Sie ist einzig und allein Objekt der Begierde nach mehr Geld. Der Raubbau an den Ressourcen des Planeten erscheint dem Kapitalisten höchstens als notwendiges Übel, dem von außen Betrachtenden allerdings als das Absägen des Astes, auf dem alles sitzt. Aggressiv werden der Natur die Rohstoffe entrissen, oft im 21. Jahrhundert noch unter sklavenähnlichen Bedingungen, und aggressiv werden die daraus produzierten Güter am Markt vertrieben.

Diese Aggression betrifft aber auch Kulturen, die sich diesen Zwängen noch nicht untergeordnet haben. Sie werden sukzessive ausgehöhlt und vereinnahmt. Im 18. und 19. Jahrhundert erfolgte die Zerstörung von lokalen außereuropäischen Kulturen noch mit militärischer Gewalt, seither wirkt die Übermacht des westlichen Wirtschaftsmodells subtiler und nachhaltiger, indem die Verlockungen moderner Bequemlichkeiten und Unterhaltungen die auf das lokale Überleben ausgerichteten Kulturen zur Entfremdung von den eigenen Traditionen verführen.

Die Unbarmherzigkeit dieses Systems erleben zum Beispiel Menschen auf ihrer eigenen Haut, die andere kündigen müssen, weil deren Posten wegrationalisiert wurden oder die Produktion in einen anderen Erdteil verlegt wird. Manchmal enden solche Personalmanager in der inneren Kündigung d.h. im Burnout, weil es so schwer fällt, die Scham, die auftritt, wenn man Menschen ihre berufliche Existenz wegnehmen muss, zu verkraften. Dann scheiden sie selber aus dem Arbeitsprozess aus. Ein anderes Beispiel: Ein Unternehmensberater hat von seinen Auftraggebern die Aufgabe, Anbieter für bestimmte Dienstleistungen gegeneinander auszuspielen, um das günstigste Ergebnis herauszuholen. Er weiß, dass einige Anbieter nicht zum Zug kommen und dadurch frustriert sind und auch bei ihren Vorgesetzten Schwierigkeiten bekommen. Es macht ihm ein schlechtes Gewissen, weil er sieht, dass sein vom System erzwungenes Handeln andere Menschen unglücklich macht und in ihrer Existenz bedroht.

Weg mit dem Kapitalismus?

Wir werden den Kapitalismus nicht los, indem wir ihn revolutionär zerstören. Denn er hat längst von unseren Körpern Besitz ergriffen und sich in unserem Verstand festgesetzt. Der Sturz der Kapitalisten könnte nur wieder von kapitalistisch geprägten Menschen durchgeführt werden. Niemand ist frei von dem süßen Gift. Darin liegt der Grund, dass alle diesbezüglich unternommenen Revolutionen nur andere Formen des Kapitalismus hervorgebracht haben, mit anderen Formen der politischen Machtverteilung.

Wir sind auf die eine oder andere Weise eingespannt in den Stressmotor der kapitalistischen Gesellschaft, und wir sind so oder so Konsumidioten in der Warenwelt und halten damit das Getriebe in Gang. All unsere Fluchtbemühungen in ferne Länder, entlegene Landstriche, einsame Gegenden oder veränderte Konsumgewohnheiten haben wir uns erkauft mit unserem Einsatz für das System. Theodor W. Adorno hat einmal geschrieben: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Wir alle sind Teil dieser falschen Schamlosigkeit, naschen mit an ihren Erträgen und zahlen mit an den Schäden, die angerichtet werden. Die Umweltkrise, die vielen Kriege auf der Welt und selbst die Pandemie sind Auswüchse des giergetriebenen ökonomischen Systems, das uns fest im Griff hat und Schritt für Schritt unsere Lebensgrundlagen untergräbt, unsere Gesundheit bedroht und Hass unter den Menschen erzeugt. Dafür sollten wir uns schämen. Wo aber die Scham fehlt, geht die Menschlichkeit flöten.

Die Wurzeln der Destruktivität

Wir entkommen dieser Knechtschaft nur, indem wir uns ihre destruktiven Zusammenhänge bewusst machen. Unsere Verantwortung liegt darin, die Fahnen der Menschlichkeit hochzuhalten und das kapitalistische Treiben einzuhegen und einzugrenzen. Wir können es nicht abschaffen, wir können es nur entmachten. Es muss „Schutzzonen“ der Menschlichkeit geben, in denen nicht die Prinzipien des Kapitalismus herrschen, sondern die Prinzipien der Menschlichkeit. Beispiele sind das Aufwachsen der Kinder, alle Bereiche der Bildung und der Kultur, die Pflege alter und bedürftiger Menschen und gemeinwohlorientierte Formen der Wirtschaft. Es muss eine Politik geben, die nicht den Geldgötzen anbetet, sondern die sich als Hüterin der Gerechtigkeit sieht, die die Erträge und Lasten aus der Güterproduktion gleichmäßig in der Bevölkerung verteilt.

Der Kapitalismus ist nicht in sich böse. Er ist ja kein Subjekt. Er ist ein System, das im Lauf der Menschheit von den Menschen erschaffen wurde und äußerst erfolgreich weite Bereiche der verschiedenen Gesellschaften in dieser Welt bestimmt. Er ist aber ein System, das viel Bosheit, gepaart mit Schamlosigkeit hervorbringt und er hat in sich kein Gegenmittel dazu.

Wir brauchen also ein anderes Bewusstsein als das kapitalistische oder materialistische, und wir verfügen auch darüber. Wir sind in der Lage, menschlich zu denken, zu handeln und zu fühlen. Wir wissen im Grund, was das heißt, sobald wir aus den Beschränkungen des egoistischen Gewinn- und Gierdenkens heraustreten. Wir können uns mehr darum bemühen, in die Hintergründe und psychodynamischen Kräfte des kapitalistischen Bewusstseins hineinzuleuchten. Dort werden wir erkennen, dass all das Destruktive in dieser Weltsicht durch psychische Verletzungen und Traumatisierungen entstanden ist, auf individueller und auf kollektiver Ebene. Menschen sind nicht von sich aus und von Anfang an gierig, skrupellos und unverschämt. Sie werden so, als Reaktion auf die Frustration von Grundbedürfnissen als Individuen und von sozialen Bedürfnissen als Kollektive.

Wenn wir diese Wurzeln der Destruktivität in uns selbst so weit wie möglich aufgearbeitet und integriert haben, steht uns mehr Energie für konstruktives menschliches Handeln zur Verfügung. Davon brauchen wir mehr als genug zur Bewältigung all der Krisen, in die wir uns selber durch den blinden Glauben an das System des Kapitalismus gebracht haben. Wir können uns von den Abhängigkeiten und Manipulationen lösen, mit denen dieses System versucht, uns in Geiselhaft zu halten und damit seine Macht Schritt für Schritt zurückdrängen. Dort, wo die ego-getriebenen Gefüge weichen, entsteht der Raum für mehr Menschlichkeit.

 Zum Weiterlesen:
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Kapitalismus und Sozialismus: Angstorientierung und Schamorientierung

Das Giersystem im Kapitalismus

Eine Krise des Neoliberalismus

Wirtschaft ohne Gier?

 

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