Der Kapitalismus kennt keine Rücksichtnahme auf die Natur und auf die Menschen und deshalb hat die Scham im Rahmen des Kapitalismus und des dahinterstehenden materialistischen Bewusstseins keinen Platz. Das kapitalistische System kann nur funktionieren, wenn die Scham gründlich ausgeblendet und unterdrückt wird. Das Gesetz des Profits regiert und steht über jeder Form der Menschlichkeit.
Menschen können nicht einfach nur skrupellose Materialisten
sein, weil sie nicht zu hundert Prozent unmenschlich sein können. Selbst die
hartgesottensten Geschäftsleute und skrupellosesten Manager haben einen
menschlichen Kern in sich, der sich in bestimmten Situationen meldet, etwa wenn
sie mit Kindern zusammen sind oder wenn sie Kunst und Natur erleben. Allerdings
korrumpiert das System die Menschlichkeit, je länger und intensiver man sich
darin aufhält und je mehr man sich damit identifiziert. Der Druck zur
Kostenminimierung und zur Profitsteigerung schlägt durch auf die inneren
Schichten der Körperlichkeit und der Seele aller Beteiligten. Je höher oben
sich jemand in diesem System befindet, desto stärker wirkt der Druck und desto
höher ist die Stressbelastung und desto größer die Entfernung vom Menschsein.
Gefühle sind in diesen Zusammenhängen unwillkommen, denn wie
würden an das Menschsein erinnern. Als einzige Gefühlsenergie hat die
Aggression einen fixen Platz. Sie bildet die systemimmanente Antriebskraft, die
das ganze Regelwerk in Gang hält. Wütend werden die Mitarbeiter angetrieben, wütend
werden die Konkurrenten bekämpft. Das Konkurrenzprinzip, das als wesentlicher
Motor den Kapitalismus antreibt, erfordert eine permanente
Aggressionsbereitschaft bei allen Mitspielern: Es geht um Kampf – auf Gedeih
und Verderb. Wer sich durchsetzt, fürchtet schon den nächsten Gegner, wer am
Markt unterliegt, geht unter oder muss wieder von vorne anfangen wie beim
Mensch-ärgere-dich-nicht.
Die Aggression im Kapitalismus
Diese dem Kapitalismus innewohnende Aggression bewirkt auch,
dass die Natur zum Freiwild wird und rücksichtslos ausgebeutet werden kann. Sie
ist einzig und allein Objekt der Begierde nach mehr Geld. Der Raubbau an den
Ressourcen des Planeten erscheint dem Kapitalisten höchstens als notwendiges
Übel, dem von außen Betrachtenden allerdings als das Absägen des Astes, auf dem
alles sitzt. Aggressiv werden der Natur die Rohstoffe entrissen, oft im 21.
Jahrhundert noch unter sklavenähnlichen Bedingungen, und aggressiv werden die
daraus produzierten Güter am Markt vertrieben.
Diese Aggression betrifft aber auch Kulturen, die sich
diesen Zwängen noch nicht untergeordnet haben. Sie werden sukzessive ausgehöhlt
und vereinnahmt. Im 18. und 19. Jahrhundert erfolgte die Zerstörung von lokalen
außereuropäischen Kulturen noch mit militärischer Gewalt, seither wirkt die
Übermacht des westlichen Wirtschaftsmodells subtiler und nachhaltiger, indem
die Verlockungen moderner Bequemlichkeiten und Unterhaltungen die auf das
lokale Überleben ausgerichteten Kulturen zur Entfremdung von den eigenen
Traditionen verführen.
Die Unbarmherzigkeit dieses Systems erleben zum Beispiel Menschen
auf ihrer eigenen Haut, die andere kündigen müssen, weil deren Posten
wegrationalisiert wurden oder die Produktion in einen anderen Erdteil verlegt wird.
Manchmal enden solche Personalmanager in der inneren Kündigung d.h. im Burnout,
weil es so schwer fällt, die Scham, die auftritt, wenn man Menschen ihre
berufliche Existenz wegnehmen muss, zu verkraften. Dann scheiden sie selber aus
dem Arbeitsprozess aus. Ein anderes Beispiel: Ein Unternehmensberater hat von
seinen Auftraggebern die Aufgabe, Anbieter für bestimmte Dienstleistungen
gegeneinander auszuspielen, um das günstigste Ergebnis herauszuholen. Er weiß,
dass einige Anbieter nicht zum Zug kommen und dadurch frustriert sind und auch
bei ihren Vorgesetzten Schwierigkeiten bekommen. Es macht ihm ein schlechtes
Gewissen, weil er sieht, dass sein vom System erzwungenes Handeln andere
Menschen unglücklich macht und in ihrer Existenz bedroht.
Weg mit dem Kapitalismus?
Wir werden den Kapitalismus nicht los, indem wir ihn
revolutionär zerstören. Denn er hat längst von unseren Körpern Besitz ergriffen
und sich in unserem Verstand festgesetzt. Der Sturz der Kapitalisten könnte nur
wieder von kapitalistisch geprägten Menschen durchgeführt werden. Niemand ist
frei von dem süßen Gift. Darin liegt der Grund, dass alle diesbezüglich
unternommenen Revolutionen nur andere Formen des Kapitalismus hervorgebracht
haben, mit anderen Formen der politischen Machtverteilung.
Wir sind auf die eine oder andere Weise eingespannt in den
Stressmotor der kapitalistischen Gesellschaft, und wir sind so oder so
Konsumidioten in der Warenwelt und halten damit das Getriebe in Gang. All
unsere Fluchtbemühungen in ferne Länder, entlegene Landstriche, einsame
Gegenden oder veränderte Konsumgewohnheiten haben wir uns erkauft mit unserem
Einsatz für das System. Theodor W. Adorno hat einmal geschrieben: „Es gibt kein
richtiges Leben im falschen.“
Wir alle sind Teil dieser falschen Schamlosigkeit, naschen
mit an ihren Erträgen und zahlen mit an den Schäden, die angerichtet werden.
Die Umweltkrise, die vielen Kriege auf der Welt und selbst die Pandemie sind
Auswüchse des giergetriebenen ökonomischen Systems, das uns fest im Griff hat
und Schritt für Schritt unsere Lebensgrundlagen untergräbt, unsere Gesundheit
bedroht und Hass unter den Menschen erzeugt. Dafür sollten wir uns schämen. Wo aber
die Scham fehlt, geht die Menschlichkeit flöten.
Die Wurzeln der Destruktivität
Wir entkommen dieser Knechtschaft nur, indem wir uns ihre
destruktiven Zusammenhänge bewusst machen. Unsere Verantwortung liegt darin,
die Fahnen der Menschlichkeit hochzuhalten und das kapitalistische Treiben einzuhegen
und einzugrenzen. Wir können es nicht abschaffen, wir können es nur entmachten.
Es muss „Schutzzonen“ der Menschlichkeit geben, in denen nicht die Prinzipien
des Kapitalismus herrschen, sondern die Prinzipien der Menschlichkeit. Beispiele
sind das Aufwachsen der Kinder, alle Bereiche der Bildung und der Kultur, die
Pflege alter und bedürftiger Menschen und gemeinwohlorientierte Formen der
Wirtschaft. Es muss eine Politik geben, die nicht den Geldgötzen anbetet,
sondern die sich als Hüterin der Gerechtigkeit sieht, die die Erträge und
Lasten aus der Güterproduktion gleichmäßig in der Bevölkerung verteilt.
Der Kapitalismus ist nicht in sich böse. Er ist ja kein
Subjekt. Er ist ein System, das im Lauf der Menschheit von den Menschen
erschaffen wurde und äußerst erfolgreich weite Bereiche der verschiedenen
Gesellschaften in dieser Welt bestimmt. Er ist aber ein System, das viel
Bosheit, gepaart mit Schamlosigkeit hervorbringt und er hat in sich kein
Gegenmittel dazu.
Wir brauchen also ein anderes Bewusstsein als das kapitalistische
oder materialistische, und wir verfügen auch darüber. Wir sind in der Lage,
menschlich zu denken, zu handeln und zu fühlen. Wir wissen im Grund, was das
heißt, sobald wir aus den Beschränkungen des egoistischen Gewinn- und
Gierdenkens heraustreten. Wir können uns mehr darum bemühen, in die
Hintergründe und psychodynamischen Kräfte des kapitalistischen Bewusstseins
hineinzuleuchten. Dort werden wir erkennen, dass all das Destruktive in dieser Weltsicht
durch psychische Verletzungen und Traumatisierungen entstanden ist, auf
individueller und auf kollektiver Ebene. Menschen sind nicht von sich aus und
von Anfang an gierig, skrupellos und unverschämt. Sie werden so, als Reaktion
auf die Frustration von Grundbedürfnissen als Individuen und von sozialen
Bedürfnissen als Kollektive.
Wenn wir diese Wurzeln der Destruktivität in uns selbst so
weit wie möglich aufgearbeitet und integriert haben, steht uns mehr Energie für
konstruktives menschliches Handeln zur Verfügung. Davon brauchen wir mehr als
genug zur Bewältigung all der Krisen, in die wir uns selber durch den blinden
Glauben an das System des Kapitalismus gebracht haben. Wir können uns von den Abhängigkeiten
und Manipulationen lösen, mit denen dieses System versucht, uns in Geiselhaft
zu halten und damit seine Macht Schritt für Schritt zurückdrängen. Dort, wo die
ego-getriebenen Gefüge weichen, entsteht der Raum für mehr Menschlichkeit.
Brauchen wir Krisen, um die globalen Probleme zu lösen?
Kapitalismus und Sozialismus: Angstorientierung und Schamorientierung
Das Giersystem im Kapitalismus
Eine Krise des Neoliberalismus
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