Samstag, 11. Dezember 2021

Gier und Neugier

Zwei Strebungen in uns, die ähnlich und unähnlich zugleich sind. Gemeinsam ist ihnen, dass sie etwas wollen, was gerade nicht da ist. Es sind stark drängende Kräfte, die mit dem aktuellen Zustand nicht zufrieden sind und darüber hinaus wollen. 

Hier sind schon die Unterschiede: die Gier will etwas, das sie schon kennt, während die Neugier eben auf Neues aus ist. Die Gier resultiert aus uralten Mängeln, die unbedingt erfüllt werden müssen, sonst wäre die Frustration zu groß. Sie ist prinzipiell unersättlich, hat also nie genug. Sie ist zeitweilig erschöpft, wenn sie sich einmal überfressen hat. Sobald der üppige Schmaus verzehrt ist meldet sich schnell der gierige Hunger wieder. So geht es dem Völler, ähnlich der Säuferin und dem Geldscheffler. Weit verbreitet ist auch die Gier nach Anerkennung und Sex. Im Grund können Menschen nach allem, was es so gibt, gierig sein.  

Jedoch ist jedes der vielen Objekte der Gier ein Ersatzobjekt, das für die erlittene emotionale Unterernährung der Kindheit herhält. Da Objekte nie die Liebe geben können, die das Kind gebraucht hätte, kann es nie zu einer Erfüllung kommen. Die Gier führt nur zu weiterer Gier. Das ist die Tragik, die in der Gier steckt und die von ihr getriebenen Menschen ins Unglück treibt und dort festhält. 

In der Gier steckt die Massivität der kindlichen Frustrationen, die aus einer frühen überlebensangst stammt. Das Kind spürt, dass es ohne emotionale Versorgung und Zuwendung untergehen muss. Es setzt alles ein, um das zu verhindern. Aus dieser Dynamik stammt die Skrupellosigkeit, mit der gierige Menschen sogar über Leichen gehen können. Sie zeigen die Rücksichtslosigkeit, die wir von Suchtkranken kenn, denen jedes Mittel recht ist, um an den Stoff zu kommen. 

Die Gier kennt ihre eigenen Sehnsüchte, als Spannung zwischen dem permanenten inneren Mangel und der fantasierten Befriedigung. Die Sehnsucht, die aus der Gier stammt, wird als Leiden erlebt, weil das Ziel der Sehnsucht unerreichbar erscheint. Das Leben wird als unauflösbare Spannung zwischen den Polen der unerfüllten Gegenwart und einer nie eintretenden Erlösung, die immer wieder in der Fantasie ausgemalt wird, empfunden.  

Auf einer tieferen Ebene deutet die Sehnsucht an, dass es ein Jenseits des destruktiven Zyklus von Mangel und Befriedigung gibt, eine Ebene, auf der die quälende Kraft des Getriebenseins überwunden werden kann. Für jedes Leiden gibt es eine Heilung, und der erste Schritt ist immer, es als Leiden, für das man selbst die Verantwortung trägt, zu erkennen.  

Die gierige Person vermeint, die Heilung läge in der Aneignung des Objekts; das ist die Illusion, die sie durchschauen muss, um zur eigentlichen Heilung zu kommen. Es geht darum, die Wurzel des giergetriebenen Musters zu erkennen: Die unerfüllten kindlichen Bedürfnisse, für die die Objekte der Begierde als Ersatz herhalten müssen. Die seelischen Schmerzen, die mit diesen Frustrationen verbunden sind, müssen gespürt und durchlebt werden, um zur Heilung und Befreiung von der Qual der Gier zu gelangen. 

Nach hinten oder nach vorne schauen

Während die Gier immer an die Vergangenheit zurückgebunden ist, richtet sich die Neugier auf das Zukünftige, auf das Unbekannte. Es ist eine Lust am Abenteuer, am Weiten dessen, was gerade da ist. Aus dem, was ist, soll mehr werden, es soll wachsen, es soll sich in unbekannte Dimensionen hinein erstrecken. Die Neugier liegt im Staunen und Wundern, im Erleben des Unglaublichen und Unerwarteten, im Sprengen der Wahrnehmungsmuster und Denkgewohnheiten. Die Neugier erkennt das Einzigartige am gegenwärtigen Moment.  

Die einfache Gier ist ein Abkömmling der Angst und hat viele Querverbindungen zur Scham. Sie zählt deshalb zu den Schutzgefühlen, die aus Überlebensprogrammen stammen. Die Neugier dagegen ist dem Wachstumssektor der Gefühlslandschaft zugeordnet. Sie ist zuständig für alles, was die Menschen an Fortschritt und Verbesserung ihrer Lebensbedingungen im Lauf von Jahrtausenden erschaffen haben. Hinter jeder Erfindung steckt ein neugieriger Mensch, hinter jeder Entdeckung ebenfalls. Die Neugier ist der Antrieb der Kreativität, die etwas in die Welt setzen will, was es noch nicht gegeben hat. Jeder Künstler ist von Neugier motiviert, ebenso wie jede Wissenschaftlerin. Der Komponist ist neugierig, wie sich die Melodie im Kopf weiterentwickelt, die Schriftstellerin ist neugierig, was ihre Romanfigur als nächstes machen wird, der Maler sitzt vor der berühmten weißen Leinwand und lässt sich vom Pinsel und seinem Strich überraschen.  

Die Neugier und das Mysterium 

Kinder sind die Meister und Lehrmeister in der Neugier. Sie erstaunen und begeistern die Erwachsenen mit den Entdeckungen, die sie mit ihrer Lust am Neuen immer wieder aufspüren. Die leuchtenden Augen der Kinder weisen uns auf das Wunderbare hin, an Dingen oder Erfahrungen, was wir vielleicht abschätzig als Kleinigkeiten bezeichnen. Unermüdlich und spielerisch erforschen sie die Wirklichkeit um sie herum und eignen sich damit Schritt für Schritt ihren Platz in dieser Welt an. 

Von den Kindern lernen wir auch, wie sich die Neugier mit der Begeisterung verbindet. Das Neue, das uns auffällt, zeigt uns eine überraschende Seite des unendlichen Geistes, des Mysteriums des Seins. Jede Facette des uns umgebenden großen Geheimnisses öffnet eine Verbindung, die über unser kleines Ego hinausweist.  

Die erfolgreiche Suche, die die Neugier beflügelt hat, bereitet uns Freude und hebt unsere Stimmung. Manchmal fühlt es sich wie ein Durchbruch oder ein kreativer Schub an. Manchmal ist eine winzig kleine Entdeckung, die wir machen. Wir sind mit der Welt und ihren Schönheiten in besonders intensiver Weise verbunden. Wir teilen den Geist dieser vielfältigen und großen Welt der Erscheinungen.  

Die Neugier hat auch eine Verwandtschaft mit der Sehnsucht. Sie zeigt sich einerseits darin, dass wir eine Sehnsucht nach Neuem spüren können, wenn die Neugier kein Objekt findet. In der Langeweile, die immer eine Abwesenheit der Neugier ist, meldet sich die Sehnsucht nach Abwechslung, Ablenkung, Unterhaltung, damit die Neugier wieder Nahrung bekommt. 

Die Neugier führt uns schließlich auch auf den spirituellen Weg. Wir spüren offene Stellen und Mängel in uns und suchen die Ganzheit. Wir spüren die Enge des Egos in uns und streben nach Befreiung. Es meldet sich eine Kraft in uns, die uns sagt, dass es da noch mehr gibt. Neugierig machen wir uns auf der Suche nach dem Innersten des Mysteriums. 

Zum Weiterlesen:
Gier und Selbstzerstörung
Wirtschaft ohne Gier
Das Giersystem im Kapitalismus
Konsum und Gier
Kreative und reaktive Fantasien


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