Freitag, 28. Oktober 2022

Krisen und Krisenresilienz

Im vorigen Artikel war die Rede von Störungen im Alltag. Es gibt Störungen, die von Dauer sind, ohne dass wir uns an sie gewöhnen können, und die wir als sehr heftig erleben. Wir nennen sie dann Krisen. Es sind Anhäufungen von Störungen, die unsere Verarbeitungskapazitäten überschreiten. Persönliche Krisen entstehen durch Krankheiten oder psychische Überlastungen wie z.B. beim Burnout. Gesellschaftliche Krisen entstehen, wenn eine Gesellschaft mit den Herausforderungen nicht mehr zu Recht kommt, die an sie gestellt werden und viele Individuen darunter leiden.

Krisen sind also massive Enttäuschungen von Erwartungen. Sie erschüttern eingeübte Lebensgewohnheiten und unterbrechen ritualisierte Abläufe, was verunsichert und als sehr belastend erlebt wird und Stress erzeugt. Zukunftsbilder und Pläne müssen über den Haufen geworfen werden, und sie zerplatzen wie Seifenblasen. Die Menschen fühlen sich ausgeliefert und ohnmächtig, ohne Chance, den Lauf der Dinge zu beeinflussen.

Die Pandemie als Krise

In der Pandemiezeit sind viele in Krisen gestürzt – Ängste um die eigene Gesundheit und die von Angehörigen, Ängste um den Beruf und die Ausbildung, Verlustängste wegen abgeschotteter und unterbrochener Beziehungen. Dazu kamen und kommen die von Verschwörungstheorien, Halbwahrheiten und verzerrten Forschungsergebnissen erzeugten und geschürten Ängste, die das Krisenbewusstsein zusätzlich aufgeladen haben. Viele Menschen mussten viele ihrer Gewohnheiten aufgeben und auf viele Selbstverständlichkeiten des täglichen Lebens verzichten. Diese massiven Enttäuschungen und Verunsicherungen haben Depressionen ausgelöst und zu anderen psychischen Symptomen geführt. Denn wir greifen in Krisen auf unsere Überlebensprogramme zurück. Da sie uns schon irgendeinmal geholfen haben, sollen sie uns auch jetzt mehr Sicherheit verschaffen. Sie engen allerdings unsere Flexibilität und unsere Kreativität ein und schneiden uns von unserem lösungsorientierten Potenzial ab, sodass wir erst recht nicht mit den Herausforderungen der Krise zurande kommen. 

Traumaketten

Alle Krisen docken zusätzlich an das kollektive Krisengedächtnis an, sodass die aktuellen Ängste durch vergangene Ängste verstärkt werden. Die subjektive Krisenresilienz, also die individuelle Fähigkeit, mit Krisen konstruktiv umgehen zu können, hängt sehr von der eigenen persönlichen Vorgeschichte ab. Je mehr Traumatisierungen in der eigenen Geschichte vorgekommen sind, desto verletzbarer und infizierbarer ist das Bewusstsein für aktuelle Krisenbelastungen. Außerdem dringen Verschwörungsgeschichten und vereinfachende Erklärungstheorien leichter in den Innenraum ein und vermindern die Fähigkeit zur adäquaten Wirklichkeitswahrnehmung. Die Personalisierung von komplexen Zusammenhängen, die Fixierung auf Retter und Bösewichte und einfache Schwarz-Weiß-Schemata vermitteln zwar eine gewisse kognitive Orientierung, die einigermaßen Sicherheit gibt, aber sie hilft in der Praxis nicht weiter, weil sie auf realitätsfremden Annahmen und Schlussfolgerungen beruht.

Große Zerstörungen, große Chancen?

Die Krisenbelastungen in Kriegsgegenden sind natürlich noch viel höher und hinterlassen deshalb enorm tiefere Spuren im kollektiven Gedächtnis der betroffenen Länder und der Menschheit insgesamt. Aber selbst beim düsteren Szenario des Ukrainekrieg gibt es Perspektiven der Hoffnung: Vielleicht wird der furchtbare Ukrainekrieg zum wichtigsten Wendepunkt in der Geschichte des gepeinigten Landes und führt es in eine lichtvollere Zukunft? Vielleicht führt der Krieg in Russland zu neuen Entwicklungen für mehr Demokratie und Meinungsfreiheit?

Der erste Weltkrieg mit seinen Millionen an Todesopfern hat zur Gründung der ersten internationalen Staatenvereinigung und der zweite Weltkrieg mit noch viel mehr Opfern und Zerstörungen zur Gründung der UNO geführt. Die verheerenden Erfahrungen mit den beiden Hauptkatastrophen des vergangenen Jahrhunderts haben bei vielen Menschen eine zuvor noch nie gekannte Friedensbereitschaft wachgerufen und die Ächtung des Krieges zu einem ethischen Standard gemacht. 

Lernchancen

Krisen enthalten große Lernpotenziale, die nach dem Überstehen der Krisenzeit genutzt werden können. Wir werden uns zwar nie mit den angerichteten Zerstörungen und geopferten Menschenleben abfinden können – die tiefen Spuren des vergossenen Blutes sind unauslöschlich in unser kollektives Gedächtnis eingesunken. Wir können aber unsere Energien darauf bündeln, die Chancen, die in einer überwundenen Krise enthalten, zu nutzen, um die Menschheit zu mehr Menschlichkeit weiterzuentwickeln.

Das Lernen durch die Pandemie

Die Pandemie hat nicht nur bei vielen Menschen und in vielen Bereichen die digitalen Fähigkeiten verbessert, sondern auch neue Einstellungen zur Gesundheit, zum Gesundheitswesen und zu den Gesundheitsberufen hervorgebracht. Es hat sich als gesellschaftlicher Konsens herausgebildet, dass der Wert jedes einzelnen Menschenlebens über betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzenrechnungen und über kapitalistische Gewinnerwartungen gestellt werden muss – oder: Die Ethik ist wichtiger und maßgeblicher als die neoliberale Ideologie.

Klima und Krisenbewusstsein

In Bezug auf die Klimakrise sind wir als Gesellschaft viel zu weit vom Krisenbewusstsein und damit von der Lernzone entfernt. Es braucht offenbar noch mehr und noch schlimmere Katastrophen, damit eine kritische Masse für substantielle Veränderungen entsteht. Viele Menschen sind erst dann bereit, ihr Leben zu verändern und gesellschaftliche und politische Änderungen zu fordern, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht – wie den Menschen in Bangladesch und Pakistan, wenn also die Krise an die eigene Haustüre klopft und sie die Bedrohung hautnah erleben müssen.

Zerstörung und Neubeginn

Krisen haben Ähnlichkeiten mit Geburtsprozessen. Das Alte wird zerstört und muss unwiederbringlich hinter sich gelassen werden. Vom Alten zum Neuen muss bedrohliche eine Krisenphase durchlaufen werden, ohne die das neue Leben nicht gewonnen werden kann. Es kann umgekehrt sein, dass wir Krisen nur deshalb als so belastend erleben, weil wir den krisenhaften Geburtsprozess durchlaufen haben und weil sich unser Unterbewusstsein an all die lebensbedrohlichen Situationen dieses dramatischen Ablaufs erinnert. Jede spätere Krise bringt die Ängste aus den früheren Krisen hoch – und aktiviert das Unterbewusste, noch mehr nach möglichen Gefahrenquellen zu fahnden, auch deshalb sind Theorien, die große Katastrophen ankündigen, bei traumatisierten Menschen besonders beliebt. 

Krisen fordern unsere Anpassungs- und Lernbereitschaft heraus und können, wenn sie zu intensiv erlebt werden (verstärkt durch Vorbelastungen), auch zur Lähmung und Resignation führen. Die Chancen, die in jeder Krise liegen und durch die neue Kräfte mobilisiert werden können, können nur genutzt werden, wenn es gelingt, die Macht der Ängste, die uns blockieren, zu überwinden und den Mut des Neuanfangens zu spüren. 

Krisenresilienz

Krisenresilient können wir nur werden, wenn wir einen stabilen Bezug zur äußeren Realität herstellen und aufrechterhalten können. Auf diese Weise gelingt es uns, die Ängste mit der Realität zu konfrontieren und unsere Handlungsmöglichkeiten nach ihrer Tauglichkeit und Umsetzbarkeit zu bewerten. Wir sollten unsere Befürchtungen durch Vertrauen und unsere Verzweiflung durch Hoffnung ersetzen. Wir sollten uns auf unseren Mut besinnen, der uns schon in vielen Situationen unseres Lebens weitergeholfen hat. Krisen sind Wendepunkte, und wenn wir sie in der richtigen Weise nutzen, können wir gestärkt aus jeder Krise hervorgehen.

Zum Weiterlesen:
Störungen zerstören Illusionen
Die Kraft der Zerstörung
Brauchen wir Krisen, um die globalen Probleme zu lösen?
Krisenängste und ihr Jenseits
Die Corona-Krise als Chance


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