Sonntag, 6. November 2022

Die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen

Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, das zu den Haupterrungenschaften der bürgerlichen Revolutionen zählt und ein wichtiger Bestandteil moderner Demokratien darstellt. Alle wissen es zu schätzen, die in einer Diktatur leben, in der die freie Meinungsäußerung unterdrückt ist und in der man mit Bestrafung rechnen muss, wenn die eigene Meinung nicht den Vorstellungen des Regimes entspricht. 

Wie alle anderen Rechte auch, hat das Recht auf Meinungsfreiheit auch Grenzen, die mit der Integrität der Menschen zu tun hat. Das Äußern der eigenen Meinung kann nicht nur Diktatoren erzürnen, die um ihre Macht zu bangen beginnen, wenn jemand etwas Kritisches oder auch etwas Witziges über sie sagt. Es kann auch jeden Mitmenschen ärgern, verletzen und beleidigen, wenn Meinungen vertreten werden, die die eigene Person herabwürdigen. Denn wir können unsere Meinungen auch als Waffen verwenden, die anderen Personen Leid zufügen. Wir können beispielsweise unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit unseren Wut- und Hassgefühlen Ausdruck verleihen, ohne Rücksicht auf die Betroffenen. 

Worte, ob gesprochen oder geschrieben, haben unter Menschen eine starke Macht. Sie können manipulieren, beleidigen, verletzen und im Extremfall in den Wahnsinn treiben. Deshalb ist eine sorgfältig abgewogene und achtsame Wortwahl eine wichtige Voraussetzung, um an den kommunikativen Abläufen der Zivilgesellschaft konstruktiv teilnehmen zu können.

Bei den Grenzen der Meinungsfreiheit geht es um das liberale Prinzip, dass jedes Freiheitsrecht dort endet, wo das Freiheitsrecht von anderen Personen beginnt. Die Meinungsfreiheit wird missbraucht, sobald die Grenzen anderer Menschen, ihre Integrität und Würde verletzt werden. 

Der Gebrauch der Meinungsfreiheit setzt also zivile Umgangsformen und den grundlegenden Respekt für andere Menschen voraus. Wer dazu nicht in der Lage ist, kann dieses Recht für sich nicht beanspruchen. Meinungsfreiheit gedeiht nur in einem Rahmen der wechselseitigen Achtung und den Grundformen der Höflichkeit, über die sich diese Achtung ausdrückt. 

Verrohung durch soziale Medien

Die sozialen Medien, deren Macht im vorigen Artikel erörtert wurde, haben durch die in ihnen angelegten Möglichkeiten der Anonymisierung in vielen Bereichen zu einer Verrohung der Umgangsformen geführt. Es ist relativ einfach, mit einem anonymen Account die eigenen Hassgefühle beliebig an alle zu verteilen, die einem nicht passen oder die andere Meinungen vertreten. Diese Medien bieten ein einfaches Ventil für das Ablassen aller aufgestauten Gefühle. Die Schamschranke, die im direkten Umgang immer mäßigend wirkt, wird durch die Anonymität, die das Medium bietet, abgeschwächt. Zudem ist es ist relativ schwierig und unwahrscheinlich, für Ehrenbeleidigungen und Rufschädigungen zur Verantwortung gezogen zu werden. Viele Menschen gewinnen aus dieser Rolle des anonymen Angreifers eine Befriedigung durch das Ausleben von Rache- und Machtgefühlen.

Psychologisch betrachtet, stammen solche Hass- und Aggressionsgefühle aus frühen Quellen der Lebensgeschichte. Diese Gefühle können nur in einem therapeutischen Rahmen befriedet werden. Werden sie in sozialen Medien ausagiert, richten sie dort beträchtlichen Schaden nicht nur an den betroffenen Menschen an, sondern schwächen den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt. Außerdem regen andere zum Nachahmen ein, ohne dass Konsequenzen befürchtet werden müssen. 

Demokratiefeindliche Meinungen

Eine weitere Grenze der Meinungsfreiheit muss dort beachtet werden, wo sie dazu benutzt wird, um der Einschränkung oder Abschaffung der Meinungsfreiheit das Wort zu reden. Rechtsgerichtete und rechtsextreme Gruppierungen nutzen die Medien gezielt, um Ängste und Verunsicherungen zu verbreiten und dabei politische Modelle propagieren, die anderslautende Meinungen unterdrücken sollen. In einer Demokratie dürfen alle Meinungen geäußert werden, aber Meinungen, die die Meinungsfreiheit und den demokratischen Grundkonsens untergraben, muss mit der Kraft von Gegenargumenten begegnet  werden. Die Demokratie kann sich nicht mit einer überdehnten Toleranz den Boden unter den Füßen wegziehen lassen.

Dem Plädoyer für die Vergesellschaftung der medialen Schlüsselindustrien wird hier ein Plädoyer für die Erhaltung und Absicherung der Meinungsfreiheit angefügt. Die Meinungsfreiheit kann es jedoch nicht in einem unbegrenzten und absoluten Maß geben, wie das manche einfordern, sondern muss gesamtgesellschaftlichen Anforderungen untergeordnet sein. Medien, die Hassbotschaften nicht zensieren, fördern sie, indem sie Freiräume öffnen, in denen sich jeder austoben kann, ohne Rücksicht auf andere, und damit die Verrohung und Entsolidarisierung vorantreiben. Sie fördern also die Tendenzen zur Atomisierung und zur Auflösung von sozialen Bindungen, wie sie die kapitalistische Wirtschaftsweise von sich aus produziert.  

Entsolidarisierung

Deshalb überantwortet eine Meinungsfreiheit, der keine Schranken auferlegt werden, die soziale Welt dem kapitalistischen Gewinnstreben und Konkurrenzdenken, also der Asozialität, der Gesellschaftsfeindlichkeit und damit der Menschenfeindlichkeit. Das können Einzelne wollen, die sich davon ökonomische oder psychologische Vorteile für sich selbst erhoffen, und dem Vernehmen nach ist das die Richtung, die der neue Eigentümer des Nachrichtendienstes Twitter durchsetzen möchte. Solche Bestrebungen muss aber die Gesellschaft als ganze ablehnen und mit allen Mitteln, die in ihrer Macht liegen, abwenden. Der Kapitalismus sägt an den Wurzeln der Gesellschaft, die er von den nährenden Säften des Bodens, sprich der Lebendigkeit, abschneiden will. Wird er nicht in seine Schranken gewiesen, werden tendenziell die Menschen untereinander zu Feinden. Deshalb ist es die beständige Aufgabe der Zivilgesellschaft, die Auswüchse und das Überhandnehmen dieser Form der Wirtschaftsorganisation einzudämmen und ihm entgegenzuwirken. Sie kann und muss genügend Druck auf den Staat ausüben, damit er seine Macht für die Erhaltung und Stärkung des sozialen Zusammenhalts einsetzt. Wird die Meinungsfreiheit nach kapitalistischen Sichtweisen in den sozialen Medien zugelassen, dient sie blind dieser Entgesellschaftung und Entsolidarisierung. 

Staatliche Organe schützen die Rechte Einzelner gegen den Missbrauch der Meinungsfreiheit. Das ist gut und notwendig, und die entsprechenden Regeln müssen laufend verbessert werden, weil sich die Medien und deren Nutzer schnell ändern. Schwieriger ist es, die schädlichen Wirkungen von sozialen  Medien auf die Atmosphäre und das Klima in der Gesellschaft einzudämmen. Hassbotschaften und Fakenews lösen in der Gesellschaft Verunsicherung und Entsolidarisierung aus und wirken deshalb erodierend auf den sozialen Zusammenhalt. Die Ängste, die oft mutwillig und nicht selten geplant und gezielt gestreut werden, werfen die Menschen auf sich selber zurück, mobilisieren Überlebensstrategien und destabilisieren die Gesellschaft. Es sind starke und vielfältige Gegengewichte notwendig, damit die Meldungen aus solchen Ecken nicht zu dominanten Trends im Diskurs und in der politischen Debatte werden. In diesem Bereich kann und soll der Staat die Aufgabe übernehmen, Medien zu fördern, die sorgfältig recherchieren und extremen Meinungen entgegentreten, und Medien zu kontrollieren, die tendenziell den politischen Diskurs, die Sozialstruktur und die Innenwelt der Menschen zerstören.

Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, das nicht aufs Spiel gesetzt werden darf. Sie ist aber nur insoweit ein hohes Gut, als sie achtungsvoll verwendet wird, unter der Respektierung ethischer Grundsätze. Sie ist eine wichtige Grundlage für unser Zusammenleben in einem demokratischen Staatswesen und als aufgeklärte Zivilgesellschaft, deshalb müssen wir sie und uns vor jeder Form von Missbrauch schützen.

Zum Weiterlesen:
Plädoyer für die Vergesellschaftung der medialen Schlüsselindustrien
Toleranz und ihre zweifache Grenze
Toleranz ist ein relativer Wert


3 Kommentare:

  1. Freie Meinungsäußerung verträgt keine inhaltliche Einschränkung. So ist natürlich mit ihr vereinbar, dass Sie äußern, es dürfe nicht alles geäußert werden. Dass der Holocaust ein grausames Verbrechen war ist in ihr eine genauso legitime Äußerung wie die Ansicht, er hätte nicht stattgefunden. Dass jemandem solche Meinung ganz gegen den Strich geht, widersinning, kontrafaktisch, unerhört erscheint, ist unerheblich. Die Meinung ist frei. Meinungsfreiheit ist Freiheit vom Imperativ. Denn sobald es auch nur eine Einschränkung durch ein „Du darfst nicht sagen…“ gibt, kann sie ihre Wirkung nicht entfalten.

    Natürlich ist Hassrede schwer auszuhalten. Natürlich sind fake news nicht hilfreich. Aber sie sind kein Problem der Meinungsfreiheit. Ihre Ursachen liegen woanders. Sie durch Verbot aus der Welt zu schaffen, führt zu Verdrängung mit allen Folgen. Meinungsfreiheit ist entweder absolut - oder nicht vorhanden. In Deutschland ist sie nicht vorhanden, sondern wird nur beschworen und suggeriert. Denn im Bedarfsfall werden Meinungen per Gesetz od Gruppendruck od Medienhoheit ausgeblendet. Ein „guter Wille“ ist dafür keine Entschuldigung.

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    1. Ich bin auch nicht für Verbote, sondern für die Regelung der Verbreitung. Jeder kann sagen, was er will, was aber gesagt wird, hat auch Konsequenzen. Wenn Hassreden und Fakenews durch die Mechanismen hinter den sozialen Medien eine zusätzliche Verstärkung und Verbreitung erhalten, muss m.E. die Gesellschaft einschreiten, will sie sich nicht selber den Boden unter den Füßen wegziehen lassen.

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  2. Das ist ein wirklich schwieriges Thema.

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