Das Mitleid gilt herkömmlich als Tugend, die der Selbstsucht und Selbstzentriertheit entgegenwirken soll. Als Menschen sind wir grundsätzlich auf soziale Verständigung und sozialen Ausgleich gepolt. Wir sind Gruppenwesen, die ohne die feine Abstimmung und das emotionale Aufeinander-Eingehen nicht überleben könnten. Mitleiden hieße, das Leid einer anderen Person mit ihr zu teilen und ihr damit das Gefühl zu geben, dass sie nicht alleine mit ihrem schlechten Gefühl ist.
Genauer betrachtet, passiert beim Mitleiden nicht die beabsichtigte Grenzüberschreitung ins Leidensland der anderen Person, sondern eine Distanzierung zu ihr. Denn in dem Maß, in dem das Mit-Leiden wächst, wandert die Aufmerksamkeit zum eigenen Leid, das aus der Geschichte aufsteigt. Das Leid, mit dem wir konfrontiert sind, erinnert an eigenes Leid aus der Vergangenheit, und diese reproduzierten Gefühle werden von der Seele wichtiger genommen als das fremde Leid. Ohne es zu merken, schneidet sich die mitleidende Person vom anderen ab und versinkt in der eigenen Leidensgeschichte. Mitleid wird zu Selbstmitleid. Dabei schwinden die Fähigkeiten zu trösten, zu helfen und zu unterstützen, weil sie für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leid gebraucht werden.
Hilfreichen Beistand können wir nur leisten, wenn wir zum Leiden, das vor uns auftaucht, einen angemessenen Abstand haben. Lassen wir das Leid zu nahe an uns ran, dann wächst die Gefahr, dass das eigene Leid aktiviert wird und sich vordrängt, sodass wir erst wieder nur auf uns selbst bezogen sind. Mitleid ist deshalb immer ich-bezogen, obwohl wir meinen, es wäre ein sozialer Akt.
Halten wir andererseits zu viel Distanz, so schotten wir uns ab: Nach außen und nach Innen. Wir kappen die Verbindung zu den anderen Menschen und zu unseren Gefühlen. Folglich fühlt sich die andere Person im Regen stehen gelassen und wir fühlen uns leer, bitter oder hart. Die Verschlossenheit vor dem Leid von anderen wird eben vor allem durch die Angst aufrechterhalten, ins eigene Leid zu kippen, und nicht durch die Sorge, vom Leid des anderen Menschen überwältigt zu werden.
Das weite Feld des Mitgefühls
Zwischen emotionalem Rückzug und Leidensversenkung gibt es allerdings ein breites Feld, auf dem sich das Mitgefühl aufhält. Das Mitgefühl hält die Waage zwischen dem Selbst und dem Anderen, es speist sich aus der eigenen Leidenserfahrung, ohne aber in der eigenen Lebensgeschichte zu regredieren. Es ist umso stärker zugänglich, je mehr Leidensthemen aus der eigenen Lebensgeschichte aufgearbeitet wurden.
Die Fähigkeit, Mitleid und Mitgefühl unterscheiden zu können, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für jede Form von heilender Arbeit mit Menschen. Es kommt hierbei immer zu einer Auseinandersetzung mit Leidenszuständen. Heilung kann aber nur entstehen, wenn die Offenheit und das Empfangen des Leides gegeben werden können, während andererseits das Leid aus der eigenen Geschichte beiseite gestellt wird. Das Mitgefühl erwächst aus einem ressourcenvollen Zustand, nicht aus einem Leidenszustand.
Auch für das Leben und Arbeiten mit Kindern ist die Unterscheidungsfähigkeit zentral, sei es in der Eltern-, in der Kindergärtnerinnen- oder in der Lehrerinnenrolle. Kinder brauchen kein Mitleiden, sondern ein fürsorgliches Mitgefühl. Werden sie zu stark mit Mitleid konfrontiert, so entwickeln sie Schuldgefühle. Sie brauchen Eltern und Erzieher, die mit ihrem Leid soweit im Reinen sind, dass sie es von den Kindern fernhalten können.
Das Wegnehmen des Leids
Eine verbreitete Form, Mitleid zu bekunden, besteht darin, zu erzählen, dass man das Problem, an dem die andere Person leidet, aus der eigenen Erfahrung kennt. Damit soll signalisiert werden, dass diese Form des Leids bekannt ist und dass sich die leidende Person in Gesellschaft Gleichbetroffener befindet, also nicht allein mit ihrem Problem ist. Wenn man sich aber dann in der Schilderung der eigenen Geschichte ergeht, mit der heimlichen und unbewussten Intention, dafür Verständnis und Trost zu bekommen, bleiben Trost und Zuwendung auf der Strecke. Ohne es zu merken, wird der Person deren Leid weggenommen und das eigene in den Mittelpunkt gestellt. Statt Verständnis und Mitgefühl zu zeigen, wird der anderen Person signalisiert, dass ihr Leid weniger wichtiger ist als das eigene.
Solche Strategien entwickeln sich vor allem dann, wenn Eltern ihre Kinder als Empfänger für ihre eigenen Sorgen und Nöte auserkoren haben. Diese Form des emotionalen Missbrauchs wird dann später kompensiert, indem versucht wird, endlich jemanden zu finden, bei dem das eigene Leid verstanden wird.
Die Mitleidskultur
In einem Land, in dem Leiden allgegenwärtig mit dem gekreuzigten Jesus repräsentiert wird, ist es nicht verwunderlich, dass das Mitleiden einen derart breiten Raum einnimmt. Die Darstellung des leidenden Christi soll in das Mysterium um Tod und Auferstehung hineinführen, bleibt aber auf der Stufe des Leids stehen. Der Auferstandene, der den Tod überwunden hat, kommt demgegenüber in der Öffentlichkeit kaum vor. Die Omnipräsenz des Crucifixus, des ans Kreuz Genagelten, suggeriert die Allmacht des Leidens, des Opferseins und der Ohnmacht und fixiert damit ein eindimensionales Menschenbild. Die frohe Botschaft von der Befreiung von allem Leid und aller Sündhaftigkeit wird dagegen einmal jährlich im Ostergottesdienst vor spärlichen Gläubigen verkündet. Suggeriert wird zudem die Mahnung, dass es sich niemand zu gut gehen lassen sollte angesichts des Leidens des Erlösers, an das permanent erinnert wird. Niemand soll auf sein Leid vergessen, auch wenn es immer geringer ist als das des Erlösers. Suggeriert wird schließlich auch die Notwendigkeit des Mit-Leidens mit dem Jesus, der mit schmerzverzerrtem Gesicht dargestellt wird und damit Menschen mit ihrem Leid konfrontiert, außer jene, die sich an den Anblick gewohnt haben oder ihn nicht genau betrachten.
Der Rückgang der Gläubigkeit und der Religionszugehörigkeit in der Gesellschaft kann auch damit zu tun haben, dass diese Suggestion des Leides und der Appell an das Mitleid immer weniger verfängt. Der Einfluss der Aufklärung, der Wissenschaften und der modernen Lebensweise mit ihren vielfältigen Absicherungen hat viele Quellen des Leides stillgelegt. Es gibt noch immer genug Leid auch in den hochentwickelten Gesellschaften, aber der Mitleidskult hat bei vielen Menschen ausgedient. Sie wollen sich nicht vorschreiben lassen, woran sie leiden oder wofür sie Mitleid spüren sollen. Sie suchen sich ihre eigenen Wege zur Sinnfindung und kehren den Kirchen ihren Rücken zu.
Die christliche Tradition enthält auch den Zugang zum Mitgefühl im Sinn der Nächstenliebe und kennt dessen Praxis. Doch werden die Grenzen zwischen Mitgefühl und Mitleid oft schwimmend präsentiert und spiegeln auf diese Weise die gängige Erziehungspraxis wieder, die in vielen Familien vorherrscht. Die klare Unterscheidung zwischen diesen beiden Richtungen hilft auch dabei, das Christentum von Einstellungen zu befreien, die nichts mit der ursprünglichen Botschaft zu tun haben.
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