Freitag, 21. Oktober 2022

Störungen zerstören Illusionen

Störungen sind Ereignisse, die wir nicht voraussehen und die uns aus etwas herausreißen, was uns gerade beschäftigt oder fesselt. Wir lesen eine spannende Passage in einem Roman, und es klingelt an der Tür. Wir haben einen tollen Einfall, das Telefon läutet und die Idee ist weg. Wir sind in ein anregendes Gespräch mit einer Freundin vertieft, und jemand anderer mischt sich lautstark ein. Wir wandern beschaulich durch den Wald und plötzlich hören wir eine Sirene.

Dopamin
Jede Störung, die wir erleben, enthält ein Element der Zerstörung: Es wird der Zustand, in dem wir uns gerade befinden, unterbrochen und verändert. In dem Zustand ist auch eine Erwartung enthalten, die jetzt enttäuscht und damit zerstört wird. Wir müssen unser Inneres umgruppieren und neu aufstellen, damit es adäquat dem veränderten Außen begegnen kann. In unserem Gehirn wird ein Dopamin-Zyklus unterbrochen, und statt des angenehm prickelnden Gefühls herrscht plötzlich Flauheit und Leere. Denn Dopamin ist der Botenstoff,
der unsere positiven und motivierenden Zukunftsabsichten unterstützt und  der ausgeschüttet wird, wenn wir uns im Fluss befinden und daraus eine positive Zukunftserwartung aufbauen.

Erwartungssteuerung

Wir sind Gewohnheitstiere und stark von unseren Erwartungen gesteuert. Jede Überraschung wirft uns aus der Bahn, genauer gesagt, aus den Schienen, die wir uns selber mit unserer Fantasie in die Zukunft hinein gelegt haben. Manche Überraschungen überwältigen uns mit Euphorie, wie der berühmte Lottogewinn oder ein unerwartetes Liebesgeständnis, und manche mit Frustration, wie z.B. wenn sich der Lottogewinn als Irrtum herausstellt oder wir erkennen, dass das Liebesgeständnis nicht ernst gemeint war. 

Vor allem in den letzteren Fällen fühlen wir uns von der Realität gestört, die unsere Absichten und Pläne nicht beachtet, und wir kommen dabei zur Annahme, dass sie uns einfach ignoriert. Das Fantasieszenario, das in unserem Kopf entstanden ist, hat sich so fest etabliert, dass sofort ein Leidenszustand entsteht, wenn die Fantasie von der Wirklichkeit zerstört wird. Wir leiden am Festhalten und an unserer Sturheit, und nicht an der widerborstigen Realität. Denn die Quelle unseres Leidens ist in unserem Inneren, und das Außen liefert nur den Anlass. Aber diese Erkenntnis fällt uns bestenfalls später ein.

Die Zerstörung von Fantasien

Den organischen Hintergrund von solchen Minikrisen könnte der plötzliche Dopaminabsturz bilden. Wir stellen uns vor, wie wir im strahlenden Sonnenschein wandern, und tatsächlich beginnt es zu regnen, als wir aus dem Haus treten. Die Stimmung fällt, die Frustration steigt. Wir ärgern uns und schimpfen auf das unzuverlässige Wetter. 

Wir tun dabei so, als wären wir die Herren oder Herrinnen der Wirklichkeit und als hätte sie uns einen bösen Streich gespielt. In der Frustration sind wir nicht nur traurig (wir müssen Abschied nehmen von einer Erwartung), sondern auch zornig (wir sind sauer, weil sich die Umwelt nicht nach unseren Erwartungen richtet, sondern sie einfach ohne jeden Federlesens zerstört) und irritiert, weil unsere Pläne vereitelt wurden. 

Es ist natürlich nur unser Fantasiegebilde, das zerstört wird, aber das ist unsere aktuelle innere Realität, die voll präsent ist und uns als ähnlich mächtig erscheint wie die äußere. In solchen Momenten sind wir von diesen Fantasien beherrscht, und unser inneres Gleichgewicht hängt an ihnen und an ihrer Verwirklichung. 

Enttäuschende Mitmenschen

Auch mit Mitmenschen gehen wir so um: Wer unsere Erwartungen erfüllt, ist gut, wer nicht, den mögen wir gleich nicht. Wir teilen die anderen in diese zwei Gruppen ein: Die verlässlichen und die unzuverlässigen, also diejenigen, die unsere Erwartungen erfüllen, und diejenigen, die sie enttäuschen. Die einen schätzen wir, die anderen lehnen wir ab. In Beziehungen, in den wir fix gebunden sind, wechseln sich diese Kategorisierungen oft schnell ab. In diesen Konstellationen fallen uns enttäuschte Erwartungen besonders stark auf, denn je enger die Beziehung, desto höher ist die emotionale Ladung, die in die fantasierten Erwartungen investiert wird.  

Im Grund befinden wir uns auf einer frühen Stufe der Innenentwicklung, wenn wir auf diese Weise reagieren. Für Kinder ist die Fantasie so präsent wie die Realität, und durch ihre rechtshemisphärische Dominanz wird ihr ein bedeutender Rang eingeräumt, sodass die Unterschiede zur äußeren Realität fließend sind. Deshalb fällt es ihnen schwer, sich umzustellen, wenn sie schon bestimmte Absichten oder Pläne entwickelt haben. Andererseits hält ihre Frustration nur kurz an, sie können sich meist schnell umstellen und unterscheiden sich in diesem Punkt von vielen Erwachsenen.

Störungstoleranz

Wie können wir mehr Störungstoleranz erlernen, sodass wir unser inneres Gleichgewicht nicht verlieren, wenn wir in unseren Erwartungen enttäuscht werden? Wie können wir mehr Flexibilität entwickeln? Wir können uns bewusst machen, dass Störungen nur Illusionen zerstören, die wir uns aufgebaut haben, damit wir eine Übersicht über die Zukunft haben und unsere Handlungen planen können. Gelingt es uns, Störungen als Überraschungen zu erleben, als Gelegenheiten zum Verändern und Umstrukturieren, so wird es uns leichter fallen, die Erwartungen gehen zu lassen, die wir aufgebaut haben, und das Gute an der neuen Richtung, die die Realität genommen hat, zu erkennen. 

In vielen Religionen ist diese Form der Lebenskunst Teil der Lehre. Im Buddhismus heißt es, dass alles in Veränderung ist und nichts Dauer hat. Es gibt nichts Festes, sondern nur Bewegtes. Was uns unglücklich macht und Leiden bewirkt, ist das Anklammern an dem, was wir haben, und die Weigerung, zu akzeptieren, was sich ändert oder verschwindet. Im Christentum wird davon gesprochen, dass Leben der Menschen immer in Gottes Hand ist. Es liegt nicht in unserer Macht, unser Schicksal in allen Belangen nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Wenn wir dem Leben vorschreiben wollen, wie es zu sein hat, dann erheben wir gottähnliche Machtansprüche, an denen wir nur scheitern können.  


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