Wir leben in Krisenzeiten, hört man oft. Wann nicht, könnte man fragen, wenn man schon einige Jahrzehnte am Buckel hat. Aber die Pandemiezeit und der Ukrainekrieg haben das Krisenbewusstsein in unseren Breiten enorm verstärkt. Die Wetteranomalitäten konfrontieren hautnahe mit dem Klimawandel, von dem Wissenschaftler und Aktivisten seit Jahrzehnten warnen. Das Gefühl, die Entwicklungen nicht mehr unter Kontrolle zu haben, haben wir viel stärker als je zuvor. Daran zeigt sich auch unsere privilegierte Position, da wir in den reichsten und sichersten Ländern der Welt leben und seit dem 2. Weltkrieg das Krisenbewusstsein weitgehend von unseren Lebensräumen fern halten konnten. Alle, die im ex-jugoslawischen Raum leben oder gelebt haben, sehen das naturgemäß anders, ebenso jene, die aus anderen Kriegsgebieten flüchten mussten oder flüchten müssen. Menschen, die in Dürre- und Hungerzonen leben und ihr Überleben von Tag zu Tag sichern müssen, kennen nicht einmal eine Alternative zur Krise, die ihr Leben ausfüllt.
Das Bewusstsein, in einer Krisenzeit zu leben, verunsichert
und bereitet Ängste und Sorgen, erzeugt also Stress. Es fördert den
gesellschaftlichen Zusammenhalt nur, wenn aus der Krise eine Katastrophe wird,
wenn z.B. ein Krieg ins eigene Land überschwappt oder wenn ein Dorf von
Unwettern weggeschwemmt wird. Ängste mobilisieren egoistische
Überlebensstrategien, die Bestrebungen, die eigene Haut zu retten. Wohin könnte
ich auswandern, um den Klimaveränderungen zu entgehen und vor Kriegen und
Seuchen sicher zu sein? Wo kann ich einen sicheren Ort finden, ohne dass die
anderen davon wissen? Welchen Urlaub muss ich mir noch gönnen, bevor das Reisen
nicht mehr möglich ist? Wie kann ich meine Schäfchen ins Trockene bringen,
bevor das Finanzsystem zusammenbricht?
Angst als Veränderungsmotor
Die von Ängsten gesteuerte Reaktion auf Krisen ist die am
weitesten verbreitetste. Sie ist aber auch die primitivste. Sie steht im Bann
des Wiederholungszwanges von schon früh erlebten Traumatisierungen oder von
kollektiven Traumen, die sich in tiefen Schichten der Seele festgesetzt haben. Deshalb
ist die verbreitete Reaktion auf Krisen zunächst die Verleugnung („Das hat
nichts mit mir zu tun.“ „Das ist alles übertrieben.“ „Da stecken ganz andere
Interessen dahinter.“ „Das geht alles wieder vorüber.“ usw.). Mit
Beschwichtigungen soll die Angst beruhigt werden, damit das Leben in den
gewohnten Bahnen weiter verlaufen kann.
Erst wenn einem die Krise auf den eigenen Pelz rückt, wenn
Leute in der Umgebung an einer Seuche versterben, Verwandte zu Kriegsopfern
werden oder durch die Hitze getötet werden, wenn das eigene Haus weggeschwemmt
wird, entsteht der Impuls zum Handeln und zur Änderung von Gewohnheiten. Es
handelt sich dabei um ein reaktives Handlungsmuster: Es wird erst dann etwas
getan, wenn das Wasser bis zum Hals steht, wenn die Krise so augenfällig ist,
dass sie unmittelbar das eigene Leben betrifft. Solange sich die Katastrophen
irgendwo anders ereignen, kann man ein wenig Mitgefühl aufbringen und ansonsten
die Hände in den Schoß legen.
Deshalb entsteht der Eindruck, dass Menschen nur durch
Krisen auf dieser Ebene lernfähig sind. Erst wenn man einen Hitzekollaps
erlitten hat, überlegt man, was man selber tun könnte, um die Krise zu bekämpfen.
Erst wenn der Öl- und Gaspreis rasant nach oben geht, denkt man daran, wie man
fossile Brennstoffe einsparen könnte.
Diese reaktive Orientierung hat sich bei vielen Problemlagen
bewährt. Sie ist aber für große Krisen viel zu schwach und nicht geeignet,
nachhaltige Richtungsänderungen zu bewirken. Denn sie schwenkt sofort in alte
Muster zurück, wenn sich die Bedingungen ändern: Gehen die Energiepreise wieder
nach unten, wird weiter konsumiert, als wäre nichts gewesen. Wenn die Infektionszahlen
runtergehen, werden sofort alle Vorsichtsmaßnahmen über Bord geworfen. Wenn der
Krieg vorbei ist, geht es darum, die Geschäfte mit allen Beteiligten möglichst
schnell zu reaktivieren.
Global denken und handeln
Wir brauchen also eine andere Ausrichtung, wenn wir mit den
großen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, zurechtkommen wollen – was wir
in Wirklichkeit müssen, weil nicht nur die Qualität unseres Weiterlebens,
sondern unsere Existenz als Individuen und als Menschengattung auf dem Spiel
steht. Wir müssen uns der systemischen Vernunft bedienen, d.h. einen wichtigen
Schritt in der Evolution des Bewusstseins vollziehen, vor allem in Hinblick auf
die Krisenphänomene. Das systemische Bewusstsein führt uns heraus aus der
Selbstbezogenheit, aus den individuellen und kollektiven Egoismen. Es ist
getragen von der Einsicht, dass die großen Probleme nur durch globale
Zusammenarbeit gelöst werden können, zu der möglichst viele Menschen durch ihr
Wollen und ihren Einsatz beitragen. Wir kennen diese Art des Denkens und des
aus ihr abgeleiteten Handelns, doch wenden es noch viel zu wenige Menschen an.
Es sind wiederum Ängste, die davon abhalten, das, was eigentlich als vernünftig
erkannt ist, in das Tun zu übersetzen. Ängste zwingen uns, am Gewohnten
festzuhalten und erst zu handeln, wenn die Bedrohung unübersehbar ist. Ängste
zwingen uns zu Reaktivität. Alles, was von einer Angst angetrieben ist, hält
nur kurzfristig an, denn Ängste konsumieren viel Energie, sodass sehr bald die
Erschöpfung auftritt und damit die alten Muster zurückkehren.
Wir müssen also unsere Ängste überwinden, wenn wir unser
Handeln proaktiv leiten, indem wir uns nicht von äußerem Druck motivieren
lassen, sondern von unserer Einsicht und unserem Wollen. Wir verzichten auf
Annehmlichkeiten oder Bequemlichkeiten, auf Konsumgewohnheiten nicht, weil es
nicht anders geht, sondern weil uns die Lösung globaler Probleme wichtiger ist
als die Befriedigung von Luxusbedürfnissen.
Was wir also aus den gegenwärtigen Krisen lernen können, ist
die Wichtigkeit, unsere Motivations- und Handlungsmuster zu verändern. Wir können
unseren Blick weiten und ein globales Bewusstsein entwickeln, das unsere
Handlungen danach ausrichtet, wie es im Blick auf die gesamte Menschheit und
ihre Zukunft am sinnvollsten, nutzbringendsten und hilfreichsten ist, bzw. wie
es am wenigsten Schaden anrichtet. Und wir können andere motivieren, ebenso
über ihre Eigeninteressen hinaus zu blicken, und laden auf diese Weise mehr und
mehr Menschen ins systemische Bewusstsein ein.
Die Grundzüge dieser Bewusstseinsform sind einfach dargestellt.
Wir berücksichtigen unsere eigenen Bedürfnisse und Wünsche, nehmen sie aber
nicht als oberste Richtschnur für unsere Entscheidungen. Vielmehr achten wir
darauf, möglichst viele andere Interessen mitzubedenken, soweit sie global
ausgerichtet sind. Wir agieren aus einem Verständnis der geteilten
Verantwortung, im Prinzip mit allen Menschen und sogar allen Lebewesen. Wir
tragen unseren Teil dieser Verantwortung so gut es uns möglich ist und bemühen
uns darum, in dieser Fähigkeit zu wachsen. Wir nutzen Krisen als Chance zur
Weiterentwicklung, brauchen aber keine Krisen dafür, sondern sind von der
Überzeugung getragen, dass das Leben an sich Weiterentwicklung und permanente
Veränderung ist. Wir versuchen, diesen Entwicklungs- und Veränderungsprozessen
eine Richtung zu geben, die dem Überleben der Menschheit in sozial
ausgeglichener, gesunder und friedlicher Weise am besten dient.
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