Kollektive Traumatisierungen führen zu kollektiven Reaktionsbildungen. Es handelt sich dabei um Versuche des Unbewussten, den Schaden, der durch die Traumatisierung entstanden ist, durch die Umkehr ins Gegenteil wettzumachen. Der aus der Psychologie und Psychoanalyse geläufige Abwehrmechanismus tritt nicht nur bei Individuen auf, sondern zeigt sich auch in kollektiven Bewegungen.
Reaktionsbildung im Patriarchalismus
Hier ein Beispiel zur kollektiven Traumatisierung durch den Patriarchalismus. Eine Frau aus Skandinavien berichtet, dass in ihren Ländern schon früh die Gleichberechtigung der Geschlechter ausgerufen wurde und zu entsprechenden gesetzlichen Veränderungen geführt hat. Doch die Reaktion der Frauen war es nicht, sich mehr ihrer Weiblichkeit bewusst zu werden, sondern mit den Männern in deren bisherigen Dämonen in Konkurrenz zu treten und dort „ihren Mann“ zu stehen. Sie begannen, sich männlicher zu kleiden, bevorzugten den Kurzhaarschnitt und kamen in vielen beruflichen Bereichen weiter, die früher Männern vorbehalten waren. Erst langsam wurde der Frau bewusst, wie sehr sie sich in diesem Trend, der sich so selbstverständlich etabliert hatte, immer mehr dem männlichen Rollenbild annäherte, so als wäre es das Ideal, dem es nachzueifern gelte. Im Prozess der langjährigen Selbsterforschung entdeckte sie mehr und mehr ihre eigene Weiblichkeit und konnte sie zunehmend in ihr Selbstbild übernehmen und in ihrem Leben verwirklichen.
Die Erzählung zeigt also, dass ein unmittelbarer Ausweg aus einer traumatisierenden Situation darin besteht, sich mit den Tätern zu identifizieren und sie nachzuahmen, mit der unbewussten Annahme, dass dadurch ein Schutz vor neuerlicher Traumatisierung gewährleistet sei. Das Motto lautet: Bin ich so stark oder mächtig wie die, die mich unterdrücken, kann mich nie jemand mehr unterdrücken. Ich bin sicher, wenn ich mich so verhalte wie die Täter, die mich in die Opferrolle gebracht haben. Die Identifikation mit dem Aggressor oder dem Unterdrücker bietet einen Ausweg aus der Opferrolle. Die Kraft, die daraus gewonnen wird, ist nicht die eigene, vielmehr ist sie geborgt von der Täterperson, bzw. von der Fantasie über diese Person. Geht es um kollektive Traumatisierungen, so sind es Tätergruppen oder –schichten, mit denen die Identifikation gesucht wird. Die scheinbare Umkehr ins Gegenteil entpuppt sich als Vermehrung des Gleichen. Der scheinbare Ausweg aus der Traumafalle wird zu ihrer Bestätigung.
Die 68er-Bewegung und die Gewalt
Ein weiteres Beispiel für diesen Zusammenhang liefert die sogenannte 68er-Bewegung, die auch als Studentenrevolte bezeichnet wird. Wir können sie als Reaktion auf die unbewältigte Nazi- und Kriegszeit verstehen. Die massive Traumabelastung der Generation der Mittäter und Mitläufer drängte in einer Generation an die Oberfläche, die in Sicherheit und Wohlstand aufgewachsen war. Sie konnte es sich erlauben, das Verdrängte zu einem Teil hochkommen zu lassen. Es wurde die vorige Generation für ihre Fehler und ihr moralisches Versagen angeklagt und ihren Mängeln eine Utopie entgegengestellt, in der Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit verschwunden sein sollten.
Das bestehende Herrschaftssystem wurde in wesentlichen Elementen als das Weiterbestehen von nationalsozialistischen oder faschistischen Herrschaftsformen betrachtet, ausgerüstet mit einem hohen Maß an struktureller Gewalt. Daraus wurde von manchen Vertretern der Studentenbewegung die Schlussfolgerung gezogen, dass ein Gewaltapparat nur mit Gewalt beseitigt werden könnte. In der Folge kam es zu linksradikalen Terroranschlägen und Attentaten.
Die harmlosere Version dieser Reaktion aus dem verdrängten kollektiven Trauma äußerte sich in der theoretischen Beschäftigung mit dem Marxismus, der als Universalschlüssel zum Sturz des kapitalistischen Systems betrachtet wurde. Dieser Ansatz enthält neben vielen Einsichten in die Funktionsweise des Kapitalismus auch Gewaltelemente, mit der Auffassung, dass der Weg vom Kapitalismus zum Kommunismus nur über eine gewaltsame Revolution möglich wäre.
Die unbearbeiteten Gewalterfahrungen der Elterngeneration, sowohl als Täter wie als Opfer, werden auf die nächste Generation übertragen und von ihr übernommen. Sie macht sich zwar die ursprünglichen Gewaltzusammenhänge bewusst, aber nicht die eigene Reaktion darauf und deren Implikationen. So verwundert es nicht, dass andere Formen von Gewalt gerechtfertigt werden. Beides wird aus Ohnmachtserfahrungen der Opferrolle gespeist: Die Ohnmacht der Eltern gegen ein unterdrückerisches Herrschaftssystem und die Ohnmacht gegen ein strukturell gewaltsames Wirtschaftssystem. Scheinbar erlaubt die Opferrolle, sich in die Täterrolle zu begeben oder erzwingt diesen Schritt geradezu, mit dem Anspruch auf eine kollektive Befreiung. Der Täter fühlt sich einer gerechten Sache verpflichtet und ist stolz, nicht, wie die Eltern, für faschistische Werte, sondern für das Wohl der ganzen Menschheit zu kämpfen.
Gewalt wird weitergegeben, solange die Traumen nicht aufgelöst sind.
So lange die Ängste, Schmerzen und Schamgefühle aus der Traumaerfahrung individuell und kollektiv nicht aufgearbeitet sind, entstehen nur neuerliche Auflagen der früheren Gewalterfahrungen. Es ändern sich die Vorzeichen, aber nicht die Prozesse und Abläufe.
Die Sackgasse linksradikaler Gewalt ist mittlerweile verstanden worden, die Hoffnungen auf eine Revolution im marxistischen Sinn sind insbesondere nach dem Zusammenbruch des “real existierenden Sozialismus” in Osteuropa geschwunden.
Verharmlosung der Traumalast
Einfacher sind die Zusammenhänge bei der gewaltbereiten rechtsradikalen Szene, die immer wieder Zulauf erhält und in vielen Ländern aktiv ist. Auch hier kommt es zur Identifikation mit dem Aggressor, der als Vorbild genommen wird. Die Problemlösung mittels Gewalt wird von aktuellen oder früheren Regimen bruchlos übernommen. Auch hier wird der Wechsel in die Täterrolle aus der Erfahrung der Opferrolle in einer ungerechten oder unmenschlichen Gesellschaft gerechtfertigt. Die kollektive Traumabelastung wird nicht reflektiert, sondern verharmlost oder verherrlicht. Auf diese Weise wird ein Selbstverständnis aufgebaut, das der Gewalt einen notwendigen Platz einräumt und die zurechtgebogene Vergangenheit als Rechtfertigung nutzt. Es wird nichts ins Gegenteil verkehrt, sondern das Handeln erfolgt aus der scheinbaren Vollstreckung des generationalen Erbes. Die Traumalast kann deshalb so ungehindert weitergegeben werden, weil sie in voller Verdrängung verschlossen bleibt und von dort aus ungehindert wirken kann.
Individuelle und kollektive Traumalösung
Wie diese Beispiele zeigen, kann die Kette der Weitergabe von Traumatisierungen von Generation zu Generation nicht durchbrochen werden, wenn die Triebkräfte und Dynamiken nur zum Teil bewusst gemacht werden, ohne dass die Wirkungen auf die eigene Person erkannt werden. Die fragmentarische Anerkennung eines kollektiven Traumas führt zu seiner Wiederholung, ähnlich wie bei seiner völligen Leugnung oder Verdrängung, mit dem Unterschied, dass es leichter geht, von einer fragmentarischen zu einer umfassenden Anerkennung zu gelangen als von seiner konsequenten Verleugnung.
Die Lösung aus den Fesseln von kollektiven Traumatisierungen und die Überwindung von den reaktiven Erlebens- und Verhaltensweisen, die davon ausgehen, gelingt auf der individuellen Ebene nur durch das Aufarbeiten aller Angst-, Schmerz- und Schamgefühle, die mit den Traumen abgespeichert sind. Auf der kollektiven Ebene ist die sorgfältige und ideologiefreie Aufarbeitung und Rekonstruktion der historischen Vorgänge wichtig. Sie bildet die Basis dafür, dass das Anerkennen dessen, was an Schlimmem und Grausamem passiert ist, in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird. Auf diese Weise kommt immer mehr Licht in die Zusammenhänge und wirkt auch auf die allgemeine Wahrnehmung und auf die schulischen Bildungsprozesse. Ideologien werden durch reflektiertes Wissen und abwehrbefreites Schauen auf das Schreckliche und Traurige der Vergangenheit ersetzt. Auf diese Weise löst sich der Bann historischer Traumatisierungen, die bisher im Kollektiv verdrängt waren.
Zum Weiterlesen:
Kollektive Traumen und ihre Folgen
Kollektive Traumen hinter dem Angriff auf die Ukraine
Die kollektiven Traumatisierungen durch den Kapitalismus
Rechtsextremismus und die Täter-Opfer-Umkehr
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