Samstag, 17. Dezember 2022

Die Freudenscham

Es gibt sie, obwohl das Wort sehr seltsam klingt: Die Freudenscham. Freude und Scham haben ja so gar nichts miteinander zu tun: Wenn wir uns schämen, sind wir weit weg von der Freude; wenn wir uns freuen, plagt uns keine Scham. Dennoch gibt es das Phänomen, dass auf das Erleben von Freude die Scham folgt. Eine Klientin berichtet: „Neulich habe ich ohne jeden Grund Freude empfunden. Da habe ich mir gleich gedacht, mit mir stimmt etwas nicht.“ Die Annahme ist, dass Freude nur dann normal und berechtigt ist, wenn es einen Anlass gibt. Wir dürfen uns freuen, wenn wir einen Grund für unsere Freude benennen können, sonst könnte es sein, dass wir nicht ganz richtig sind im Kopf. 

Ein anderes Beispiel: Freude empfinden, wenn es anderen schlecht geht. Natürlich ist es eine unsoziale Reaktion, wenn wir uns über das Leid anderer Menschen freuen. Aber müssen wir selber leiden, wenn andere leiden? Müssen wir mitleiden, um als liebevolle Mitmenschen zu gelten? Sind wir unsolidarisch, wenn wir nicht ins Leid der Mitmenschen hineinkippen? Das Leid von anderen Menschen sollte uns nicht egal sein, aber wir müssen es nicht übernehmen, im Gegenteil, wir können besser für eine leidende Person da sein, wenn es uns selber gut geht. Wir müssen unseren Zustand nicht für den Zustand anderer Menschen opfern, sondern haben uns selber gegenüber das Recht und sogar die Pflicht, in guter Energie zu bleiben, wenn sie uns gerade geschenkt wurde, gleich, wie es jemand anderen geht.  

Der Zwang zum Verzicht auf die eigene Freude ist erlernt. Es kommt immer wieder vor, dass trübsinnige oder schwer belastete Eltern ihren Kindern die Freude austreiben. Entweder verbieten sie den Kindern, ihrer Lebensfreude Ausdruck zu verleihen, oder sie reagieren nicht oder missmutig auf Freudenkundgebungen der Kinder. So oder so verlieren die Kinder den Spaß an ihrer Freude und entwickeln ein schlechtes Gewissen, wenn es ihnen gut geht. Sie erlernen, mit den leidenden Eltern zu leiden und die eigenen Wohlgefühle zu unterdrücken. Freude darf es nur geben, wenn sich auch die Eltern freuen, sonst ist sie eine Fehlreaktion, die unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen kann. In diesem unbewusst ablaufenden Lernprozess wird die Scham der Freude vorgeordnet, sodass sie sich sogleich meldet, wenn ein Impuls zur Freude hochkommt. 

Es ist also die Scham, die uns unsere Freude verleidet und uns zum Mitleiden drängt. Wir glauben, dass wir der leidenden Person unser eigenes schlechtes Gefühl schulden. Also kippen wir ins Leid dieses Menschen. Die Identifikation mit dem Leid von Mitmenschen bedeutet, dass wir uns selber untreu werden, was wiederum eine Schamreaktion zur Folge hat. Wir haben uns also selber in eine Schamfalle manövriert. Lassen wir es uns gut gehen, obwohl es jemand anderen schlecht geht, schämen wir uns. Leiden wir mit der anderen Person mit, schämen wir uns auch. 

Der Ausweg aus der Falle zeigt sich, sobald wir unser Augenmerk auf die Ursprünge des Anspruchs, mitleiden zu müssen, richten. Es handelt sich dabei nicht um eine spontane, sondern um eine erlernte oder konditionierte Reaktion. In unserem Umfeld als Kind waren Leidenszustände besonders präsent, von einem Elternteil, einem Geschwister oder einem nahen Verwandten; manchmal handelt es sich um ein Leid, das in einer noch früheren Generation entstanden ist und wie ein schwerer Schatten über der Familie liegt. In solchen Fällen geschieht das Aufwachsen in einer gedrückten Atmosphäre, in der die Freude verpönt ist. Wer sich freut, vergisst oder ignoriert das Leid, das so zentral beachtet werden muss und gewissermaßen den Kitt der Familie ausmacht.  

Die Präsenz des Leidens kann sich in zweierlei Weise zeigen: entweder daran, dass dauernd darüber geredet wird oder dass es völlig verschwiegen wird und aus dem Unterbewussten heraus wirksam ist. Kleine Kinder sind sensibel für alles, was es an unbewussten Abläufen in der Familie gibt, und sie reagieren darauf, indem sie sich anpassen. Die Freudenscham ist eine solche Anpassungsstrategie, mit der die eigene Lebensfreude in ihrer Spontaneität verschwindet und zu einem ambivalenten Gefühl wird.  

Die Freude über und am Leben ist ein natürlicher Zustand, der uns auf allen Ebenen unseres Seins guttut, körperlich, seelisch, geistig. Dass wir uns das Geburtsrecht auf unsere Fröhlichkeit, Leichtigkeit und auf unseren unbeschwerten Lebensgenuss zurückholen, ist das Beste, was wir uns selber gönnen können und sollten. Dazu müssen wir uns lossagen von den Schamfallen, die um diese Gefühle herum entstanden sind und uns unser Geburtsrecht auf die unbeschwerte Lebensfreude zurückholen. 

Zum Weiterlesen:
Mitgefühl und Mitleid: Eine wichtige Unterscheidung
Das Mitgefühl zwischen Helfersyndrom und Gleichgültigkeit 
Gibt es Grenzen des Mitgefühls?
Mitgefühl hat keine Grenzen
Mitgefühl mit uns selbst
Das Mitgefühl und das schlechte Gewissen


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen