Suchterzeugende Medien
Dass die Nutzung von sozialen Medien zur Sucht ausarten kann, wird uns immer bewusster. Es geht hier um fremdgesteuerte Dopaminzyklen, mit denen die User bei Stange gehalten, sprich zur permanenten Dauernutzung der Medien konditioniert werden. Die Programme sollen uns mit an- und aufregenden Kicks versorgen, die die Langeweile vertreiben und die Stimmung heben. So scrollen wir gespannt von Bild zu Bild, von App zu App, stets auf der Suche nach etwas besonders Aufregendem, ohne jemals bei der ersehnten Befriedigung anzukommen.
Die Süchte, die auf diese Weise entstehen, sind keineswegs harmlos, sondern können zu drastischen Auswirkungen auf die betroffenen Personen führen. Die Zahl der Kinder, die am Aufmerksamkeitsdefizit leiden, steigt seit 2005, also seit der Einführung der Smartphones massiv an. Dazu kommt die Anforderung, gleichzeitig mehrere unterschiedliche Informationskanäle zu kontrollieren, die jedem Gehirn enorm viel Energie abverlangt, ohne dass es entsprechende Erholungszeiten gibt, weil die spannungsgeladenen Suchtvorgänge in den Schlaf hineinwirken oder zu verkürzten Schlafzeiten führen. Gleichzeitig gibt es da immer noch die äußere Realität, auf die geachtet werden muss (z.B. müssen wir einem entgegenkommenden Fußgänger Platz machen, während der Blick durch das Smartphone gebannt ist). Die Folgen sind höhere Fehleranfälligkeit, Gedächtnisschwächen und verringerte Kreativität. Das Gehirn befindet sich gewissermaßen in einem Dauerstress und wird süchtig danach. Jede Beschäftigung der Aufmerksamkeit wird vom nächsten Reiz unterbrochen, sodass keine Gefühle für Kontinuität zustande kommen können.
„Wir sind keine Kunden von Apps wie TikTok, Facebook, Twitter, unsere Aufmerksamkeit ist das Produkt, das die Unternehmen an die echten Kunden, die Werbetreibenden, verkaufen.“ (Johann Hari, Medienforscher und Autor des Buches „Stolen Focus“ im Falter 42/22, S. 26) Je mehr Menschen süchtig gemacht werden können, desto mehr Geld wird in die Kassen der Medienbetreiber gespült.
Es ist eine Tatsache, dass Menschen länger auf Dinge schauen, die sie aufregen, als auf jene, die sie glücklich machen (negativity bias). Daraus folgt, dass die Medien jene Leute belohnen, die schockierende, angstmachende und beschämende Inhalte verbreiten: Solche Nachrichten werden öfter geteilt und länger konsumiert. Damit haben die menschenfeindlichen oder menschenverachtenden Triebkräfte der Leute einen mächtigen Verstärker auf ihrer Seite. Solche Meinungen und Sichtweisen werden tendenziell höher belohnt als menschenfreundliche.
Suchtbekämpfung als öffentlicher Auftrag
Die Suchtprävention ist nicht nur eine private Herausforderung, sondern auch Teil der staatlichen Aufgabe, die darin besteht, Menschen vor Gefahren zu schützen, vor denen sie sich selber nicht oder nur mangelhaft schützen können. Es handelt sich in diesem Fall um Gefahren, die nicht direkt wahrnehmbar sind, sondern sich im Anschein eines harmlosen Zeitvertreibs verstecken. Sie wirken aber auf Körper und Psyche mit weitreichenden schädigenden Folgen. Ebenso wenig wie Staaten nicht zulassen können, dass ihre Bevölkerung dem Opium oder anderen suchterzeugenden Drogen verfällt, müssten sie auch verhindern, dass raffiniert manipulative Medienmaschinen die Gehirne der Menschen in Besitz nehmen und sie zu emotionalen und sozialen Krüppeln machen.
Die sozialen Medien befinden sich im Privatbesitz und stellen eigene, in sich weitgehend autonome Wirtschaftsbetriebe dar, die gewinnorientiert arbeiten. Das Suchtmodell ist der beste Garant für steigende Werbeeinnahmen und Unternehmensgewinne. Es wird deshalb immer weiter ausgebaut und verfeinert. Vonseiten der Betreiber ist es logisch, möglichst viele Menschen süchtig zu machen, denn je stärker die Sucht verbreitet ist, desto stärker sprudeln die Gewinne. Indem die Leute vermehrt das Medium konsumieren und mit eigenen Inhalten füttern, agieren sie als nützliche Idioten, die sich freiwillig vor den Karren der Medienbetreiber spannen lassen. Es ist die Logik des Kapitalismus, der sie unterliegen und durch die sie sich ausbeuten und abhängig machen lassen, ohne es zu merken.
Für diese Logik wird riskiert, auf einer riesigen und fortlaufend wachsenden Basis Menschen zu infantilisieren und in Konsumidioten zu verwandeln, die hilflos ihrer Sucht ausgeliefert sind. Die Folgen für die mentale und emotionale Gesundheit der Menschen haben die Medien und ihre Eigentümer nicht zu tragen, für sie ist natürlich die Allgemeinheit zuständig. Die Privaten streichen die Gewinne ein, die öffentliche Hand kommt für die Schäden auf, das ist ein beliebtes Modell, das im Rahmen eines ungeregelten Kapitalismus gut gedeiht.
Immer wenn massiv wirksame Suchtformen in der Geschichte aufgetreten sind, haben sich Regierungen eingeschaltet, um die Schäden einzudämmen. In der gegenwärtigen Situation ist es dringlich erforderlich, dass die Medien mit ihren massiven Zugriffsmöglichkeiten auf das Bewusstsein der Individuen unter staatliche Kontrolle gestellt werden. Da die Medien zugleich auch eine wichtige Rolle in der Informationsbereitstellung und Kommunikation leisten, hätte ein Verbot oder die Abschaffung keinen Sinn. Vielmehr sollten sie dem kapitalistischen Gewinnzwang entzogen und dem Gemeinwohl untergeordnet werden.
Die Untätigkeit der staatlichen Organe in diesem Bereich hinzunehmen, ist so, als würde man argumentieren, dass der Opium- oder Heroingebrauch einerseits der individuellen Verantwortung unterliegt und andererseits ein privatwirtschaftliches Geschäftsgebaren ist, in das sich der Staat nicht einmischen soll. Jeder soll nach seiner Fasson süchtig werden, und jeder Drogenproduzent oder -dealer soll seinem Geschäft im Rahmen der freien Marktwirtschaft ungehindert nachgehen können. Die meisten Staaten messen zwar in diesem Bereich mit unterschiedlichen Maßstäben, weil z.B. der Drogenvertrieb unter Strafe gestellt ist, der Alkoholvertrieb aber nicht. Aber diese Inkonsequenz enthebt sie nicht der Pflicht, dort regulierend einzugreifen, wo systematisch und raffiniert die Schwächen der Individuen, und hier vor allem der Kinder und Jugendlichen ausgenutzt werden, um sich an ihnen zu bereichern und die verursachten Schäden durch andere ausbaden lassen. Denn auch vor Alkoholkonsum werden Minderjährige staatlicherseits geschützt.
Anfälligkeiten für die Mediensucht
Erwähnt sei auch, dass es innerpsychische Faktoren gibt, die die „meta“-modernen Süchte beeinflussen. Sie liefern Scheinbefriedigungen für emotionale Mängel und Scheintröstungen für erlittene Verletzungen. Sie fördern narzisstische Persönlichkeitszüge, vor allem, wenn die Grundlagen durch unsichere Bindungsmuster schon in früher Kindheit gelegt wurden. Sie dienen paranoiden Angstmustern, wenn es frühe Wurzeln für solche Neigungen gibt. Stabile und flexible Persönlichkeiten fallen weniger leicht auf die Verlockungen der medialen Konsumwelt herein und tun sich auch leichter darin, ihren Mediengebrauch einzuschränken. Diese Schiene zur Reduktion des Suchtverhaltens ist in gewisser Weise wichtiger als staatliche Regelwerke, weil sie das Problem an der Wurzel packt. Aber die dafür notwendige Arbeit ist langwierig und herausforderungsreich und erfordert viel Eigeneinsatz der Betroffenen. Sie kann nur dort beginnen, wo der Leidensdruck entsprechend hoch ist, dass der Aufwand auf sich genommen wird. Bis eine genügend große Zahl an Menschen durch solche Bewusstwerdungsprozesse durchgegangen ist, vergeht viel zu viel Zeit, in der laufend weitere Personen und Personengruppen in die Sucht fallen, in immer jüngerem Alter und in immer mehr Gesellschaftsschichten.
Medienbildung
Es ist sicher mehr und mehr Medienbildung notwendig, um zumindest die ärgsten Auswüchse der Mediensucht hintan zu halten und deren Folgen bewusst zu machen. Eine kritische Haltung den virtuellen Inhalten gegenüber kann nicht über die Medien erlernt werden, sie erfordert Anregungen und Auseinandersetzungen auf der persönlichen Ebene und sie gedeiht im Teamwork und in Kleingruppen. Die Entwicklung der Medien hat ein hohes Tempo; die entsprechenden Bildungsprozesse hinken immer hinterher, aber wenn es gelingt, bei Jugendlichen und Erwachsenen Basiskompetenzen in der Mediennutzung aufzubauen, ist ein wichtiger Schritt gegen die Sucht gelungen.
Gesellschaftliche Kontrolle
Zusätzlich ist ein Hebel notwendig, der noch tiefer ansetzt, um ein Gegengewicht gegen die Machtkonzentration, die die großen Informationskonzerne bei sich monopolisieren, zu etablieren. Es kann nicht angehen, dass eine superreiche Person ein Medium aufkauft und ihm die Linie verpasst, die ihm selbst gefällt – man stelle sich nur kurz vor, die Person wäre nicht Elon Musk, sondern Donald Trump oder ein ähnliches Kaliber. Medien, die Millionen und Milliarden von Menschen erreichen, die von dort ihre Informationen beziehen und sich ihre Meinungen bilden, die dann auf die Gesellschaft zurückwirken, können nicht der subjektiven Willkür und den politischen Ideen einzelner Menschen überantwortet werden, seien sie noch so gewiefte Geschäftsleute.
Zu diesem Zweck halte ich hier ein Plädoyer für die Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der medialen Schlüsselindustrien, nicht in der Weise, dass staatliche Organe die operationalen Geschäfte übernehmen, sondern in der Weise, dass die Gesellschaft mit Hilfe der Macht des Staates die Richtlinien und Werte vorgibt, nach denen die Algorithmen gestaltet und die Informationskanäle gesteuert werden. So sollten z.B. nicht nur pornografische oder radikalisierende Inhalte herausgefiltert werden, sondern auch alle, die Hass schüren, und solche, die die Demokratie gefährden. In jedem Fall sollten alle Abläufe, die Sucht erzeugen, abgestellt und Mediennutzer zum Medienfasten angeregt werden. Außerdem könnten die Medien danach ausgerichtet werden, bei den Konsumenten Bildungsprozesse auszulösen und ihre Kreativität anzuregen.
Lebensverbessernde statt ausbeutende Medien
Es braucht eine Massenbewegung, die sich auf die Fahnen schreibt, dass wir Technologien wollen, die unser Leben verbessern und nicht solche, die uns ausbeuten und versklaven. Wir wollen Medien, die allen gehören und deren Grundfunktionen dem Gemeinwohl dienen, das in manipulationsfreien Diskursen festgelegt wird. Wir brauchen virtuelle Räume, in denen sich Menschen austauschen können, ohne dass sie dabei von Geschäftsinteressen gegängelt und durch Daten- und Identitätsklau missbraucht werden. Wir wollen Medien, die die gesunde Gehirnentwicklung der Kinder fördern und ihre Entwicklung zu kreativen, selbstbewussten und kritischen Menschen unterstützen.
Die Medienkonzerne sind Unternehmen, die nach den Regeln des Kapitalismus funktionieren. Wenn klar wird, wo wir als Gesellschaft hinwollen, was die Werte sind, nach denen wir uns orientieren, und wenn wir uns klarmachen, dass wir die Macht darüber haben, was in unserer Gesellschaft passiert, dann ist der Schritt naheliegend, die Konzerne zu kontrollieren, statt dass wir uns von ihnen kontrollieren lassen. Die Konzerne werden sich anpassen und ihre Geschäftsmodelle neu justieren. Sie haben von sich aus kein Interesse, dass die Menschen dümmer und desorientierter werden; wir können aber auch nicht von ihnen erwarten, dass sie von sich aus dem Fortschritt der Menschheit zu mehr Menschlichkeit dienen, solange sie gewinnorientiert arbeiten. Das ist unser Job als Zivilgesellschaft, und wo wir dafür die staatliche Macht brauchen, sollten wir sie auch einfordern.
Mit dem Hauptargument gegen die staatliche oder gesellschaftliche Kontrolle von sozialen Medien, der Gefahr der Einschränkung der Meinungsfreiheit, werde ich mich am nächsten Artikel beschäftigen.
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