Donnerstag, 25. Oktober 2018

Dinge und unsere Abhängigkeiten

Dinge geben Sicherheit, deshalb fällt es uns manchmal schwer, sie loszulassen und herzugeben, auch wenn wir sie nicht oder nicht mehr brauchen. Jedes Ding, das wir in unserer Umgebung haben, trägt einen Symbolwert. Bei manchen ist uns das bewusster (Erinnerungsfoto, Buch mit Widmung, Auto…), bei anderen ist dieser Bezug kaum wahrnehmbar und doch in subtiler Weise wirksam. 

Wir identifizieren uns mit den Dingen, die wir um uns haben, ob wir das wollen oder nicht. Das heißt, wir legen einen Teil von uns in diese Dinge und nehmen einen Teil der Dinge in uns auf. Wir verdinglichen folglich unsere Identität, und wir exportieren unsere Identität in ausgewählte Dinge. Also verfügen wir über eine Kühlschrank-, Bücherkasten-, Duschvorhangs- und natürlich Smartphone-Identität. Und der Kühlschrank ist unserer, er gehört uns und gehört zu uns. Er trägt den Imprint unserer Identität.

Diese enge Verflechtung zwischen uns und den Dingen macht es uns schwer, Ordnung zu schaffen, zu entrümpeln, wegzuschmeißen und auszumisten. Je stärker die emotionale Identifikation, desto mehr Überwindung brauchen wir beim Loslassen dieser Anhaftungen an die Dinge. Wir merken dann, wie stark wir uns über Dinge definieren und wie sehr wir sie dafür nutzen, dass sie uns Sicherheit geben. 

Eigentlich ist es nicht sehr klug, unsere innere Sicherheit vordringlich auf Dingen zu begründen. Zwar brauchen wir viele Dinge im Außen (Nahrung, Kleidung, Schutz…), aber Dinge sind vergänglich. Wir müssen damit rechnen, dass das, was unsere Sicherheit garantieren soll, über kurz oder lang verfallen und zugrunde gehen wird wie eine Stadtmauer unter dem Beschuss feindlicher Kanonen. Die Sicherheiten hingegen, die wir in unserem Inneren tragen, halten auf Dauer, niemand kann sie uns nehmen, niemand kann sie ruinieren.

Wir wissen auch nicht, wie die Welt die sich anbahnende Klimaveränderung verkraften wird. Die Natur wird sich anpassen, und das wird in vielen Gebieten der Erde nachhaltige Probleme für die Menschen verursachen. Die Verhältnisse werden uns zeigen, was wir als Menschheit mit unserer Lebensweise angerichtet haben. Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere innere Sicherheit stärken und sie nicht von den Dingen um uns herum abhängig machen.

Unsere Wurzeln im Animismus 


Die Vermenschlichung der Dinge, die wir spätestens mit den Kuscheltieren unserer Kindheit begonnen haben, beruht auf uralten Ritualen und Vorstellungen. Unsere Vorfahren lebten in enger Verbindung mit der sie umgebenden Natur. Wir können davon ausgehen, dass das Verhältnis so eng war, dass die Ähnlichkeiten stärker waren als die Unterschiede. Die Menschen der Urzeit haben die Natur animiert mit ihrer reichhaltigen Fantasie, sodass sie in all ihren Aspekten als belebt wahrgenommen wurde. Die Geister und Naturwesen waren offensichtlich früher fast so real wie es die sichtbaren Dinge für uns heute sind.

Als Angehörige des Industriezeitalters sind wir gewohnt, Natur als etwas Fremdes wahrzunehmen, als etwas, das unseren Zwecken und Interessen zu dienen hat, das wir für unseren Wohlstand ausbeuten können und das keine eigene Stimme bekommt und kein Recht beanspruchen kann. Bei den Tieren tun wir uns da nicht so leicht; es kann uns an die Nieren gehen, wenn wir sehen, wie Kühe in engen Ställen dahinvegetieren oder Hühner am Laufband zerhäckselt werden. Aber alles, was nicht lebt, lässt unsere Gefühle kalt. 

Dennoch lebt das animistische Weltbild in den Tiefen unserer Seele weiter und zeigt sich darin, wie wir mit unseren Gegenständen umgehen. Wir hauchen ihnen unseren Geist ein, indem wir ihnen tagtäglich oder ab und zu begegnen, indem wir sie nutzen oder beiseite legen und vergessen. Wenn es darum geht, Dinge, die nutzlos geworden sind, wegzugeben, ist es so, als würde ein Stück unseres Geistes damit aufgegeben und für immer verschwinden.

Alles, was uns umgibt, ist Natur


Alle Dinge, die uns umgeben, sind aus der Natur entstanden. Alle Rohstoffe entstammen dem Fundus unseres Planeten und wurden durch die Arbeit von Menschen zu dem, was sie nun sind. Wenn wir entrümpeln, geben wir Dinge zurück, im günstigsten Fall gut sortiert, ökologisch entsorgt oder an Bedürftige weitergereicht. Es ist also in irgendeiner Form ein Zurückgeben von etwas, das wir genommen haben, und damit kommt wieder etwas in den Ausgleich. Wenn wir unsere Tendenzen, Güter anzuhäufen, nicht durch das Hergeben von Gütern ausgleichen, kommen wir selber ins Ungleichgewicht. Zu viele Dinge machen uns dinglicher, unlebendiger. Denn all die Dinge binden Energien, binden Aufmerksamkeit und füllen Raum, in unserer Wohnung und in unserem Inneren. Das Vollstopfen unserer Umgebung mit allen möglichen Sachen nimmt uns selber die Luft zum Atmen, weil all die Dinge auch in uns selber Raum beanspruchen. 

Nach einer Aufräum- und Entrümpelungsaktion fühlen wir uns deshalb befreit – in unserem Inneren sind Räume frei geworden, die für Neues zur Verfügung stehen. Die leeren Flächen und Bereiche ziehen neue Ideen und Einfälle an. Die Entlastung von nutzlosen oder nutzlos gewordenen Dingen beflügelt unsere Kreativität. Im Wort „Aufräumen“ steckt das Befreien von Räumen drin.

Alles, was wir über längere Zeit nicht nutzen, stirbt ab wie die nicht verzehrten Lebensmittel im Kühlschrank. Es ist ein Absterben der emotionalen Bedeutung, mit der wir den Gegenstand einst aufgeladen haben. Ein Klavier, auf dem wir immer wieder spielen, wird mit jedem Spielen reicher an emotionaler Bedeutsamkeit, während ein Klavier, das nur als Zierstück in einer Wohnung herumsteht, innerlich verarmt und eines langsamen Todes stirbt, weil es von niemandem in seiner speziellen Wertigkeit beachtet und genutzt wird. 

Erinnerung


Dinge binden uns an die Vergangenheit. Sie tragen Erinnerungen – an die Zeit, wo wir sie erworben und verwendet haben, an die Umstände und Erfahrungen, die damit verbunden sind. Oft wissen wir noch, in welcher Umgebung wir ein bestimmtes Buch gelesen haben, und erinnern uns an die Gefühle und Stimmungen, die uns damals begleiteten. Deshalb tun wir uns schwer damit, solche sentimental beladene Gegenstände wegzugeben. Wir wollen die Erinnerung bewahren und die damit verbundenen angenehmen Gefühle über die Gegenstände immer wieder reaktivieren. 

Solche Dinge können uns als Anker in unserer Geschichte dienen, als Symbole für Marksteine oder Lebenseinschnitte und Veränderungen. Sie erinnern uns an unser Gewordensein, an unsere Wachstumsschritte und Lernerfahrungen. Wir können sie dazu nutzen, um unsere eigene Geschichte zu würdigen oder aber auch, um sie zu glorifizieren und damit die Gegenwart abzuwerten. Dabei sollten wir nie übersehen, dass der gegenwärtige Moment das Einzige ist, was aus unserer Geschichte übrig geblieben ist, und dass wir uns ganz diesem Moment widmen können, auch wenn wir alte Fotos oder Erinnerungsstücke betrachten. Und vielleicht auch, wenn wir uns entschließen, solche symbolträchtigen Gegenstände aufzugeben und zu entsorgen, weil wir sie in dieser gegenwärtigen Präsenz nicht mehr brauchen.

Endlichkeit


Dinge erinnern uns nicht nur an unsere Geschichte, sondern an die Vergänglichkeit überhaupt. Selten denken wir daran, dass wir nackt, ohne jeden Besitz, ohne irgendeine Ahnung von Dingen, diese Welt betreten haben und dass wir nackt, ohne jeden Besitz und ohne Möglichkeit der Mitnahme von irgendwelchen Dingen diese Welt wieder verlassen werden. Dazwischen spielen die Dinge die Rollen in unserem Leben, die wir ihnen geben. Viele der Dinge erscheinen uns wesentlich, so als ob wir ohne sie nicht leben könnten, viele tragen zu unserem Luxus bei, andere zu unserer Bequemlichkeit oder dienen einem kurzzeitigen Nutzen. 

Mit jedem Ding, das wir aus unserem Leben weggeben, stirbt ein Stück von uns, und dieser kleine Tod macht uns darauf aufmerksam, dass wir im Grunde nichts festhalten können und alles nur so lange bei uns bleibt, wie es sein soll. Und eines Tages begegnen wir dem großen Tod, der uns beim großen Loslassen hilft.

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