Wir stellen uns ein produktives und erfolgreiches Leben so vor, dass wir uns möglichst viel im Tun-Modus befinden. Wir haben unsere Listen von Dingen, die zu erledigen sind, und arbeiten sie Punkt für Punkt ab. Währenddessen kommen neue Dinge dazu, und auf diese Weise bleibt das Leben voll von Tätigkeiten. Manchmal tauchen Leerzeiten dazwischen auf, die uns unruhig werden lassen, weil wir dabei nachdenken, was denn zu tun wäre, damit die Leere gefüllt wird. Irgendwann gönnen wir uns eine Pause im Tun, die wir dafür nutzen, um Fitness fürs weitere Aktivsein zu tanken.
Ein erfülltes Leben also? Oder befinden wir uns in dieser Orientierung die ganze Zeit in einem Zustand des Getriebenseins, sind wir da beständig unter Druck? Ein Termin folgt dem nächsten, ein Vorhaben reiht sich an das andere, stets haben wir das Gefühl, es ist nicht genug, wir haben es noch immer nicht geschafft. Es kann ein Gefühl sein wie beim Esel, der der Karotte vor der eigenen Nase nachrennt oder wie beim Hamster in seinem Rad. Es ist mehr ein Leben, das von Stress angefüllt ist als von Sinn. Es ist eine vergebliche und unendliche Suche nach dem Glück.
Wir wollen so viel machen, weil wir damit den Eindruck gewinnen, die Kontrolle über die Wirklichkeit mehr in unseren Händen zu haben und nicht so sehr äußeren Einflüssen ausgeliefert zu sein, die wir nicht überblicken können und die möglicherweise immer auch etwas Bedrohliches haben könnten. Wir wollen uns durch unsere Aktivitäten umfassend absichern, sodass nichts Unvorhergesehenes passieren kann, das uns dann aus der Bahn werfen könnte.
Die Einbahn des Funktionierens
Was ist das aber für eine Bahn? Sie wirkt wie eine Einbahn, die in eine im Wesentlichen immer gleiche Zukunft führt, geprägt von einem Funktionsmodus: Die Aufgaben, die sich stellen, abzuarbeiten, während sich dahinter gleich die nächsten Aufgaben anstellen, im Beruf wie im Privaten. Es ist eine Mühle des Müssens, in der das eigene Wollen keinen Platz und keine Nische finden kann.
Der Verlust der spontanen Lebendigkeit
Kinder befinden sich die meiste Zeit in einem Zustand des Fließens. Sie wenden sich einmal diesem zu, dann jenem, verweilen bei einem Stein auf der Straße oder bei einer Blume, und im nächsten Moment ist wieder etwas anderes interessant. Sie kommen in Emotionen und sind völlig in ihnen gefangen, um ein paar Momente später wieder im Fluss des Geschehens zu sein. Sie schöpfen ihre Lebendigkeit aus dem, was jeder Moment gerade als Anregung und Herausforderung schenkt.
Warum geht diese Fähigkeit, mit dem Fluss des Lebens mitzugehen, verloren? Die Erwachsenenkultur verlangt andere Fähigkeiten, um in ihr das Überleben zu sichern. Das wissen die Eltern und bereiten ihre Kinder darauf vor, indem sie ihre Fließerfahrungen unterbrechen. Es sind analoge Abläufe, die das Leben des Kindes bisher bestimmt haben: Die Rhythmen des Organismus, der Hunger hat, verdaut, entspannt, anspannt, der Wahrnehmungen von außen aufnimmt und verarbeitet, der sozial interagiert und sich mit der Umgebung austauscht. Mehr und mehr kommen digitale Abläufe dazu, die nicht mehr von einem Kontinuum geprägt sind, sondern von Unterbrechungen. Das Kind spielt, die Mutter kommt und sagt, dass es Zeit ist zu gehen. Das Kind protestiert und fügt sich dann irgendwann. Es ist aus einem Flusszustand herausgerissen und taucht, sobald es wieder geht, in einen neuen ein.
Finden solche Unterbrechungen mit Härte statt, also mit Strenge und Sturheit und nicht mit Verständnis und Eingehen, werden also die Nöte des Kindes, das unter der Unterbrechung leidet, übergangen, so entwickelt sich ein Gefühl der Feindlichkeit und Fremdheit dem ausgeübten Verhaltensdruck gegenüber. Irgendwann ändert sich die Einstellung, und die Entfremdungserfahrung wird nach innen gerichtet, auf sich selbst. Das Funktionieren gemäß äußerer Anforderungen wird zur eigentlichen Natur, während die innere Beziehung zum Flussmodus verloren geht.
Die Weitergabe der Überlebensprogramme
Dieser Umschwung geschieht vor allem dann, wenn die Eltern immer wieder ihre eigenen Überlebensprogramme im Kontakt mit den Kindern abspulen. Sie unterbrechen den Lebensfluss, in dem sich die Kinder befinden, auf ähnliche Weise, wie es ihre Eltern mit ihnen gemacht haben. Daraus haben sie ihre Überlebensstrategien entwickelt und vermitteln ihren Kindern die Notwendigkeit, aufs Neue solche Strategien auszubilden. Natürlich werden sie auf diese Weise auf die Gesellschaft und ihre Ansprüche vorbereitet, ob die Eltern es wollen oder nicht.
Den Kindern wird damit unbewusst beigebracht, dass sie kein selbstverständliches Recht auf ihre Existenz und ihre Grundsicherheit haben, sondern dass sie dieses Recht nur bekommen, wenn sie durch ihre Anpassungsleistungen beweisen, dass ihre Überlebensstrategien zu den Anforderungen der Gesellschaft und Wirtschaft passen. Das bedeutet, dass die ursprünglichen Geburtsrechte aberkannt werden; sie kommen nicht einfach dem Menschen qua seiner Existenz zu, sondern sie müssen erarbeitet werden, durch die Anpassung an die gesellschaftlichen Erwartungen.
Digitale Normen im Schulsystem
Das Schulsystem verstärkt diese Tendenzen weiter. Die digitalen Abläufe dominieren, vorgegebene Aufgaben müssen erfüllt und Zeitpläne eingehalten werden. Die Schulglocke ist wie ein Symbol für die Außensteuerung der Zeit. Die inneren Bedürfnisse der Kinder müssen sich diesen Rhythmen unterordnen – es soll nicht mehr Hunger spüren, wenn ihn das Bauchhirn meldet, sondern wenn die Schulglocke die Pause einläutet.
Die Erwachsenenwelt fordert, dass wir unsere Brötchen „im Schweiße des Angesichts“ verdienen müssen und dafür unsere Leistungen erbringen. In den meisten Bereichen der modernen Arbeitswelt gelten Anforderungen, die vom Gegenprinzip des Fließens geprägt sind. Es sind Aufgaben, die unter einem Zeitdruck erledigt werden müssen, gleich wie die innere Verfassung gerade beschaffen ist. Gefragt ist nicht der aktuelle innere Zustand und die aktuelle Verbindung mit der umgebenden Wirklichkeit, sondern das Erfüllen einer vorgegebenen Leistungserwartung. Wir haben darüber keine unmittelbare Kontrolle, sondern fühlen uns gezwungen, zu tun, was verlangt ist. Wir brauchen dafür den Funktionsmodus, mit dem wir unsere Aufgaben abarbeiten. Funktionieren heißt, dass wir unsere innere Befindlichkeit hintan stellen und ignorieren, so gut und solange es geht. Wir reizen gewissermaßen den Toleranzbereich aus, den unser Organismus zur Verfügung hat, um mit Stress umzugehen. Früher oder später merken wir allerdings, dass wir an eine Grenze gekommen sind oder dass wir sie schon überschritten haben.
Die Sinnfrage
Oft meldet sich an diesem Punkt die Scham, die mit der Erkenntnis verbunden ist, an sich selbst vorbei gelebt zu haben oder großteils vorbei zu leben.
Diese Scham ist oft verbunden mit einer Sinnfrage: Worum geht es mir eigentlich in meinem Leben? Soll das Weiterhecheln von einer Erledigung zur nächsten, von einem Termin zum nächsten alles sein, worum es im Leben geht? Nichts von dem erfüllt mich wirklich, wo finde ich mehr Glück?
Das Auftreten der Sinnfrage ist ein typisches Indiz für den Verlust des Zugangs zum Flussmodus. Erst wenn wir merken, dass wir aus diesem Zustand herausgefallen sind, stellt sich die Frage nach dem Sinn. Die Antwort ist eigentlich ganz einfach, doch übersehen wir sie oft, weil wir im Funktionsmodus feststecken: Lass geschehen, was geschieht – dann verliert die Frage ihre Bedeutung. Wenn wir uns auf diese Formel besinnen, merken wir bald, dass sich etwas in uns entspannt und erleichtert. Es ist, als wären wir in einer neuen Welt angekommen, einer Welt, die jenseits der Leistungszwänge und Terminforderungen existiert und die wir schon so lange verloren haben, dass sie uns wie neu erscheint.
Zum Weiterlesen:
Tun und Geschehenlassen
Funktions- und Flussmodus
Funktional und fließend wahrnehmen
Das Geschehen und der Verstand
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