Montag, 10. April 2017

Toleranz ist ein relativer Wert

Die Idee der Toleranz ist eine Errungenschaft der modernen Aufklärung, die im Bildungsbürgertum in Europa begonnen wurde und, verbunden mit den Menschenrechten, mittlerweile weltweit anerkannt ist. Sie besagt, dass unterschiedliche Meinungen, religiöse Bekenntnisse, Lebensweisen, geschlechtliche Orientierungen und Werthaltungen nebeneinander bestehen sollen. Niemand soll verfolgt, mit Gewalt bedroht oder unterdrückt werden, nur weil er oder sie anders ist als andere. Mit diesem Wert gelingt es einer Gesellschaft, mit Diversität zurande zu kommen und den besten Nutzen für alle daraus zu schöpfen.

Für Jahrhunderte waren die Machtstrukturen so beschaffen, dass verschiedene Minderheiten mit Gewalt von der Bevölkerungsmehrheit verfolgt und unterdrückt wurden, z.B. die Juden oder die Angehörigen von christlichen Sekten. Ethnische Minderheiten oder Menschen mit nicht heterosexuellen Orientierungen mussten sich ebenfalls vor Grausamkeiten, die jederzeit ausbrechen konnten, fürchten. Selbst Linkshänder waren lange Zeit diskriminiert. Mit aller Gewalt versuchten diese Gesellschaften, eine normierte Bevölkerung zu erzwingen. In engen Grenzen war vordefiniert, wieweit menschliches Verhalten erlaubt war. Wer diese Grenzen überschritt, wurde bestraft.

Aus verschiedenen Gründen dämmerte langsam die Einsicht, dass der Aufwand, den eine Unterdrückungsmaschinerie erfordert, in keinem Verhältnis zum erzielten Gewinn steht. Es wurde deutlich, dass die Anerkennung der Unterschiedlichkeit der Menschen mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt. Je mehr Korsette eine Gesellschaft ihren Mitgliedern auferlegt, desto größer ist die Angst, die mit den engen Regeln eingeimpft wird. Angst hemmt Kreativität und Motivation. Ohne diese Ressourcen stagniert die Gesellschaft und entwickelt sich nicht weiter. Das ist ja im Interesse der jeweils Mächtigen, denen es um nichts als den Erhalt dieser Macht geht, aber nicht im Interesse der Mitglieder der Gesellschaft, die ihre Situation verbessern wollen.

Aus diesen Spannungen entstanden die Revolutionen und Reformbewegungen, die schließlich in vielen Ländern demokratische Systeme hervorbrachten, mit dem Charakteristikum, dass die Machtträger einer Kontrolle unterzogen und in ihren Machtbefugnissen eingeschränkt wurden. Für einen Politiker in einer Demokratie ist es nunmehr nicht automatisch von Vorteil, die Diversität der Gesellschaft zu unterdrücken, vielmehr kann er besser seine Macht sichern, wenn er für den gesellschaftlichen Fortschritt eintritt.

Dieser Fortschritt erfordert die Öffnung der Grenzen des Regelwerks unter dem liberalen Motto, dass jeder soweit frei ist, als die Freiheit anderer davon nicht betroffen ist. Damit wird die Toleranz zu einem Leitmotiv der modernen Gesellschaft, von der alle ihre Mitglieder profitieren können. Jeder kann nach seinen Vorlieben sein Leben gestalten und nach seiner Façon selig werden. Ob jemand in dieses Gotteshaus oder in jenes oder in gar keines geht, geht niemand anderen etwas an. Damit können sich alle Menschen gleichermaßen am gesellschaftlichen Leben beteiligen und ihren Beitrag leisten, ohne von der Angst vor Strafe oder Verfolgung gedrückt und gehemmt zu sein. Freie Gesellschaften, also solche, die Diversität erlauben und sogar fördern können, sind produktiver, und die in ihr lebenden Menschen zufriedener.

Damit ist die Toleranz ein ganz wichtiges Leitmotiv der Befreiung der Menschen von Unterdrückung und Willkür. Dem Bildungssystem kommt eine zentrale Rolle zu, um diese Werthaltung zu vermitteln, denn sie erfordert eine kognitive Kompetenz. Emotional neigen wir dazu, Andersartigkeiten schnell abzulehnen. Für jemanden mit weißer Hautfarbe kann jemand mit einer schwarzen Hautfarbe Unbehagen auslösen und umgekehrt. Doch wir können wissen, also kognitiv erkennen, dass Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe als Menschen anerkannt werden können. Das Wissen macht uns klar, dass es nicht von der Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit abhängt, ob wir einem Menschen vertrauen können oder ob wir besser auf der Hut sein sollten.

Relative Toleranz


Obwohl die Werthaltung der Toleranz wichtig und elementar für eine demokratische Gesellschaft ist, stellt sie doch nur einen relativen Wert dar, wenn auch von hoher Priorität. Denn die Toleranz hat ihre Grenzen dort, wo sie dafür ausgenutzt wird, die Toleranz selbst einzuschränken. Redner z.B., die gegen die Toleranz hetzen und intolerante Standpunkte vertreten (Beispiel: der gegenwärtige türkische Präsident), oder Vereinigungen, die das Ziel haben, intolerante Strukturen durchzusetzen (Beispiel: fundamentalistisch orientierte moslemische Vereine), müssen im Sinn der Toleranz mit Intoleranz behandelt werden. Die Toleranz im gesamtgesellschaftlichen Sinn muss jener für Individuen oder Gruppen als Wert übergeordnet sein. Zwar gilt das Recht auf freie Gesinnung und Meinungsäußerung, d.h. jeder kann auch gegen eine tolerante Gesellschaft öffentlich reden, muss aber von anderen Kräften in der Gesellschaft kritisiert werden, damit ein Diskurs entstehen kann, in dem sich im besten Fall die besseren Argumente durchsetzen. Vereine haben ihr Recht, sich zu versammeln und dort was auch immer zu bereden. Doch sollte der gesellschaftliche Diskurs darüber entscheiden, ob Vereine, die sich gegen die Toleranz aussprechen, öffentlich (medial, finanziell etc.) gefördert werden und ob Möglichkeiten geschaffen werden, dass sich jeder darüber informieren kann, welches Programm und welche Intentionen von solchen Organisationen vertreten werden.

Eine tolerante Gesellschaft kann die Gegnerschaft gegen die Toleranz nicht tolerieren. Das kann man ihr zum Vorwurf machen, ändert aber an dieser Logik nichts. Denn die Toleranz taugt nicht zum absoluten Wert, als den ihn die Gegner der Toleranz für ihre eigene Propagandafreiheit einfordern wollen. Sie ist ein relatives Mittel, um einen hohen Grad an Freiheit im Rahmen einer Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Wenn es nicht ausreicht, müssen andere Mittel eingesetzt werden.

Das historische Beispiel dafür ist die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland 1933, die im Rahmen der toleranten demokratischen Spielregeln die relative Stimmenmehrheit bei Wahlen bekamen und dann skrupellos die Machtpositionen ausnutzten, die ihnen der deutsche Reichspräsident eingeräumt hatte. Mit Schuld an der daraus resultierenden Katastrophe war die Schwäche der Zivilgesellschaft, entschlossen darauf zu reagieren, dass tolerante Strukturen für das Aushebeln ebendieser missbraucht wurden. Dieses drastische Beispiel sollte immer in Erinnerung bleiben, um Wiederholungen zu verhindern. Wir sollten dabei nicht vergessen, dass es sich gerade jene Ewig-Gestrige in Erinnerung halten, denen es um eine Wiederholung des NS-Wahnsinns geht.

Die Achtung der Menschenwürde als absoluter Wert.


Der absolute Wert, der hinter dem Grundwert der Toleranz steht, ist die Menschenwürde und die Menschenliebe. Jeder Mensch verdient es, als Mensch Anerkennung und Respekt zu bekommen, und jeder Mensch verdient Mitgefühl für seine Leidenszustände. Auch Menschen, die aus welchen Gründen auch immer Probleme mit der Toleranz, wie sie in westlichen Gesellschaften besteht, haben, verdienen diesen Respekt, obwohl ihrer Position widersprochen werden muss. Der absolute Wert der Menschenachtung beruht darauf, dass Meinungen, Einstellungen, Haltungen und Handlungen vom Menschsein als solchem unterschieden werden können und müssen. Die Achtung bezieht sich auf dieses Menschsein, während z.B. Handlungen kritikwürdig sein können, vor allem wenn sie dieser Achtung vor der Menschenwürde zuwider laufen.

Die Toleranz ist ein Wert, der aus diesem absoluten Wert abgeleitet ist und aus ihm seine normative und ethische Kraft sowie seine Attraktivität im Sinn des Fortschritts der Gesellschaften zu mehr Freiheit bezieht. Während ein absoluter Wert für die Änderungen in der Gesellschaft durch die jeweils aktuellen Herausforderungen nicht verfügbar ist, muss der relative Wert der Toleranz an diese Erfordernisse angepasst werden. Nur so kann eine Gesellschaft zugleich flexibel und stabil gegründet auf die Werte der Menschlichkeit sein.


Vgl. Die zweifache Grenze der Toleranz

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