Dienstag, 7. September 2021

Kapitalismus und Sozialismus: Angstorientierung gegen Schamorientierung

Unsere Zukunft und vier Horrorerzählungen

Der Blick in die Zukunft geschieht manchmal hoffnungs- und vertrauensvoll, manchmal aber auch besorgt und ängstlich. Diese Sorgen und Ängste beruhen auf aktuellen Erfahrungen und Fakten, die wir aus verschiedenen Informationskanälen gesammelt haben. Die emotionale Ladung dieser Zukunftsbilder stammt aus unserer Kindheit und aus pränatalen Erfahrungen sowie aus kollektiven Traumatisierungen aus der Geschichte.

Wir können vier verschiedene Szenarien unterscheiden, die sich alle irgendwo überschneiden und miteinander interagieren, die aber auch getrennt von politischen Parteien und Gruppierungen bedient, propagiert und verstärkt werden: 

das Szenario einer entsolidarisierten Gesellschaft

das Szenario einer von außen überfluteten Gesellschaft

das Szenario des schwindenden Wohlstandes

das Szenario der zerstörten Natur.

Die erste  Erzählung handelt von der sozialen Ungleichheit. Es ist ein uraltes Thema der Menschheit, das spätestens seit dem Übergang von den Stammeskulturen zu den Ackerbaukulturen vor ca. 10 000 Jahren entstanden ist. Viele Märchen und Sagen handeln von den hartherzigen Reichen und den leidenden Armen. Seit der Industrialisierung hat sich das Problem massiv verschärft, und es sind politische Bewegungen unter der Fahne von Sozialismus und Kommunismus aufgetreten, die sich dem Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit verschrieben haben.

Die Fakten zeigen seit dieser Zeit ein permanent ansteigendes Auseinanderdriften zwischen der Reichtumsakkumulation bei ganz Wenigen auf der einen Seite und der Erwerbs- Alters-, Alleinerzieher-, Arbeitslosenarmut bei sehr Vielen auf der anderen Seite, mit einem Mittelstand dazwischen, der zunehmend in Gefahr gerät, auf die Armutsseite abzurutschen. Die Klimakrise fügt dieser Entwicklung eine weitere Dimension hinzu, weil sie sich völlig anders auswirkt, wenn jemand die Hitze in einem überfüllten Slum unter einem Wellblechdach oder in einer abgeschiedenen und vollklimatisierten Villa am Meer überstehen muss. Die Lebensläufe, das Sterbedatum und die Todesursachen sind wesentlich durch die Stellung im sozialen Gefüge beeinflusst, die durch das Ungleichgewicht in der Verfügung über materielle Ressourcen definiert wird. Wer reich ist, lebt nicht nur besser, sondern auch länger.

Die Unverzichtbarkeit des sozialen Ausgleichs

Die Vernunft sagt uns, dass es einen sozialen Ausgleich braucht, damit das Zusammenleben der Menschen funktionieren kann. Es müssen nicht alle Menschen gleich viel verdienen oder ein gleiches Vermögen haben, aber es muss einen Rahmen geben, innerhalb dessen sich die Unterschiede bewegen, sowie Durchlässigkeiten, die eine Chancengleichheit oder -vergleichbarkeit erlauben. Denn sonst entsteht die Gefahr, dass die Gesellschaft auseinanderfällt und ein Krieg aller gegen alle ausbricht oder dass es zu einer Abschottung der happy few in ihren befestigten Ghettos vor der Masse der Schlechtweggekommenen kommt. Ein dynamischer Ausgleich zwischen Leistungsnormen und individuellen Stärken und Schwächen ist notwendig, um den Überlebensstress für die Einzelnen zu verringern und das kreative Potenzial, das in allen Menschen steckt, füreinander und für eine menschenwürdige Entwicklung nutzbar zu machen.

Es ist auch leicht nachvollziehbar, dass bei Krisen und Katastrophen die sozial und monetär Schwächeren noch schwerer zu leiden haben als die, die es sich aufgrund ihrer Mittel besser richten können. Zu Zeiten des Andrangs von Flüchtlingen und Asylsuchenden nach Mitteleuropa gab es dort die Wohlhabenden, die vor den Flüchtlingen ins Feriendomizil auf den Balearen oder Kanaren flüchteten. Ähnliche Absetzbewegungen gab und gibt es auch in den aktuellen Pandemiezeiten. Die Klimakrise ist, wie jede andere ebenso, immer auch eine soziale Krise.

Schreckensszenarien und Ideologien

Horrorerzählungen werden entworfen, um die Menschheit aufzuwecken und zum Handeln zu motivieren. Sie haben aber die Tendenz, sich mit Ideologien aufzuladen – solange ungeklärte Gefühlsenergien hinter den vernünftigen Anliegen stecken, also vor allem Ängste und Schamgefühle.

Der ideologische Ballast tritt dort zu Tage, wo die Hintergründe und Ursachen des Ungleichgewichts mythologisiert werden, indem scheinbare Drahtzieher hinter den Entwicklungen identifiziert werden. Entweder sind es ein paar Verschwörer, die die Fäden in der Hand haben und mit dem Schicksal der Menschen spielen, oder es ist „der Kapitalismus“, der mit seiner destruktiven Macht die Menschheit in den Untergang steuert. Wenn es um die Verantwortung für das „Böse“ geht, neigen die Sozialrevolutionäre zu verkürzenden Konzepten. Die komplexen Systeme, die diese Entwicklungen antreiben, werden auf diese Weise auf einfache Feindbilder reduziert, die dann so übermächtig erscheinen, sodass es keine Basis für politische Gegenaktivität zu geben scheint und alles, was zur Verbesserung der Situation oder zur Korrektur der destruktiven Tendenzen unternommen wird, als Symptomkur abgetan werden kann. Die auf Karl Marx zurückgehende Ideologie besagt, dass die ganze Gesellschaft umgestürzt werden muss, um das Gespenst des Kapitalismus zu erledigen. Solange das nicht gelingt, wird alles nur noch schlimmer, weil selbst jeder Versuch einer Reform den Kapitalismus stabilisiert und widerstandsfähiger macht.

Doch ist die kommunistische Revolution, in der gesamten Geschichte der Neuzeit betrachtet, nie wirklich und grundlegend gelungen. Das kapitalistische System wirkt heute ungebrochen auf der ganzen Welt, und eine seiner stärksten Mächte ist die kommunistische Volksrepublik China. Der Kommunismus (oder der “real existierende Sozialismus”), wie er in der Geschichte aufgetreten ist, ist ein Herrschaftssystem, das Machtstrukturen festschreibt und mögliche Gegner kontrolliert und unterdrückt. Die Wirtschaft dient als Experimentierfeld, an dem mit Hilfe der Machtinstrumente herumgedoktort wird. Die Erfahrung hat gezeigt, dass jeder Versuch, den Kapitalismus völlig der politischen Macht unterzuordnen, katastrophale Auswirkungen auf die wirtschaftliche Performanz hatte. Das war ein Hauptgrund dafür, dass das kommunistische System in Osteuropa 1989 sang- und klanglos untergegangen ist. So schnell konnte man gar nicht schauen, schon wurden viele der vormaligen Bannerträger des Sozialismus zu den erfolgreichsten Kapitalisten. 

Der chinesische Kommunismus produzierte solange Hungersnöte und andere wirtschaftliche Katastrophen, als versucht wurde, den Kapitalismus mit politischer Macht auszurotten. Erst als mehr und mehr kapitalistische Elemente zugelassen wurden, stellten sich dann wirtschaftliche Erfolge ein, und damit auch Korruption in vorher unbekannten Ausmaßen.

Kein Kommunismus mit traumatisierten Menschen

Karl Marx hat viel vom Wesen des Kapitalismus verstanden, doch seine Schlussfolgerung, dass der Kapitalismus durch die Revolution der unterdrückten Massen beseitigt werden muss, war kurzsichtig. Was Marx übersehen hat, ist die Eingewobenheit des Kapitalismus in das menschliche Wesen. (Karl Marx war nicht mit der Psychologie und noch weniger mit der Traumatheorie vertraut.) Kapitalistisches Denken und Handeln ist ein Aspekt des Menschseins und ist eng mit den emotionalen Antrieben von Angst und Gier verbunden. Psychologisch betrachtet, stellt der Kapitalismus die Spielwiese einer weit verbreiteten Überlebensstrategie dar: Durch das Anhäufen von Gütern die Angst vor der eigenen Auslöschung zu bewältigen. Paradoxerweise steigt die Angst noch weiter, wenn mehr Sicherheit vor den Lebensbedrohungen durch giergeleitete Anhäufungshandlungen geschaffen werden soll. Die Angst bringt die Gier hervor, und die Gier steigert die Angst. Der Kapitalismus spiegelt also die Angstbewältigung nur vor und reproduziert sie in Wirklichkeit beständig.

Wie wir gesehen haben, können wir den Kapitalismus als das interaktive System verstehen, das von den Emotionen der Angst und Gier angetrieben ist und daraus ein Eigenleben entwickelt hat, das von einzelnen Individuen nicht mehr kontrolliert werden kann. Alle sind ihm unterworfen, niemand kann sich dem Sog gänzlich entziehen, und folglich wirkt auch jeder daran mit, dass die Macht des kapitalistischen Systems weiter wächst. (Wir alle müssen Lebensmittel und andere Güter kaufen, die im Rahmen des Kapitalismus erzeugt und vertrieben werden. Mit jedem Preis, den wir zahlen, stimmen wir diesen Produktions- und Vertriebsbedingungen zu. Wir alle müssen unseren Lebensunterhalt verdienen und verkaufen unsere Arbeitskraft und stimmen damit den Regeln des Arbeitsmarktes und der Lohnarbeit zu.)

Der Kapitalismus entsteht also als Gemeinschaftsprodukt, das überindividuell wirkt. Er ist aus der Summe der kapitalistisch motivierten Aktionen der Menschen zusammengesetzt. Deshalb kann der Kapitalismus nicht einfach zerstört werden; das ist die Illusion, durch die die kommunistischen Ideen zu einer Ideologie werden. Denn die Menschen und ihre emotionalen Überlebensstrategien bleiben die gleichen, welches System auch immer auf der politischen Ebene installiert wird. Die Menschen verlieren ihre Ängste und die Gier als Angstbewältigung nicht, bloß wenn das politische und ökonomische System anders geregelt wird. Jeder kommunistische Diktator und Apparatschik ist dafür ein historischer Beweis.

Der Kapitalismus ist also kein historischer Irrtum oder keine böse Macht, die über die Menschheit gekommen ist, sondern der kollektive kreative Versuch der Menschheit, ab einer bestimmten Stufe der Komplexität der gesellschaftlichen Entwicklung (ich habe sie als die fünfte Stufe der Bewusstseinsevolution beschrieben) ihr Überleben zu sichern. Es braucht auf jeder Stufe eine heikle Balance zwischen individuellen und sozialen Motiven, damit das kollektive Überleben gewährleistet werden kann. Das Überwiegen der individuellen Überlebensanreize vor den kollektiven im kapitalistischen System zeigt dessen Wurzeln in den Urängsten der Menschen. Denn die Angst macht immer auf die Bedrohung des eigenen Lebens durch die anderen aufmerksam. In der Angst werden uns die anderen Menschen zu feindlichen und gefährlichen Wesen.

Aus der Sicht der Psychologie hat im Kapitalismus die Angst vor der Scham das Sagen. Die Scham fordert die soziale Rücksichtnahme bei den eigenen Überlebenshandlungen ein: Wenn wir uns in einer Notsituation egoistisch verhalten, wenn wir uns z.B. beim Schiffsuntergang vor anderen auf das letzte Boot drängen, dann meldet sich die Scham. Wenn bei einer Pandemie die Intensivbetten knapp werden, müssen wir alles tun, um die Scham abzuwenden, die entsteht, wenn wir bei Erkrankten nicht alles Menschenmögliche für ihre Heilung tun.

Das bedrohliche Potenzial des Kapitalismus liegt darin, dass es ihm gelungen ist, die Scham weitgehend zu entmachten. An der Spitze der kapitalistischen Umtriebe befinden sich nicht zufällig die schamlosesten Menschen. Gerade deshalb brauchen wir schamgetriebene Systeme, die die Macht der angstgetriebenen Systeme ausgleichen. Nur auf diese Weise kommt es zu einem Gleichgewicht auf der Ebene der Überlebensimpulse. 

Hier sehen wir die unverzichtbare Aufgabe des Sozialismus. Wenn die Gegenkräfte gegen den Kapitalismus nicht aufrechterhalten und gestärkt werden, nimmt unweigerlich der angstgesteuerte Individualismus die Vorherrschaft ein, und das Prinzip der Solidarität geht flöten. Der frei entfesselte Kampf von jedem gegen jeden ist der Anfang vom Ende der Menschheit. Demgegenüber fordert der Sozialismus die Solidarität zwischen den Stärkeren und Schwächeren, zwischen den Reicheren und Ärmeren ein. Es gibt ein zutiefst menschliches Bedürfnis nach einem Ausgleich zwischen oben und unten und es entstehen massive Ängste, wenn es missachtet wird.  

Der Kapitalismus verspricht nicht nur Sicherheiten für die eigenen Überlebensängste, indem er im Allgemeinen den Wohlstand steigert, sondern füttert sie gleichzeitig, indem er immer mehr von den Menschen einfordert. Das ist das unheilvolle Rückkoppelungssystem, für das die Menschen in der industriellen und postindustriellen Gesellschaft einen steigenden Tribut an körperlicher und immer mehr an seelischer Ausbeutung zu bezahlen haben. Auch hier meldet sich eine vergesellschaftete Scham, die auf die Schmach hinweist, dass trotz der erstaunlichen Errungenschaften der modernen Luxusgesellschaften die Lebensqualität und Lebenszufriedenheit nicht gestiegen ist, sondern dass die Menschen von neuen Ängsten, von Gier, Neid, Arroganz und Selbstzweifeln befallen sind.

Angstorientierung und Schamorientierung im Wechselspiel

Solange nicht bewusst geworden ist, dass der Kapitalismus von Angst und der Sozialismus von Scham angetrieben ist, wird die Machtverteilung zwischen beiden Kräften hin- und her schwanken. Einmal regieren die einen, dann wieder die anderen. Denn die Wähler schwanken genauso zwischen diesen Gefühlsmustern, die sie beide in sich tragen. Inzwischen sind viele Sozialisten etwas kapitalistischer geworden und manche Kapitalisten etwas schamvoller. Doch die Grundstruktur hat sich nicht geändert: Die Ängste, die der Kapitalismus vorgibt zu vermindern, werden in Wirklichkeit durch den Druck auf die Individuen gesteigert. Ähnlich ist es mit der Scham, die im Sozialismus beruhigt werden soll: Sie sucht sich andere Betätigungsfelder, sobald der soziale Ausgleich auf einer breiteren Basis verwirklicht ist. 

Ein Beispiel ist die (schamlose) Überwachung der Individuen, die in allen kommunistischen Staaten installiert wurde. Mit ihr sollte das Schambewusstsein bei den Menschen aufrechterhalten werden, damit sie ihre individuellen Bestrebungen, ihre Egoismen, dem Kollektiv unterordnen. In Wirklichkeit setzen sich allerdings die machtgeilen Egoisten im herrschenden Machtapparat gegenüber den Untertanen durch, oft mit äußerster körperlichen und seelischen Grausamkeit.  

Ein weiteres typisches Exempel bilden die erzwungenen Selbstbeschämungen, die als Rituale der Machtbestätigung in diesen Systemen vollzogen wurden: Die absurden Geständnisse von Angeklagten in den stalinistischen Schauprozessen und die erzwungene Selbstkritik der Funktionäre im chinesischen Kommunismus zeugen von der Instrumentalisierung der Scham für die Zwecke des Machterhaltens und der Unterdrückung der individuellen Freiheiten.

Auch das heutige China zeigt das Wechselspiel zwischen einer kapitalistischen und einer sozialistischen Diktatur. Nachdem in der letzten Zeit die chinesische Wirtschaft mit Rekordzahlen gewachsen ist und das Land immer mehr Milliardäre hervorgebracht hat, scheint jetzt die Regierung in die Schamrichtung zurückzusteuern. Der Unterhaltungsindustrie werden Schamschranken auferlegt, Großkonzerne werden gemaßregelt und die ausgeuferte Arbeitszeit eingeschränkt. Unter dem Stichwort des „allgemeinen Wohlstandes“ wird die soziale Seite des chinesischen Sozialismus reaktiviert. (Zur Quelle)

Jenseits der Überlebensmuster: Optimismus statt Horror

Der Horror des Szenarios einer entlang der Reichtumsschere auseinanderlaufenden Gesellschaft lichtet sich erst, wenn der Einfluss der Ideologie aus den Zusammenhängen schwindet. Ideologien neigen zu einer wirklichkeitsverzerrenden Schwarz-Weiß-Sicht und zu einem Freund-Feind-Denken. Die vorurteilsfreie Sicht auf die Wirklichkeit ermöglicht die Handlungen, die notwendig sind, um der Entsolidarisierung entgegenzuwirken und die sozialen Intentionen, die jedem Menschen innewohnen, zum Tragen kommen. Der Einsatz für mehr soziale Gerechtigkeit auf allen Ebenen ist dann nicht von der Scham angetrieben, sondern von dem Wollen einer gerechten und humanen Gesellschaft, einem zutiefst menschlichen Anliegen. Er bildet ein Anliegen, das immer wieder formuliert, eingefordert und eingemahnt gehört, um Willen einer gerechten Gesellschaft.

Vieles wurde auf diesem Weg schon erreicht, vieles ist noch offen und muss mit aller Kraft angegangen werden. Viele Menschen sind in diesen Belangen engagiert. Es gibt viel Anlass für Optimismus, und das ist die Haltung, die Energien freisetzt und bündelt.     


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