Kollektive Traumen bilden sich nicht nur als Folge von Katastrophen, Kriegen und systematischen Gewaltanwendungen. Sie geschehen auch schleichend, ähnlich wie bei Entwicklungstraumatisierungen auf der individuellen Ebene. Solche kontinuierlich ablaufenden, aber nie kulminierenden Traumaerfahrungen wirken nachhaltig schwächend und zehrend und verändern das Bewusstsein von Vertrauen und Sicherheit zu Wachsamkeit, Kontrollzwang und Bedrohungsahnungen. Dabei entsteht eine unterschwellige chronische Stressbelastung.
Der Kapitalismus ist direkt verantwortlich für
Katastrophentraumen, die kollektive Auswirkungen auf viele Menschen hatten, wie
z.B. die Weltwirtschaftskrise von 1929 oder die Finanzkrise von 2008. Massive Spekulationen,
also Hasardspiele von Investoren bei fehlenden staatlichen Kontrollen führten zu
Zusammenbrüchen von wirtschaftlichen Strukturen und erzeugten eine Massenarmut,
1929 viel stärker als 2008, weil inzwischen Lernprozesse stattgefunden haben,
sodass die ärgsten Folgen durch staatliche Maßnahmen abgefangen werden konnten.
Viele der Traumatisierungen, die von unserem Wirtschaftssystem
ausgelöst werden, sind schwerer greifbar. Es gibt keinen Feind, der mit
militärischer Gewalt im eigenen Land einfällt. Vielmehr lautet die Botschaft
von den Propagandisten des Kapitalismus, dass jeder seines Glückes und seines
Unglückes Schmied ist. Jeder ist verantwortlich für seine Erfolge und
Misserfolge, auch wenn die meisten Faktoren dafür nicht der eigenen Kontrolle
unterliegen. Menschen, die als Arbeitskräfte „freigesetzt“ werden, also aus dem
Arbeitsprozess aussteigen und auf staatliche Unterstützung angewiesen sind,
sehen vielleicht im Chef oder in der Firma den Verursacher des Notzustandes,
gegen den sie aber keine Chance haben. Der Chef leidet vielleicht selber
darunter, einen geschätzten Mitarbeiter kündigen zu müssen, fühlt sich aber
unter Druck durch die Marktsituation und mächtige Konkurrenten, die billiger
produzieren können. Es ist das Wirtschaftssystem, das solche Belastungen
erzeugt, und die Menschen sind seine Akteure, ob sie es wollen oder nicht. Wenn
sich solche Phänomene häufen, entstehen kollektive Felder der Unsicherheit und
Angst, die alle in ihren Bann ziehen, die, die Arbeit haben und die, die sie
verloren haben, die Unternehmer mit guter Auftragslage und jene mit schlechter
Auslastung.
Anonymisierung und Verantwortungsüberladung
Damit bleibt die ganze Verantwortung bei der Einzelperson, die
als Opfer der Vorgänge, bei denen es keine identifizierbaren Täter gibt, die
Schambelastung alleine tragen muss. Denn das Versagen im System geht mit einem
sozialen Stigma einher: Er/sie hat es nicht geschafft, war zu schwach oder zu
wenig clever. Wer am Markt nicht reüssiert, ist selber voll dafür
verantwortlich und muss sich schämen.
Die Entsolidarisierung hat dazu geführt, dass die Schicksale
vereinzeln, während die Traumafelder übergreifend wirken und auch die
mitbetreffen, die in Zeiten des ökonomischen Wandels ihre Stellung behaupten
oder verbessern können. Denn sie sind dem gleichen Stress ausgesetzt wie die, deren
ökonomischen Weiterexistenz unmittelbar bedroht ist.
Obwohl alles, was im ökonomischen System geschieht, von
Menschen gemacht ist, wirkt es so, als wäre ein übermenschlicher Akteur am
Werk, ähnlich wie die „invisible hand“ nach Adam Smith, die die Marktabläufe
reguliere. Bezogen auf die verletzbare menschliche Seele wird mit diesem Anschein
erreicht, dass die Traumatisierungen als nicht-menschengemacht wahrgenommen
werden, obwohl sie menschengemacht sind. Bekanntlich lösen menschengemachte
Katastrophen wesentlich stärkere Traumabelastungen und posttraumatische
Störungen aus als nicht-menschengemachte, z.B. Naturkatastrophen im Vergleich
zu Kriegen oder Misshandlungen. Es findet also eine Täuschung statt, mit deren
Hilfe menschliches Handeln anonymisiert und damit scheinbar verharmlost wird.
Es gibt keine Schuldigen, keine Verantwortlichen, sondern nur ein anonymes
Netzwerk von undurchschaubaren Zusammenhängen, das das Schicksal der Menschen
in der Hand hat und die einen belohnt und die anderen bestraft.
Scheinlösung Verschwörungstheorie
Es tauchen immer wieder Verschwörungstheorien auf, die versuchen,
die Kräfte hinter dieser Anonymisierung aufzudecken und ans Licht zu bringen.
Sie wollen damit die Täter anprangern und damit ein Gefühl von Kontrolle und
Sicherheit vermitteln. Das Wissen, wer schuld am eigenen Schicksal ist,
eröffnet zumindest einen Horizont für mögliche Gegenaktionen, auch wenn völlig
unklar ist, wie das geschehen sollte. Die Verbreiter dieser Theorien bringen
allerdings auch nur eine Scheinlösung zustande, weil sie die komplexen Vorgänge
auf individuelle Bösewichter oder Bösewichtergruppen herunterbrechen. Sie reden
von Geheimklüngeln, die sich die Macht auf die Welt aufteilen wollen, obwohl es
unzählige Akteure in dem weiten Feld des globalen Wirtschaftsgefüges gibt, die
dadurch reich bis superreich werden, durch Korruption oder ohne. Nicht einmal hundert
Wirtschaftsbosse wären in der Lage, die Weltwirtschaft zu dirigieren, sollten
sie sich überhaupt untereinander einig werden, in welche Richtung das gehen
sollte und wer welchen Happen davon kriegt.
Die Verschwörungstheorien befriedigen nur ein
psychologisches Bedürfnis nach Überblick und Verständnis der Abläufe sowie nach
Sündenböcken für alle Fehlentwicklungen, leisten aber keinen Beitrag zum
besseren Verstehen der Zusammenhänge, geschweige denn zu praktischen
Lösungswegen. Sie wirken höchstens wie Placebos auf die Traumabelastungen,
während sie tatsächlich bei allen, die an sie glauben, retraumatisierend
wirken, weil sie die reale Ohnmacht verstärken und das Böse noch mächtiger
erscheinen lassen, als es ist.
Für den Durchblick angesichts der komplexen Zusammenhänge sind
die Wirtschaftswissenschaften zuständig und mühen sich, Licht ins Dunkel zu
bringen, schaffen aber nur, wie es im Wesen der Wissenschaften liegt, Einblicke
in Teilaspekte des Geschehens, das in seiner Ganzheit und Dynamik in kein
ökonomisches Modell passt. Denn es wirken daran alle Menschen auf diesem
Planeten mit und verändern durch ihr Tun das Ganze in jedem Moment. Die vielen
aufeinander bezogenen Aktionen von bald 8 Milliarden Menschen ergeben eine
unvorstellbar hohe Anzahl von wirtschaftlichen Interaktionen, die nur annähernd
in ihren Zusammenhängen verstanden werden können. Die Wissenschaften bauen
dennoch eine Basis der Verlässlichkeit auf, die als Ressource wirken kann und
damit Traumafolgen abmildert.
Die Pandemie hingegen hat die latente Traumatisierung als
Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems vielerorts an die Oberfläche
gebracht und zahlreichen Menschen deutlich gemacht, auf welch fragilen Pfeilern
ihre wirtschaftliche Existenz ruht. Sie waren und sind angewiesen auf
staatliche Unterstützung, um nicht in die Armut abzurutschen. Das
Wirtschaftssystem als solches war nicht in der Lage, für die zahlreichen
Probleme eine Abhilfe zu schaffen. Auch die Kriegsereignisse am Rand der EU und
die damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben die hohe Störungsanfälligkeit
des kapitalistischen Systems unter Beweis gestellt und dadurch auf viele
Menschen retraumatisierend gewirkt.
Alle Krisen auf dieser Welt sind zugleich Krisen des
Wirtschaftssystems. Manchmal werden sie direkt von ihm ausgelöst, manchmal
haben sie einen anderen Ursprung. Aber die wirtschaftlichen Auswirkungen werden
immer hautnah spürbar, auch wenn sich die Krisengebiete weit entfernt von den
eigenen Lebenskreisen befinden. Deshalb lädt auch das kapitalistische System bei jeder Krise das kollektive
Traumafeld zusätzlich auf und verstärkt seine destabilisierende Wirkung auf die
Menschen.
Resilienz gegen die kollektive Traumatisierung
Wie können wir uns davor schützen, in die Energie des
kollektiven Traumas, das der Kapitalismus nährt, hineingezogen zu werden? Klar
ist, dass wir aus den Zusammenhängen der ökonomischen Verflechtungen nicht
austreten können wie aus einem Tennisclub. Wir sind Teil davon und könnten
anderweitig nicht überleben. Wir können als Individuen daran arbeiten, unsere
eigenen Gierneigungen zu verringern oder unsere Konsumgewohnheiten zu verändern,
um unsere Beteiligung an den Ausbeutungsvorgängen so weit wie möglich einzuschränken.
Wir können unsere Bewusstheit darauf richten, was „unsere“ Bedürfnisse sind und
welche Bedürfnisse durch die Werbewirtschaft einkonditioniert wurden, um deren
Einfluss zu brechen. Auf der sozialen Ebene können wir unsere politische
Ausrichtung schärfen, sodass unser Einsatz einer sozial gerechten und
ausgleichenden Gesellschaft dient. Wir können in unserem praktischen Engagement
für Solidarität eintreten und in persönlichen und virtuellen Netzwerken die
Menschlichkeit fördern. Wir können dort aufstehen, wo Menschenrechte mit den
Füßen getreten werden und wo die kapitalistische Denkweise z.B. im neoliberalen
Gewand den Ton angeben will. Wir können all die Kräfte unterstützen, die der
Erweiterung und Vertiefung der Menschlichkeit dienen. Wir können neue
Möglichkeiten des Wirtschaftens, die nicht profitorientiert sind, unterstützen
und fördern. Wir können uns an der Utopie orientieren, in der irgendwann einmal
der Kapitalismus nur mehr den Güteraustausch regelt und nicht den Arbeitsmarkt
und den Konsum, wo also Menschen nicht zu Waren und Warenverbrauchern gemacht
werden, sondern wo sie auf gerechte Weise an den Erträgen der Wirtschaft beteiligt
sind und auf mündige und sozial verantwortliche Weise konsumieren. Wir können
konstruktive Träumer und mutige Realisten sein, die an ihrer Ethik und
Integrität festhalten und sich nicht durch die Verlockungen des Kapitalismus korrumpieren
lassen.
Die Wirtschaft ist für die Menschen da und nicht umgekehrt.
Das sollten wir uns und allen anderen immer wieder klarmachen. Wir verfügen
immer über mehr Möglichkeiten, um uns von den scheinbar übermächtigen
Einflüssen des Wirtschaftssystems zu befreien. Je mehr wir sie nützen, desto
leichter lösen wir uns von den kollektiven Traumen, die uns und unseren
Vorfahren der Kapitalismus aufgeladen hat.
Zum Weiterlesen:
Unverschämtheit, ein Merkmal des Kapitalismus
Bedürfnisse und Konsumgewohnheiten
Kapitalismus und Sozialismus: Angstorientierung und Schamorientierung
Das Giersystem im Kapitalismus
Eine Krise des Neoliberalismus
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