Montag, 25. Juli 2022

Die kollektiven Traumatisierungen durch den Kapitalismus

Kollektive Traumen bilden sich nicht nur als Folge von Katastrophen, Kriegen und systematischen Gewaltanwendungen. Sie geschehen auch schleichend, ähnlich wie bei Entwicklungstraumatisierungen auf der individuellen Ebene. Solche kontinuierlich ablaufenden, aber nie kulminierenden Traumaerfahrungen wirken nachhaltig schwächend und zehrend und verändern das Bewusstsein von Vertrauen und Sicherheit zu Wachsamkeit, Kontrollzwang und Bedrohungsahnungen. Dabei entsteht eine unterschwellige chronische Stressbelastung.

Der Kapitalismus ist direkt verantwortlich für Katastrophentraumen, die kollektive Auswirkungen auf viele Menschen hatten, wie z.B. die Weltwirtschaftskrise von 1929 oder die Finanzkrise von 2008. Massive Spekulationen, also Hasardspiele von Investoren bei fehlenden staatlichen Kontrollen führten zu Zusammenbrüchen von wirtschaftlichen Strukturen und erzeugten eine Massenarmut, 1929 viel stärker als 2008, weil inzwischen Lernprozesse stattgefunden haben, sodass die ärgsten Folgen durch staatliche Maßnahmen abgefangen werden konnten.

Viele der Traumatisierungen, die von unserem Wirtschaftssystem ausgelöst werden, sind schwerer greifbar. Es gibt keinen Feind, der mit militärischer Gewalt im eigenen Land einfällt. Vielmehr lautet die Botschaft von den Propagandisten des Kapitalismus, dass jeder seines Glückes und seines Unglückes Schmied ist. Jeder ist verantwortlich für seine Erfolge und Misserfolge, auch wenn die meisten Faktoren dafür nicht der eigenen Kontrolle unterliegen. Menschen, die als Arbeitskräfte „freigesetzt“ werden, also aus dem Arbeitsprozess aussteigen und auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, sehen vielleicht im Chef oder in der Firma den Verursacher des Notzustandes, gegen den sie aber keine Chance haben. Der Chef leidet vielleicht selber darunter, einen geschätzten Mitarbeiter kündigen zu müssen, fühlt sich aber unter Druck durch die Marktsituation und mächtige Konkurrenten, die billiger produzieren können. Es ist das Wirtschaftssystem, das solche Belastungen erzeugt, und die Menschen sind seine Akteure, ob sie es wollen oder nicht. Wenn sich solche Phänomene häufen, entstehen kollektive Felder der Unsicherheit und Angst, die alle in ihren Bann ziehen, die, die Arbeit haben und die, die sie verloren haben, die Unternehmer mit guter Auftragslage und jene mit schlechter Auslastung.

Anonymisierung und Verantwortungsüberladung

Damit bleibt die ganze Verantwortung bei der Einzelperson, die als Opfer der Vorgänge, bei denen es keine identifizierbaren Täter gibt, die Schambelastung alleine tragen muss. Denn das Versagen im System geht mit einem sozialen Stigma einher: Er/sie hat es nicht geschafft, war zu schwach oder zu wenig clever. Wer am Markt nicht reüssiert, ist selber voll dafür verantwortlich und muss sich schämen.

Die Entsolidarisierung hat dazu geführt, dass die Schicksale vereinzeln, während die Traumafelder übergreifend wirken und auch die mitbetreffen, die in Zeiten des ökonomischen Wandels ihre Stellung behaupten oder verbessern können. Denn sie sind dem gleichen Stress ausgesetzt wie die, deren ökonomischen Weiterexistenz unmittelbar bedroht ist.

Obwohl alles, was im ökonomischen System geschieht, von Menschen gemacht ist, wirkt es so, als wäre ein übermenschlicher Akteur am Werk, ähnlich wie die „invisible hand“ nach Adam Smith, die die Marktabläufe reguliere. Bezogen auf die verletzbare menschliche Seele wird mit diesem Anschein erreicht, dass die Traumatisierungen als nicht-menschengemacht wahrgenommen werden, obwohl sie menschengemacht sind. Bekanntlich lösen menschengemachte Katastrophen wesentlich stärkere Traumabelastungen und posttraumatische Störungen aus als nicht-menschengemachte, z.B. Naturkatastrophen im Vergleich zu Kriegen oder Misshandlungen. Es findet also eine Täuschung statt, mit deren Hilfe menschliches Handeln anonymisiert und damit scheinbar verharmlost wird. Es gibt keine Schuldigen, keine Verantwortlichen, sondern nur ein anonymes Netzwerk von undurchschaubaren Zusammenhängen, das das Schicksal der Menschen in der Hand hat und die einen belohnt und die anderen bestraft.

Scheinlösung Verschwörungstheorie

Es tauchen immer wieder Verschwörungstheorien auf, die versuchen, die Kräfte hinter dieser Anonymisierung aufzudecken und ans Licht zu bringen. Sie wollen damit die Täter anprangern und damit ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit vermitteln. Das Wissen, wer schuld am eigenen Schicksal ist, eröffnet zumindest einen Horizont für mögliche Gegenaktionen, auch wenn völlig unklar ist, wie das geschehen sollte. Die Verbreiter dieser Theorien bringen allerdings auch nur eine Scheinlösung zustande, weil sie die komplexen Vorgänge auf individuelle Bösewichter oder Bösewichtergruppen herunterbrechen. Sie reden von Geheimklüngeln, die sich die Macht auf die Welt aufteilen wollen, obwohl es unzählige Akteure in dem weiten Feld des globalen Wirtschaftsgefüges gibt, die dadurch reich bis superreich werden, durch Korruption oder ohne. Nicht einmal hundert Wirtschaftsbosse wären in der Lage, die Weltwirtschaft zu dirigieren, sollten sie sich überhaupt untereinander einig werden, in welche Richtung das gehen sollte und wer welchen Happen davon kriegt.

Die Verschwörungstheorien befriedigen nur ein psychologisches Bedürfnis nach Überblick und Verständnis der Abläufe sowie nach Sündenböcken für alle Fehlentwicklungen, leisten aber keinen Beitrag zum besseren Verstehen der Zusammenhänge, geschweige denn zu praktischen Lösungswegen. Sie wirken höchstens wie Placebos auf die Traumabelastungen, während sie tatsächlich bei allen, die an sie glauben, retraumatisierend wirken, weil sie die reale Ohnmacht verstärken und das Böse noch mächtiger erscheinen lassen, als es ist.

Für den Durchblick angesichts der komplexen Zusammenhänge sind die Wirtschaftswissenschaften zuständig und mühen sich, Licht ins Dunkel zu bringen, schaffen aber nur, wie es im Wesen der Wissenschaften liegt, Einblicke in Teilaspekte des Geschehens, das in seiner Ganzheit und Dynamik in kein ökonomisches Modell passt. Denn es wirken daran alle Menschen auf diesem Planeten mit und verändern durch ihr Tun das Ganze in jedem Moment. Die vielen aufeinander bezogenen Aktionen von bald 8 Milliarden Menschen ergeben eine unvorstellbar hohe Anzahl von wirtschaftlichen Interaktionen, die nur annähernd in ihren Zusammenhängen verstanden werden können. Die Wissenschaften bauen dennoch eine Basis der Verlässlichkeit auf, die als Ressource wirken kann und damit Traumafolgen abmildert.

Die Pandemie hingegen hat die latente Traumatisierung als Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems vielerorts an die Oberfläche gebracht und zahlreichen Menschen deutlich gemacht, auf welch fragilen Pfeilern ihre wirtschaftliche Existenz ruht. Sie waren und sind angewiesen auf staatliche Unterstützung, um nicht in die Armut abzurutschen. Das Wirtschaftssystem als solches war nicht in der Lage, für die zahlreichen Probleme eine Abhilfe zu schaffen. Auch die Kriegsereignisse am Rand der EU und die damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben die hohe Störungsanfälligkeit des kapitalistischen Systems unter Beweis gestellt und dadurch auf viele Menschen retraumatisierend gewirkt.

Alle Krisen auf dieser Welt sind zugleich Krisen des Wirtschaftssystems. Manchmal werden sie direkt von ihm ausgelöst, manchmal haben sie einen anderen Ursprung. Aber die wirtschaftlichen Auswirkungen werden immer hautnah spürbar, auch wenn sich die Krisengebiete weit entfernt von den eigenen Lebenskreisen befinden. Deshalb lädt auch das kapitalistische System bei jeder Krise das kollektive Traumafeld zusätzlich auf und verstärkt seine destabilisierende Wirkung auf die Menschen.

Resilienz gegen die kollektive Traumatisierung

Wie können wir uns davor schützen, in die Energie des kollektiven Traumas, das der Kapitalismus nährt, hineingezogen zu werden? Klar ist, dass wir aus den Zusammenhängen der ökonomischen Verflechtungen nicht austreten können wie aus einem Tennisclub. Wir sind Teil davon und könnten anderweitig nicht überleben. Wir können als Individuen daran arbeiten, unsere eigenen Gierneigungen zu verringern oder unsere Konsumgewohnheiten zu verändern, um unsere Beteiligung an den Ausbeutungsvorgängen so weit wie möglich einzuschränken. Wir können unsere Bewusstheit darauf richten, was „unsere“ Bedürfnisse sind und welche Bedürfnisse durch die Werbewirtschaft einkonditioniert wurden, um deren Einfluss zu brechen. Auf der sozialen Ebene können wir unsere politische Ausrichtung schärfen, sodass unser Einsatz einer sozial gerechten und ausgleichenden Gesellschaft dient. Wir können in unserem praktischen Engagement für Solidarität eintreten und in persönlichen und virtuellen Netzwerken die Menschlichkeit fördern. Wir können dort aufstehen, wo Menschenrechte mit den Füßen getreten werden und wo die kapitalistische Denkweise z.B. im neoliberalen Gewand den Ton angeben will. Wir können all die Kräfte unterstützen, die der Erweiterung und Vertiefung der Menschlichkeit dienen. Wir können neue Möglichkeiten des Wirtschaftens, die nicht profitorientiert sind, unterstützen und fördern. Wir können uns an der Utopie orientieren, in der irgendwann einmal der Kapitalismus nur mehr den Güteraustausch regelt und nicht den Arbeitsmarkt und den Konsum, wo also Menschen nicht zu Waren und Warenverbrauchern gemacht werden, sondern wo sie auf gerechte Weise an den Erträgen der Wirtschaft beteiligt sind und auf mündige und sozial verantwortliche Weise konsumieren. Wir können konstruktive Träumer und mutige Realisten sein, die an ihrer Ethik und Integrität festhalten und sich nicht durch die Verlockungen des Kapitalismus korrumpieren lassen.

Die Wirtschaft ist für die Menschen da und nicht umgekehrt. Das sollten wir uns und allen anderen immer wieder klarmachen. Wir verfügen immer über mehr Möglichkeiten, um uns von den scheinbar übermächtigen Einflüssen des Wirtschaftssystems zu befreien. Je mehr wir sie nützen, desto leichter lösen wir uns von den kollektiven Traumen, die uns und unseren Vorfahren der Kapitalismus aufgeladen hat.

Zum Weiterlesen:

Unverschämtheit, ein Merkmal des Kapitalismus

Bedürfnisse und Konsumgewohnheiten

Brauchen wir Krisen, um die globalen Probleme zu lösen?

Kapitalismus und Sozialismus: Angstorientierung und Schamorientierung

Das Giersystem im Kapitalismus

Eine Krise des Neoliberalismus

Wirtschaft ohne Gier?


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