Dienstag, 27. Dezember 2016

Toleranz und ihre zweifache Grenze

Toleranz ist ein hoher Wert in einer freien und offenen Gesellschaft und ein wichtiger Garant für ihren Fortbestand. Gerade deshalb können sich in ihrem Schatten Menschen frei tummeln und Gruppen bilden, die intolerante Meinungen vertreten und bereit sind, diese Meinungen in freiheitsbedrohende Handlungen umzusetzen. Wie soll also eine tolerante Gesellschaft mit intoleranten Menschen, Meinungen und Handlungen, die diese Toleranz bedrohen, umgehen? Ist jede Einschränkung der Toleranz schon intolerant?

Der Begriff der Toleranz markiert den Ausgang aus gesellschaftlicher und kultureller Unterdrückung. Über Jahrtausende mussten Menschen ihre persönlichen Werte und Überzeugungen an die vorherrschenden Ideologien und religiösen Systeme anpassen. Abweichende Meinungsäußerungen wurden meist konsequent und brutal verfolgt. In den Zeiten der europäischen Glaubenskriege wurde z.B. die Praxis verfolgt, dass Menschen zur Auswanderung gezwungen wurden, die sich einer religiösen Richtung nicht anschließen wollten, die in ihrem Gebiet die Macht hatte: Wenn du nicht den Mehrheitsglauben teilst, kannst du ja gehen. Diese Praktik stellte zwar einen Fortschritt dar im Vergleich zur grausamen Ausrottung Andersgläubiger, ging aber immer noch von der Ansicht aus, dass es unmöglich wäre, wenn in einem Haus an die Wirkmacht von sieben Sakramenten und im Nachbarhaus nur von zweien geglaubt wurde, so als müsste man sich wegen solcher Auffassungsunterschiede notgedrungen die Schädel einhauen.


Öffnung der Identität


Ein paar Jahrhunderte später wissen Menschen, die nebeneinander wohnen, nur in Ausnahmefällen von den jeweiligen Glaubensrichtungen. Das Thema hat in den meisten westeuropäischen Ländern jegliche Sprengkraft für den sozialen Zusammenhalt verloren. Und das ist eine Folge der Aufklärung, die sich die Toleranz auf die Fahnen geheftet hat.

Die europäische Geschichte, die auch eine Geschichte zur Ausformung der Toleranz darstellt, in dieser Hinsicht gekennzeichnet durch eine zunehmende Öffnung der individuellen und der kollektiven Identität. Im Mittelalter waren die meisten Menschen in engen Lebensformen eingebunden und eingeordnet. Es gab für Angehörige des Bauernstandes (und das waren fast alle Menschen damals) keine Alternative zum Bauer-Sein, zur Mitgliedschaft in der Kirche und zum Leben im dörflichen Verband. Alternative gesellschaftliche Entwürfe standen nicht zur Verfügung. Die vorgefertigte Identität war seit Jahrhunderten unverändert in Geltung, und deshalb konnte auch die Zukunft nichts anderes bringen.


Eine kurze Geschichte der Aufklärung


Mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, deren Wurzeln bis tief ins Mittelalter zurückreichen und die auch wesentliche Impulse aus dem Christentum aufnahm, werden neue Horizonte geöffnet. Die eingeschränkten traditionsgebundenen Identitäten werden sukzessive aufgebrochen. Parallel dazu entstanden neue wirtschaftliche Möglichkeiten und Notwendigkeiten, viele Menschen gingen vom Land in die Städte, von der Landwirtschaft zur Industrie. Zentral für diese Entwicklung ist auch das Bildungssystem, das zunehmend die Vermittlung von modernem Wissen (Alphabetismus, Mathematik, Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften) mit modernen Ideen verknüpfte. Bildung beinhaltet immer auch das Denken in Alternativen und verhilft dazu, Identitäten leichter wechseln und verändern zu können.

Einen weiteren Bereich für die Ausbildung der Toleranz bildet die Emanzipation der Kunst, die sich vor allem im 19. Jahrhundert vollzog und ungebrochen weiter wirkt. Bis dahin war die Identität der Kunst durch die vorherrschende Gesellschaftsform vorgegeben, z.B. in der Musik durch die Adelsgesellschaft und die Kirchenorganisation. Nun nahmen sich die Künstler die Freiheit, aus der eigenen Kreativität heraus schöpferisch zu werden, ohne Rücksicht auf bestehende Standards und Konventionen. Die Kunst wurde damit zum Dynamit für alle ideologischen Meinungen und Lebensformen. Schriftsteller griffen sie in ihren Werken direkt und die anderen revolutionären Künstler (Maler, Bildhauer, Musiker usw.) indirekt an.

Dementsprechend heftig war der Kampf zwischen der modernen Kunst und den traditionellen Weltbildern bis zu den Bücherverbrennungen und Kunstverboten der Nationalsozialisten, und das Unvermögen  der Rechtsparteien, die Symbolkraft der emanzipativen Kunst zu verstehen, legt noch immer Zeugnis von dieser Spannung ab. Kunst in ihrer nachmittelalterlichen Form ist ein unversiegbar sprudelnder Quell von Diversität, von der Differenzierung und Dekonstruktion der existierenden Formen, der von sich aus permanent und unüberhörbar zur Toleranz aufruft.

Zusammen bilden diese Strömungen eine starke Kraft der Veränderung zur Toleranz, der sich nichts entziehen kann. Die Widerstände waren und sind zahlreich, aber sie werden von dieser Dynamik der Emanzipation, der Befreiung des Individuellen unweigerlich unterschwemmt und schließlich irgendwann weggespült. Toleranz ist ein Megatrend in der Entwicklung der Moderne, der nicht rückgängig gemacht werden kann, sondern immer mehr Bereiche des Lebens zu mehr Offenheit und Respekt vor dem Anderen herausfordert.

Denn Toleranz wünscht sich jeder Mensch, sobald er seiner eigenen Individualität bewusst wird: Ich bin radikal anders als alle anderen Menschen. Versuche ich, mich an sie anzupassen, verbiege ich mich und schade mir selbst. Ich kann nur aus dieser Quelle der eigenen Einzigartigkeit heraus leben. Wenn ich dafür keine Duldung bei den anderen finden kann, gerate ich in einen massiven inneren Widerspruch.


Zur logischen Notwendigkeit von Toleranz


Toleranz ist also eine Konsequenz der Tatsache, dass die Natur nicht in der Lage ist, identische Lebensformen hervorzubringen, und weiters der Einsicht, dass trotz radikaler Unterschiedlichkeit die Menschen ihre Angelegenheiten nur im Zusammenwirken gestalten und verbessern können. Daraus folgt notwendig, dass die Unterschiedlichkeit, die Diversität geduldet und, so weit wie möglich, geschätzt werden muss.

Toleranz ist also kein Luxus, den sich eine Gesellschaft mit ausreichenden Ressourcen gestattet, sondern eine Grundbedingung des menschlichen Lebens. Insoferne bedroht jede Form der Intoleranz dieses gemeinschaftlich verfasste menschliche Leben.


Zwei Grenzen der Toleranz


Der deutsche Philosoph Michael Schmidt-Salomon spricht von zwei Grenzen der Toleranz. Die erste "verläuft zwischen dem, was toleriert werden muss, und dem, was nicht mehr toleriert werden darf." Hier geht es z.B. um das Ende der Toleranz dort, wo anderen Menschen Schaden zugefügt wird, z.B. durch das Ausüben von Gewalt. Eine Gesellschaft kann nicht bestehen, wenn sie das toleriert, was ihre Grundlagen angreift.
Dazu kommt noch eine zweite Grenze: „Sie markiert den Unterschied zwischen dem, was toleriert werden muss, und dem, was akzeptiert werden kann.“ Es gibt Phänomene, die z.B. im Sinn der Meinungsfreiheit toleriert werden müssen, aber nicht akzeptiert werden können, wie z.B. rassistische Aussagen, die das Gleichheitsprinzip der Gesellschaft aushebeln wollen.

Schmidt-Salomon: „Wir haben es also mit drei unterschiedlichen Bereichen zu tun: dem Akzeptablen, dem Nur-Tolerablen und dem Nicht-mehr-Tolerablen. Diese unterschiedlichen Bereiche müssen auch unterschiedlich behandelt werden. Als grobe Marschrichtung kann dabei gelten: Was in einer offenen Gesellschaft zu akzeptieren ist – etwa das Ideal der Gleichbehandlung aller Bürgerinnen und Bürger -, muss gestärkt, was nur zu tolerieren ist – zum Beispiel schwulenfeindliche Ressentiments -, geschwächt, und was nicht mehr zu tolerieren ist – etwa Gewaltaufrufe gegen Schwule -, strikt unterbunden werden.“

Es genügt also nicht, eine klare Abgrenzung zwischen dem, was geduldet werden kann, und dem, was nicht geduldet werden kann, zu ziehen. Das sollte im Rahmen jeder Rechtsordnung klar definierbar und mittels der Rechtsprechung durchsetzbar sein. Die Aufgabe hier liegt darin, die Rechtsnormen beständig entsprechend der gesellschaftlichen Veränderungen neu zu bestimmen, gewissermaßen upzudaten, wann und wo immer neue Störprogramme gegen die Toleranz auftauchen. 


Der Einsatz für die offene Gesellschaft geht alle an


Der andere Bereich betrifft die Politik und noch mehr die Zivilgesellschaft: Im Rahmen der Toleranz alles, was nicht akzeptiert werden kann, weil es die Werte der Toleranz unterminiert, mit allen Mitteln der öffentlichen Meinungsbildung und der reflektierten Argumentation zu bekämpfen. Intolerante Wertsetzungen dürfen nicht ohne Widerspruch bestehen bleiben, es braucht massive und entschiedene Gegenstimmen und Erwiderungen. Ein Beispiel dafür bildet das Institute for Strategic Dialogue, das u.a. Gegennarrative zu den Strömungen der fundamentalistischen Propaganda entwirft und publiziert.

Wir sollten eine Gesellschaft sein, die kollektiv aufschreit, sobald gegen die Werte der Toleranz Stellung bezogen oder gehandelt wird: Ein Schrei, der aus der Verletzung des Menschlichen kommt, denn jeden, der sich der eigenen Menschlichkeit bewusst ist, sollte im eigenen Mark getroffen sein, wenn die Toleranz angegriffen wird. Ein solches Aufschreien sollte es nicht erst geben, wenn Dutzende Menschen auf einem Weihnachtsmarkt umgebracht werden.

Wir leben in einer Welt allgegenwärtiger Medien, indirekt vermittelte Informationen bestimmen in großem Ausmaß unsere innere Wahrnehmungswelt und beeinflussen unsere Werte. Darum sollten wir, Mitglieder der Zivilgesellschaft, an dieser medialen Öffentlichkeit teilnehmen, nicht nur als passive Konsumenten, sondern auch als aktive Gestalter, die ihre Meinung zur Vielfalt der Meinungen beisteuern, wo immer es geht. Damit tragen wir aktiv zur Verbreitung von Toleranz bei.

Unsere Verantwortung geht noch weiter: Wir sollten uns auch als Wächter für die Offenheit der Gesellschaft verstehen und gegenüber allen Bedrohungen wachsam sein. Wir alle sind Hüter eines kostbaren Gutes, das wir nicht für etwas Selbstverständliches vergessen sollten, sondern als einen Schatz, den wir stärken und vermehren sollten, damit er lebendig bleibt. Und das Lebendige ist allemal stärker als das Tote.

Interview mit 
Michael Schmidt-Salomon

Vgl. Die Unausweichlichkeit der offenen Gesellschaft
Toleranz ist ein relativer Wert

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