Donnerstag, 6. März 2025

Fortschritt trotz Rückschritten

Wenn Rechtsparteien an die Macht kommen, sorgen sie dafür, dass es in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu Rückschritten kommt. Weiterentwicklungen in den Menschenrechten, in den Frauenrechten, in der Anerkennung von Minderheiten, Experimente in der Kultur und Kunst werden abgedreht, zusammengestutzt oder vom Geldhahn abgeschnitten. Unter der Losung „Zurück zur Tradition“ werden liberale Errungenschaften beseitigt, wie nach der Märzrevolution 1848, nach deren gewaltsamer Niederschlagung alle neuen Freiheitsrechte abgeschafft wurden. Es dauerte damals in Österreich 20 Jahre, bis die liberalen Rechte dann als Grundrechte in die Verfassung aufgenommen wurden. In der Slowakei können wir aktuell beobachten, wie die offizielle Kulturlandschaft umgekrempelt wird, indem alle staatlichen Posten mit fachfremden Parteigängern der Kulturministerin besetzt werden, die das Kulturleben auf traditionelle und national geprägte Ausdrucksformen beschränken will.

Was auch immer Politiker veranstalten, ändert nichts daran, dass der Fortschritt weitergeht: In den Wissenschaften, in der Technik und in der Ökonomie. Auch die sozialen Beziehungsformen entwickeln sich weiter. Manche dieser Prozesse können durch politische Maßnahmen verlangsamt werden, manche andere zeitweilig und regional unterbunden und unterdrückt werden; gänzlich aufgehalten können sie nicht werden. Denn die Menschen verfügen über ein unbegrenztes Potenzial an Neugier und Kreativität, das sich ausdrücken und verwirklichen will, gleich unter welchen politischen Verhältnissen sie leben. 

In der gesamten Menschheitsgeschichte gibt es Phasen der stürmischen Weiterentwicklung in manchen Gebieten, wie z.B. im antiken Griechenland oder im Wien der Zwischenkriegszeit.  Es gibt auch Phasen des scheinbaren Stillstandes oder der Rückentwicklung, wie z.B. im Biedermeier, als die Reformen der französischen Revolution rückgängig gemacht wurden. Aber selbst in diesen Zeiten haben sich andere Entwicklungsstränge beschleunigt, z.B. die Industrialisierung oder die Weiterführung der Klassik in die Romantik in der Literatur und Musik. 

Der Fortschrittsmotor Kapitalismus

Der Kapitalismus kennt keine Rückschritte. Sein Wachstumsprinzip ist das Mehr und Noch Mehr. Die politischen Rahmenbedingungen wirken bestenfalls modulierend auf diese Dynamik ein. Sie können das Tempo, die Richtung und die inhaltliche Gestaltung beeinflussen, nicht aber den Wachstumsdrang selbst. Nach dem Zweite Weltkrieg lag die Wirtschaft in den zerstörten Gebieten darnieder, doch bahnte sich dann ein Wirtschaftsaufschwung samt noch nie dagewesener Wohlstandsmehrung an. 

Das kommunistische Sowjetexperiment hatte ja das Ziel, die Macht der kapitalistischen „Naturgewalt“ zu brechen und eine Wirtschaftsform unter durchgängiger politischer Kontrolle zu etablieren. In China gab es unter Mao Zedong ähnliche Bestrebungen. Das Gesamtergebnis dieser Experimente (neben dem hohen Blutzoll, den sie angerichtet haben) liegt darin, dass die ökonomische und technische Entwicklung dennoch weiterging, nur wesentlich langsamer, sodass die Länder des „real existierenden Sozialismus“ bei dessen Ende in fast allen Bereichen der Wirtschaft weit hinter dem Niveau der westlichen Länder hinterherhinkten. China hat in den 1980er Jahren die politische Kontrolle der Wirtschaft aufgegeben und dadurch konnte dort der Kapitalismus schnell aufholen. 

Der Preis, den Kapitalismus durch politische Eingriffe aufzuhalten, ist also hoch. Darin bestand der Lernprozess, der viele Theoretiker und Politiker wechselten vom Kommunismus zum Sozialismus oder zur Sozialdemokratie, weil sie erkannten, dass der Kapitalismus nicht einfach abgeschafft werden kann, sondern eingehegt werden muss. Denn ein Kapitalismus, der nicht durch politische Einflüsse reguliert wird, richtet sich gegen die Menschen, indem sie ungeschützt ausgebeutet werden. Er braucht also Rahmenbedingungen und Regulierungen, wie ein Fluss, der nicht am Fließen gehindert werden soll, sondern dessen Verlauf so gestaltet wird, dass Hochwässer am wenigsten Schaden anrichten. Allerdings sollte diese Metapher mit Vorsicht genossen werden, weil der Kapitalismus ein menschengemachtes Phänomen ist und keine Naturgewalt. Wir machen also durch unsere ökonomischen Handlungen den Kapitalismus, und wir können ihn durch das, was wir tun oder unterlassen, beeinflussen.

Die Verlangsamung des Lernens durch Machteinflüsse

Das Problem bei politischen Bremsversuchen besteht darin, dass die in der Politik involvierten Machtstrukturen zur Verlangsamung nicht nur der sozialen und ökonomischen Prozesse, sondern auch der Lernvorgänge führt. Das Sowjetimperium hat siebzig Jahre gebraucht, bis es möglich war, die Lehren aus dem, was schiefgelaufen ist, zu ziehen, und bis heute leidet Russland an seiner Zurückgebliebenheit und versucht, diese Schmach durch kriegerische Zerstörungen wettzumachen.

Die Pathologie der Macht besteht darin, dass die Mächtigen sie nicht loslassen können. Damit verhindern sie Weiterentwicklung und Lernen. Macht, die zum Selbstzweck geworden ist, versucht verzweifelt, das Rad der Geschichte aufzuhalten, die ganze Kraft fließt in diese anstrengende und letztlich fruchtlose Anstrengung. Aus der Sicht der Mächtigen muss alles so bleiben, wie es ist, denn nur so kann die Macht erhalten werden. Wer zu viel lernt, wird gefährlich für die Mächtigen.

Die Bremsung der gesellschaftlichen Lernvorgänge durch autoritäre Staatsformen und Diktaturen wird durch das Vorantreiben von Spaltungen verstärkt. Einzelne Bevölkerungsgruppen werden gegeneinander ausgespielt; damit wird Misstrauen und Konkurrenz in der Gesellschaft gesät. Die angstgetriebenen Energien fließen weniger in Erneuerungsprozesse als in die Aufrechterhaltung des eigenen Status. Je mehr Unsicherheit in der Gesellschaft herrscht, desto schwerer hat es die Kreativität. Je mehr Traumen das kollektive Bewusstsein durchziehen, desto weniger Kräfte stehen für das Lernen und Weiterentwickeln zur Verfügung.

Die Demokratie als Nährboden für Lernprozesse und Kreativität

Die Demokratie wurde unter anderem zu dem Zweck erfunden, die Macht von Einzelpersonen zu begrenzen und zu kontrollieren. Dadurch soll das Festklammern an der Macht (Putin regiert seit 25 Jahren, Lukaschenko seit 31) und das Einzementieren von Ideologien unterbunden werden. Andererseits werden Räume garantiert, in denen sich die Lern- und Weiterentwicklungsprozesse entfalten können. Diese Räume sollen weitgehend frei von Herrschaft sein, sodass eine vernunftgeleitete Diskurskultur gedeihen kann. 

Die Demokratie wird von rechten Ideologen und Politikern bekämpft und von vielen Menschen weniger geschätzt, weil sie sich mit ihren Problemen und Interessen nicht ausreichend repräsentiert fühlen. Sie stellt – mit all ihren Schwächen – die reifste Form der Machtausübung dar. Sie ist ein Produkt des Fortschritts sozialer Kompetenzen und ethischer Reflexionen. Viele Länder auf dieser Erde 

Momentan erkennen wir in vielen Bereichen Rückschritte - vergessen wir aber nicht den größeren Bogen und den langen Atem der Geschichte. Fortschritte verzögern sich höchstens, und in solchen Zeiten reifen die Kräfte für das Weitergehen im Verborgenen. Wir wissen noch nicht, was die gegenwärtigen Entwicklungen zum Fortschritt beitragen, weil es so ausschaut, als würde die halbe Menschheit um Stufen auf der zivilisatorischen Leiter zurückfallen (beinahe überall wird aufgerüstet, was nur geht, Demokratien verwandeln sich mir nichts dir nichts in Autokratien). Aber jedes Chaos evolviert irgendwann zu einer neuen Ordnung mit mehr Spielräumen und Möglichkeiten. Die Errungenschaften der Menschlichkeit, die da und dort mit Füßen getreten werden, gehen nicht verloren. Wir können ihre Banner tragen und möglichst viele ermutigen, es uns gleich zu tun. Vertrauen wir auf die Kräfte des Fortschritts, die die Kraft der Bewusstseinsevolution in sich tragen.

Zum Weiterlesen:

Demokratie in der Krise?
Das Erlernen der Demokratie in der Kindheit


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