Sonntag, 31. Juli 2016

Wenn Fiktion zum Faktum wird

Unter renommierten Kommentatoren der aktuellen politischen Vorgänge macht ein Stichwort die Runde, das ich hier näher betrachten möchte: die Post-Faktualität. Damit sind Positionen in der politischen Debatte gemeint, die keinen Unterschied zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion machen. Statt dessen wird die emotionale Wirkung zum Maßstab für Wahrheit: Was jemandem gefällt, weil es mit den eigenen Vorurteilsstrukturen zusammenpasst, ist wahr, was nicht, ist erlogen.

Deshalb wird von jenen, die keinen Wert auf die Überprüfung der eigenen Meinungen legen, besonders gerne von der "Lügenpresse" gesprochen und damit jener (immer kleiner werdende) Teil der Presselandschaft gemeint, der mit besonderer Sorgfalt in der Recherche die Faktizität zu den in der Öffentlichkeit diskutierten Fiktionen liefern will. Wird z.B. die Fiktion in die Diskussion eingebracht, dass asylwerbende Flüchtlinge Supermärkte überfielen, dann gelten die Presseorgane, die eine solche Nachricht ungeprüft weiter verbreiten und womöglich mit Kommentaren voll von Entsetzen verstärken, als Wahrheitspresse. Andere Zeitungen dagegen, die sich die Mühe machen und bei den Supermarktketten nachfragen und dann die Auskunft bekommen, dass solche Überfälle nicht stattgefunden haben, die also danach trachten, Faktizität und Fiktion zu unterscheiden, werden als Lügner beschimpft. Wer die Wahrheit sagt, lügt, wer lügt, sagt die Wahrheit.

Handelt es sich um einen neuen Namen für ein Phänomen, das so alt ist wie die Politik unter Menschen, oder haben wir es mit einer Gattung der Verblendung zu tun, die bisher noch nicht in dieser Form und in diesem Ausmaß aufgetreten ist?

Emotionale Korruption


Dass ein fahrlässiger Umgang mit der Wahrheit in der Politik zum täglichen Geschäft gehört, sollte nicht wundern; die Unverfrorenheit, mit der in diesen Monaten Politiker mit Wahrheitsverdrehung, Auftischen von Fantasien als Tatsachen, von Verschwörungsängsten als politischer Theorien erinnert grausam an frühere, längst überwunden geglaubte Zeiten, in denen es für Propaganda, also für die Erzeugung von Fiktion ohne Faktenbasis, ein eigenes Ministerium gab. Es scheint jedoch, dass in unseren Tagen eine neue Dimension zu diesem Phänomen zugewachsen ist.

Politik hat seit jeher ein Doppelgesicht und eine Doppelmoral: Der Einsatz für die Menschen und die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen wird von vielen Politikern mit der versteckten Bedienung eigener Bedürfnisse kompensiert, vor allem materieller Wünsche (dann spricht man von Korruption) und weniger offensichtlich emotionaler Mängel (das möchte ich emotionale Korruption nennen). Die Welt zum Besseren verändern vermochten Menschen, die frei von materieller und emotionaler Korruption Politik gestalten konnten wie Nelson Mandela oder Mahatma Gandhi.

Die materielle Seite der Korruption lehnen wir alle ab; sich selbst aus öffentlichen Geldern zu bereichern, wird als schäbig und unehrenhaft betrachtet, und Politiker, die solcher Handlungen überführt werden, werden in unseren Breiten geächtet. Weniger sensibel sind wir dort, wo es um emotionale Korruption geht.

Um welche emotionalen Mängel geht es dabei? Wenn wir die narzisstischen Charakterzüge betrachten, die alle populistische Politiker gemeinsam haben, erkennen wir die Gier nach Macht und Ruhm, nach Selbstdarstellung und Anerkennung durch die Massen. Wir finden massive Ängste und Traumatisierungen am Werk, die den Hass speisen, der den Hauptgehalt ihrer Botschaften ausmacht. Oder kennen Sie einen populistischen Politiker, der Ruhe und Gelassenheit, Besonnenheit und Umsicht ausstrahlt?

Diese defekte Emotionalität kann deshalb als Korruption bezeichnet werden, weil sie eigene Charaktermängel aus einem öffentlichen Amt ausgleichen will. Es wird also die Bevölkerung mittels raffinierter Täuschung ausgenutzt, indem ihr weisgemacht wird, selber zu profitieren, wenn sie einem Hasspolitiker folgen, da ja dieser die Feinde des eigenen Wohlbefindens und Wohlstandes namhaft machen und vernichten kann.

Ein eindrucksvolles Beispiel für dieses Phänomen lieferte die Brexit-Bewegung in England. Der Führer der britischen Unabhängigkeitspartei, Nigel Farage, verkündete landauf landab, dass bei einem EU-Austritt wöchentlich 350 Millionen Pfund ins Sozialsystem statt in die Brüsseler Schlünde fließen würde. Da freut sich jeder, schließlich will jeder mehr vom Sozialsystem, wer arbeitet, braucht weniger einzuzahlen, wer krank ist, kriegt mehr Leistung, wer Pension hat, mehr Pension etc. Der Feind sitzt im Ausland, der muss beseitigt werden, und schon bricht der Wohlstand aus. Ehrlichere Politiker und an Fakten interessierte Medien versuchten, die Fiktionalität der Zahlg und die Haltlosigkeit solcher Versprechen nachzuweisen; offensichtlich mit geringem Erfolg. Nach dem Referendum verkündete Mr. Farage ohne besonderen Genierer, diese Versprechungen wären ein Fehler gewesen, nach dem Motto, jeder kann sich ja mal ein bisschen irren.

Der US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump ist mehrfach der Lüge überführt worden, ohne dass das irgendwelche Auswirkungen auf sein Verhalten noch auf das seiner Anhänger gehabt hätte (vgl. Anne Applebaum in der Washington Post vom 19. Mai 2016)

Aber der Zweck heiligt die Mittel, so denkt ein Politiker mit dieser Schlagseite: Alles, was mir hilft an die Macht zu kommen, ist billig, denn einmal an der Macht bin ich dann der große Wohltäter, den alle bewundern und lieben werden. Ich brauche jetzt keine Ahnung zu haben, wie ich das einmal bewerkstelligen werde, es genügt ja, dass ich erkenne, was die anderen falsch machen. Ich brauche nur deren katastrophe Fehler zu vermeiden.

Das Verwerfliche an solchen Einstellungen ist, dass sie die Täuschung zum Prinzip und den Hass zum Motor der Politik machen. Damit werden emotionale Energien vieler unbedarfter Menschen für die eigenen Zwecke kanalisiert, und das Erwachen kommt erst dann, wenn es zu spät ist.

Mit dem vermehrten Auftreten solcher Figuren in der Politik verschiebt sich das Schwergewicht der Debatte von der Abwägung unterschiedlicher Strategien (wir haben eine zu hohe Arbeitslosigkeit, ein Faktum, und haben verschiedene Möglichkeiten, mehr Arbeitsplätze zu schaffen) zur Frage der Faktizität: Was ist überhaupt wirklich: Das, was man gerne so hätte oder das, was der Fall ist?

Die Folge ist, dass zunehmend mehr Leute glauben, dass es Fakten gar nicht gibt, sondern dass alles ein "Narrativ" ist, also auf Wienerisch, dass Politik nichts anderes als G'schichtln-Druckn ist, und dann wählen sie diejenigen, die das am besten beherrschen: Märchen so zu erzählen, dass sie wie wahr klingen, wie es auch sein könnte oder sich abgespielt haben könnte, knapp dran an dem, was wirklich ist, aber eben raffiniert verfärbt, damit es die Zwecke des Erzählers bedient.

Postfaktische Irrationalität


Haben wir es zu tun mit postmodernen Konstruktivisten oder mit vormodernen Irrationalisten, einer Mischung aus beiden oder einer ganz neue Spezies, die sich nach Jahrzehnten der Fernsehsucht herausmutiert hat und in der handysüchtigen Generation den Bezug zum Faktischen zunehmend verliert und damit den Begriff des Faktischen systematisch desavouiert, weil die Überfülle an verfügbarer Information keine Wertung nach richtig/falsch, wirklich/erfunden zulässt?

Erschreckend an dem Begriff des Post-Faktischen ist, dass er suggeriert, dass die Epoche des Faktischen am Vergehen und drauf und dran ist, durch eine neue abgelöst zu werden, wie die Moderne durch die Postmoderne, ohne Chance, dass sich eine solche Fehlentwicklung wieder zurückkorrigieren könnte. Statt dessen hätten wir zu lernen uns zu adaptieren, indem wir werte- und verantwortungslos im postfaktischen Relativismus herumirren und Erkenntnis durch Gefühl ersetzen. Das wäre das Ende der Aufklärung, des Rationalismus, der verbindlichen Sinn- und Entscheidungsfindung im transparenten politischen Prozess, also der Errungenschaften des westlichen Modells der von Menschen- und Bürgerrechten getragenen Demokratie.

Die Fantasie an die Macht? Ja, aber nicht die neurotische.


Manchen mag es gefallen: Die Fantasie triumphiert über die Realität,  Realität, der Möglichkeitsmensch über den Wirklichkeitsmenschen. Aber wenn wir über keine Kriterien mehr verfügen, die eine neurotische, angstgenerierte von einer kreativen Fantasie unterscheiden können, treten wir in ein Zeitalter des kollektiven Wahnsinns ein, und das nicht in einem emphatisch deklamatorischen Sinn von pessimistischen Zivilisationskritikern, sondern im ganz "faktischen" Sinn: Wahnsinn im Sinn einer Geisteskrankheit, die zur Norm erhoben wird, womit die gemeinsame Konstruktion von Sinn von Zufälligkeiten und Sympathien geleitet von seelischen Leidenszuständen abhängt, ohne jede Verankerung in einer äußeren Realität, ohne Rückkoppelung mit den Abläufen in der Wirklichkeit.

Faktizität in sozialen Medien


Soziale Medien entwickeln ihren eigenen Begriff von Faktizität: Wahr im Sinn der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist, was möglichst oft geliked und geteilt wird. Deshalb eignen sich die sozialen Medien so hervorragend für postfaktische Wirklichkeitserzeugung: Es erscheint eine Nachricht, die im Sinn der Faktizität falsch ist (z.B. wird behauptet, ein politischer Mitbewerber leide an Demenz), die Nachricht pflanzt sich blitzschnell weiter und wird zur Realität in vielen Köpfen. Bevor der solchermaßen verleumdetete Politiker mit rechtlichen Schritten einschreiten kann, wird die Nachricht gelöscht - war ja nicht so gemeint. Aber sie hat sich vom Urheber schon verselbständigt und lebt eigenmächtig fort: Ich habe da irgendwo gehört, dass xy dement ist, da muss ja was dran sein.

Verlust der Realität, Verlust der Verantwortung


Überflüssig wird nach der Realität als nächstes die Verantwortung: Ich behaupte etwas, und wenn mir das dann vorgehalten wird, habe ich es so nicht gemeint. Und böse und hinterhältig sind die, die mir das vorhalten. Wer den österreichischen Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer bei der letzten TV-Konfrontation sehen konnte, hat ein schönes Beispiel für diese Taktik: Einer Lüge, Halbwahrheit, Täuschung, Übertreibung - wie auch immer es bezeichnet werden kann, in einer verwirrten jüdischen Frau eine um sich schießende palästinensische Terroristin zu sehen - überführt, stellt sich der Täter sofort als Opfer dar, der verfolgt wird von den bösen Medien und politischen Gegnern - vermutlich wohl wissend, wie stark die gestandenen und anständigen Österreicher auf Opfermythen abfahren. (Zum Nachschauen)

Solche und ähnliche rhetorische Tricks sind im Zunehmen, und die Gerichte, die sich noch auf den veraltenden Begriff der Verantwortung beziehen, haben immer das Nachsehen, weil sie im besten Fall nach lang verstrichener Zeit den Behaupter zur Verantwortung ziehen, also verurteilen und bestrafen. Der Schaden ist aber längst schon angerichtet und kann nicht mehr gutgemacht werden. Und der Schaden ist nachhaltiger: Wenn die persönliche Verantwortung durchlöchert wird, wird der gesellschaftliche Zusammenhalt durchlöchert. Wer soll da noch Verantwortung übernehmen für die Probleme, mit denen die Welt konfrontiert ist? Das World Economic Forum (WEF) hat vor kurzem zehn globale Herausforderungen namhaft gemacht, die nur in Zusammenarbeit der Länder dieser Welt gelöst werden können. Neben bekannten Themen wie Nahrungssicherung, Beschäftigung, Klimawandel und globalen Finanzen findet sich an führender Stelle die "massive digitale Fehlinformation" (Quelle).

Zum Weiterlesen:
Faktizität und Bullshit
Wird die Demokratie manipuliert?
Torheit ist nicht zu loben

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