Dienstag, 17. November 2020

Manipulation erkennen und entzaubern

Soziale Beeinflussung geschieht fortlaufend und stellt eine Grundlage unseres Soziallebens dar. Wir wollen aus den verschiedensten Gründen aufeinander einwirken: Um unsere Bedürfnisse durchzusetzen, andere zu einer Verhaltensänderung zu motivieren, Anerkennung zu bekommen, uns abzugrenzen usw. 

Zur Manipulation werden diese Aktionen unter bestimmten Bedingungen: Die Einflussnahme erfolgt unterschwellig und indirekt, wir stehen also nicht offen zu unseren Interessen und Bestrebungen, sondern wollen die anderen dazu bringen, dass sie von sich aus unsere Wünsche zu den ihren machen. Wir sparen uns die Mühe und das Risiko, uns selber zu offenbaren und dafür vielleicht abgelehnt oder kritisiert zu werden. Stattdessen versuchen wir, uns gewissermaßen bei der Hintertür ins Innere der Mitmenschen einzuschleichen und dort eine neue Software zu installieren, die dann automatisch unsere Wünsche erfüllen soll.

Typisch für die Manipulation ist also die Verschleierung der eigenen Absichten und das respektlose Übergehen der Rechte und der Integrität der Mitmenschen sowie die Verfolgung des eigenen Nutzens, gleich ob die betroffenen Personen Schaden erleiden oder nicht. 

Es gibt Manipulationen, die ohne direktes Wissen des „Täters“ geschehen, wie z.B. in der Erziehung und im Schulsystem, und solche, die geplant und absichtlich in Szene gesetzt werden, z.B. in der Werbung oder in der politischen Propaganda. Manipulation ist also häufig aus unbewussten Antrieben gespeist und wird von den Akteuren gar nicht bemerkt oder für selbstverständlich genommen. In diesem Fall stammt sie aus Überlebensstrategien, die sich in der Kindheit ausgeprägt haben.

Bei der Manipulation geht es nicht nur um Verhaltensweisen, die insgeheim bei anderen hervorgerufen werden sollen, sondern auch um Einstellungen und Sichtweisen, zu denen wir andere ohne deren bewusste Zustimmung bringen wollen. Der Nutzen dieser Zielrichtung von Manipulation ergibt sich indirekt: Indem andere Leute die eigenen Einstellungen und Werte übernehmen, können sie für unsere Interessen leichter in Dienst genommen werden. Wenn es z.B. einer Firma gelingt, spezifische Ängste vor einer Glatze oder vor Krankheitskeimen auf Türschnallen zu säen, die gleichzeitig ein Mittel bereithält, das den Ängsten abhilft, kann sie gute Geschäfte machen. Ähnlich agieren politische Parteien und Interessensgruppen vor allem auf der demagogischen und populistischen Seite. 

Die erzieherische Manipulation will oft auch in ihren Objekten, den Kindern, Einstellungen und Werte implantieren, die als besser erachtet werden. Die Kinder sollen den eigenen Rollenerwartungen angepasst und in die Erwartungsstrukturen eingepasst werden, dann brauchen sich die Eltern selber nicht in Frage stellen und in ihren Auffassungen weiterwachsen.

Psychotechniken

Zum Zweck der Manipulation werden verschiedene Psychotechniken genutzt – der US-Forscher George Simon unterscheidet rund zwanzig solcher Techniken, von der Lüge bis zum Mitläufereffekt („Alle nutzen schon das neue Pflegeshampoo”).

Bekannt ist z.B. die Manipulationstechnik der Ablenkung: Der Manipulator gibt keine direkte Antwort auf eine klare Frage, sondern lenkt das Gespräch auf ein anderes, für ihn sichereres Thema. Oder der Einsatz von Beschämung: Die Manipulatorin setzt den Gesprächspartner herab und behandelt ihn verächtlich, um Angst zu erzeugen. Damit soll er seinen Widerstand gegen die eigenen Absichten verlieren.

Die andere Seite der Manipulation stellen deren Opfer dar. Die Empfänglichkeit dafür, manipuliert zu werden, also auf einen Manipulator hereinzufallen, zeigt sich in einer ganze Liste von Persönlichkeitsmerkmalen, z.B. Naivität, geringer Selbstwert, emotionale Abhängigkeit.

Welche Persönlichkeitseigenschaften machen Menschen zu Manipulatoren? Dazu zählen alle Formen der Unverschämtheit, also der Respektlosigkeit für die Intimitäts- und Integritätsgrenzen der Mitmenschen, rücksichtloses Macht- und Gewinnstreben, die Feigheit, offen zu eigenen Wünschen zu stehen usw. 

Ist das Manipulieren unausweichlich? Können wir nicht nicht manipulieren?

Angelehnt an ein Kommunikationsaxiom von Paul Watzlawick spricht Eike Rappmund (Praxis-Handbuch Manipulation. Tredition Verlag 2014) davon, dass wir nicht nicht manipulieren können: “Wir haben gelernt, zu manipulieren, um zu bekommen, was wir (zum Überleben) brauchen. Und wir haben gelernt zu akzeptieren, dass dies auch für unser Gegenüber gilt.” Aufgrund unserer Herkunft aus tribalen Sozialstrukturen haben wir gelernt, dass wir andere Menschen zu unseren Gunsten beeinflussen müssen, um unser Überleben zu sichern. Da wir wissen, dass die anderen die gleichen Strategien verfolgen, ist das Manipulieren ein verbreitetes soziales Phänomen, das unverdientermaßen einen schlechten Ruf genießt, so die These des Buches. Ich möchte diese Form der “Reinwaschung” der Manipulation im Folgenden kritisch erörtern. 

Die frühen Sozialstrukturen, die von Menschen gebildet wurden, waren nämlich nicht darauf ausgerichtet, dass die einzelnen Individuen ihr Überleben durch Manipulation sichern müssen. Vielmehr wurde darauf geachtet, dass die Bedürfnisse von allen Mitgliedern der Gemeinschaft möglichst ausgeglichen befriedigt werden, sodass niemand um sein Überleben fürchten muss. Die Überlebensbedrohungen befanden sich im Außen - feindliche Menschengruppen, wilde Tiere, Naturkatastrophen. 

Die Individualisierung des sozialen Überlebens ist eine spätere Entwicklung, die vor allem mit der Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems in Verbindung gebracht werden kann. Jeder muss selber schauen, dass er/sie nicht draufgeht. Also ist es wahrscheinlich, dass sich das Phänomen der Manipulation erst in diesem Entwicklungsstadium der Menschheit herausgebildet hat. Die Anwendung von Manipulation setzt das Schwinden des Vertrauens in die Bezugsgruppe voraus. Wir wollen unseren Vorteil erschwindeln, am besten so, dass die andere Person gar nicht merkt, dass sie zu unserem Nutzen agiert, sondern meint, sie hätte selbst am meisten davon. Wir wollen also andere hintergehen und riskieren die Zugehörigkeit zum sozialen Netz, mit der Gewissheit, dass wir es nicht wirklich brauchen, sondern uns jederzeit eine neue Bezugsgruppe erschaffen können.

Die Liste der Manipulationstechniken umfasst die verschiedensten Formen eines misstrauensgeprägten Verhalten, bei dem nicht das gemeinsame und geteilte Wohl, sondern der individuelle Nutzen – zur Not auch auf Kosten der anderen – im Vordergrund steht. Manipulation setzen wir dort ein, wo wir mit „redlichen” Mitteln, also mit der direkten und offenen Kommunikation unserer Bedürfnisse, nicht weiterkommen. In den meisten Fällen ist uns gar nicht bewusst, dass wir manipulativ vorgehen, sondern es unterläuft uns dieses Verhalten, weil wir uns hilflos fühlen und keine andere Strategie zur Hand haben, um unsere Interessen durchzubringen.

Häufig sind es Erfahrungen mit dem Manipuliertwerden, die wir aus unserer Kindheit mitschleppen und die wir dann im Bedarfsfall anwenden, wenn es in einer sozialen Situation eng wird. Man könnte sagen, dass wir später nicht nicht manipulieren können, wenn wir in unserer Kindheit laufend manipuliert wurden. 

Verwirrungsstrategien

Manipulationen verwirren den Wirklichkeitssinn. Als Kinder hatten wir ein feines Gespür über das, was echt und ehrlich ist und was nicht. Fehlende Ehrlichkeit konnten wir jedoch nicht einordnen und benennen, sie hinterließ nur einen Eindruck von Unklarheit und Unstimmigkeit. Als Kinder reagieren wir auf solche versteckten Botschaften, indem wir den Fehler bei uns suchen und die Außenwelt entlasten. Wir versuchen, durch Anpassung oder Widerstand aus der Verwirrung herauszukommen. Aber ein Stück des Vertrauens ist zerstört, und aus dem Misstrauen heraus neigen wir später selber dazu, zu manipulieren statt offen unsere Wünsche und Bedürfnisse zu kommunizieren.

Wir manipulieren also aus einer ursprünglichen Not heraus, und leiten daraus dann später die Rechtfertigung ab, Manipulationsstrategien gewerbsmäßig oder in anderer Weise gezielt einzusetzen. Wir reden uns ein, dass das die anderen auch machen und beruhigen damit unser Gewissen.

Doch sind die Folgen solcher Einstellungen über kurz oder lang äußerst bedenklich: Manipulative Strategien untergraben das Vertrauen, das eine Gesellschaft zusammenhält und das Zusammenleben und den friedlichen Austausch ermöglicht. Deshalb müssen alle verdeckten Aktionen, die dieses Vertrauen für eigene Zwecke ausnutzen wollen, aufgezeigt und angeprangert werden. 

Die Werbewirtschaft schrammt am Rand dieses Phänomens entlang, weil wir wissen oder wissen sollten, dass es bei Werbebotschaften nicht um Ehrlichkeit und Wahrheit geht, sondern um den Zweck des Geschäftemachens. Die Politik gilt aus einem ähnlichen Grund als „garstiges Lied”, als schmutziges Feld voll von manipulativen Verdrehungen. Das Umsichgreifen und Verbreiten der Fake-News mit Hilfe der „sozialen” Plattformen eröffnet früher noch ungeahnte Dimensionen für die Massenmanipulation, vor der wir uns tagtäglich wappnen müssen.

Der Manipulation die Stirn bieten

Die Gegenmittel zur Manipulation haben alle mit Selbststärkung zu tun: Aufbauen und Verankern des Selbstwertes und der Selbstverantwortung, Verfeinern des inneren Spürens (um Authentizität und Verlogenheit unterscheiden zu können), Schulung einer kritischen Unterscheidungsfähigkeit, Wahrheitssuche und Faktenprüfung. 

Die eigenen Tendenzen, andere zu manipulieren, sollten durch offene Kommunikation und das Ausdrücken der eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Interessen ersetzt werden. Das zwischenmenschliche Vertrauen wächst nur auf solchem Grund. Zwischenmenschliches Vertrauen wächst an Selbstvertrauen und umgekehrt.

Zum Weiterlesen:
Wird die Demokratie von Manipulatoren gekidnappt?
Die Begrenzung narzisstischer Manipulation
Astroturfing - Manipulation vom feinsten


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