Freitag, 30. Juni 2023

Der "Mainstream" als Kampfbegriff

Mit dem Begriff „mainstream“ bezeichnen wir einen Trend, eine Mehrheitsmeinung, eine Strömung in der Gesellschaft. In der Kultur wird er oft für den Populargeschmack verwendet, also für das, was den meisten gefällt. Es kommt dann immer wieder dazu, dass sich Gegenströmungen entwickeln, die dem populären Massengeschmack entgegen gerichtet sind, wie z.B. die Punk-Bewegung, die sich als Kontrast zur Pop-Kultur verstanden hat. Alles, was dem Mainstream zugeordnet wird, ist aus der Sicht der neuen Richtung per se schon schlecht. 

Es ist die Dynamik von Durchschnitt und Avantgarde, die sich in vielen kulturellen Phänomenen widerspiegelt und die die kulturelle Entwicklung vorantreibt. Die Minderheiten werden zunächst kritisiert und angegriffen, was sie zu einer weiteren Radikalisierung treibt, bis das Neue irgendwann in den Mainstream übernommen wird. Zerschlissene Jeans waren zunächst Notwendigkeiten für arme Menschen, die sich keine neue Kleidung leisten konnten, dann der provokante Ausdruck des Außenseitertums in einer Protestbewegung und schließlich ein Modeaccessoire, mit dem sich die Wohlhabendsten schmücken. 

Jeder neue Trend beginnt in einer Minderheit, dann bildet sich eine frühe Mehrheit, und sobald die Wirtschaft ein Geschäft wittert und die Werbung aufspringt, wird das, was vorher noch verächtlich abgewertet wurde, zum absoluten Muss für alle, und wer sich jetzt noch verweigert, gilt als fader Muffel. Inzwischen hat sich ganz wo anders schon wieder eine neue Minderheit gebildet und erschreckt die Leute im Zentrum der Gesellschaft mit einer neuen Provokation, bis auch dieses Phänomen wieder vermarktet wird und alle für hübsch befinden, was sie vorher als hässlich verabscheuten. 

Mainstream in der politischen Debatte

Vor einiger Zeit wurde der Mainstream-Begriff in die politische Debatte eingeführt, und zwar vor allem als Kampfbegriff. Die Medienlandschaft wird dabei in zwei Kategorien geteilt: Öffentlich-rechtliche Medien sowie Zeitungen und Magazine, die von Wirtschaftsgruppen finanziert werden, auf der einen Seite, und alternativen Informationsquellen. Diese Einteilung nehmen vor allem Personen und Gruppen vor, die glauben, sich in einer Außenseiterposition zu befinden. Sie verstehen sich als Avantgarde und denken, sie wissen und verstehen vieles besser als die einfältige Mehrheit.

Der Vorwurf der Manipulation

Deutlich hervorgetreten ist dieses Phänomen vor fast zehn Jahren, als Russland 2014 die Krim annektierte. Die Verurteilung dieser Aktion war im Westen einhellig und wurde auch von den meisten Medien übernommen. Andere wieder vermuteten eine mediale Gleichschaltung hinter dieser Einhelligkeit und suchten alternative Sichtweisen, wie sie z.B. von den russischen Medien angeboten wurden. Auf diese Weise konnte die russische Aggression entschuldigt werden, die einen Bruch des Völkerrechts bedeutete und die erste militärisch erzwungene Gebietserweiterung in Europa nach dem zweiten Weltkrieg war. Die Entgegensetzung von Mainstream und alternativen „Wahrheiten“ wurde zu einem politischen Kampfmittel.

Die Notwendigkeit der Medienkritik

Die Suche nach alternativen Sichtweisen ist an und für sich eine Form der Bewusstseinserweiterung und ist ein wichtiger Bestandteil jeder wissenschaftlichen Forschung. Sie würdigt die Unterschiedlichkeit der Menschen und das kreative Potenzial, das im Eröffnen von neuen Perspektiven steckt. Eine konstruktive Medienkritik ist ein zentrales Element in der Demokratie, in der die verschiedenen Medien eine tragende und korrigierende Rolle spielen sollen, aber oft durch wirtschaftliche Verflechtungen bestimmte Interessen vertreten. Dann bleibt die objektive Berichterstattung auf der Strecke und die Informationen werden gefiltert. Die Medien können ihre aufklärende Rolle in der Demokratie nur spielen, wenn sie unabhängig sind, und die Medienkritik muss auf interessengeleitete Meinungsbildung aufmerksam machen und einseitige oder ideologisch gefärbte Berichterstattungen analysieren und ergänzen. Sonst gelten die Aussagen von Marx und Engels: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken.“

Deshalb ist es autoritären Führungspersonen, die demokratisch an die Macht kommen, ein wichtiges Anliegen, die Medien zu kontrollieren und unter ihren Einfluss zu kriegen, damit sie ihnen nicht mit lästiger Kritik in die Suppe spucken, sondern beim Machterhalt dienlich sein sollen. Beispiele aus Ungarn und der Türkei zeigen, wie erfolgreich diese Strategie ist, wenn sie konsequent durchgezogen wird. Die Mächtigen sind kaum zu entthronen, weil ihre Gegner in den Medien kaum am Rande vorkommen und die meisten Leute nur mehr an einen Informationskanal angeschlossen sind.

Medienkritik als Gesellschaftskritik

In der politischen Debatte wird die Kritik an  bestimmten Medien allerdings oft mit grundlegenden Kritikpunkten vermischt. Alternative Narrative werden gerne mit einem höheren Wahrheitsanspruch verbunden als die „offizielle“ Erzählweise, also jene, die von den „Mainstream-Medien“ angeboten wird. Der Kritikansatz dahinter zielt auf die Macht in der Gesellschaft, die einem homogenen Block zugeordnet wird, der alles umfasst, was aus der Sicht der eigenen Ideologie als menschenfeindlich und demokratiebedrohlich angesehen wird. Deshalb ist auch die Rede von den „Systemmedien“ oder von der „Lügenpresse“ (Begriffe aus der NS-Propaganda), also gewissermaßen die Sprachrohre der Eliten, von denen behauptet wird, dass sie das System steuern. 

Das antielitäre Misstrauen ist ein wichtiges Korrektiv gegen die Machtanhäufungen bei denjenigen, die schon am meisten Macht haben. Aber oft fehlt die differenzierte Analyse und die Überprüfung der Fakten, und es werden Informationen schon allein deshalb in Bausch und Bogen als unwahr etikettiert, weil sie aus einem bestimmten Kanal kommen.

Die Wahrnehmung der Medienlandschaft als Block oder Koloss, als homogene, gleichgeschaltete Meinungsmache, die nichts anderes neben sich zulässt und jede Kritik diffamiert, ist einseitig und ideologiegesteuert. Wenn dahinter noch anonyme Drahtzieher angenommen werden, die alle Fäden in der Hand haben und die Welt dirigieren, dann sind wir in der verworrenen Welt der Verschwörungstheorien gelandet. Der Übergang von einer grundsätzlich kritischen Haltung gegenüber den Medien zu solchen Theoriegebäuden ist oft fließend. Unbemerkt wird der Boden der Realität verlassen und durch Fantasien und Projektionen ersetzt.

Der Stolz des Besserwissens

Es ist ein Zeichen eines übertriebenen Stolzes, über „besseres“ Wissen zu verfügen als die „dumme Masse“, die nur nachbetet, was ihnen die Meinungsmacher vorkauen. Man bezieht sein Wissen nicht aus einem Einheitskanal, sondern aus ausgewählten und besonderen, also auch elitären Quellen, die angeblich nicht der Machtkontrolle unterliegen, die aber im Dunklen bleiben. 

Dieser Stolz wirkt dabei mit, dass dieses Wissen mit allen Mitteln verteidigt und allen anderen mit missionarischem Eifer gepredigt wird. Allzu schnell wird es zur Überzeugung und schließlich noch zu einem Bestandteil der eigenen Identität. Dann darf es keine Zweifel mehr geben, dann ist jede Gegenstimme ein Beweis für die Manipulation durch die bösen Elitemedien.

Aufklärung und Wissenschaft

Das Pathos der Aufklärung hat allerdings nur seine Berechtigung, wenn die Quellen für die verbreiteten Ansichten offengelegt sind und die Faktenlage einer Überprüfung standhält. Wirkliche Aufklärung unterliegt den Standards der Wissenschaftlichkeit: Jede Theorie muss grundsätzlich falsifizierbar sein und ihr Zustandekommen muss nachvollziehbar sein. Alle Aussagen gelten vorläufig, bis sie durch bessere ersetzt werden. Eine Theorie der Aufklärung kann nur besser sein als eine andere, indem sie der Realität näherkommt, aber verfügt immer nur über einen relativen Wahrheitsgehalt. 

Das sind die Ansprüche, denen eine aufgeklärte Medienkritik folgen sollte. Pauschale Abwertungen mit Kampfbegriffen wie Mainstream-Lügen und ähnliches gehören auf ideologische Streitbühnen, in denen eingeschworene Meinungsblasen aufeinandertreffen, die sich ihre Auseinandersetzungen liefern, ohne in der Erkenntnis weiterzukommen.


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