Unterstellungen kommen immer wieder vor in der menschlichen Kommunikation. Damit ist gemeint, dass wir Annahmen über das Innere unserer Gesprächspartner bilden, die uns als real erscheinen, ohne dass wir dafür eine stichhaltige Begründung haben. Auf der juridischen Ebene können Unterstellungen schwerwiegende Folgen haben, wenn sie den Tatbestand der Verleumdung oder der üblen Nachrede erfüllen. Der Rechtsstaat schützt in diesen Fällen das Ansehen aller Staatsbürger vor ungerechtfertigter öffentlicher Beschämung. Erfolgen Unterstellungen hinterrücks, so bilden sie die Grundlage für Mobbing. In der Alltagskommunikation erzeugen sie Unstimmigkeiten und Konflikte oder werden in solchen als Angriffsinstrument verwendet.
Sie betreffen Absichten, Gefühle, Gedanken
sowie Werte und Haltungen:
- Absichten: Du bist mir absichtlich auf die Zehen getreten.
- Gefühle: Du magst mich nicht.
- Gedanken: Du denkst immer abwertend über mich.
- Werte und Haltungen: Du bist ein Chauvinist (Rassist, Linker, Rechter)
Politische Propaganda und Unterstellungen
In der politischen Debatte gehören
Unterstellungen offenbar zum täglichen Kleingeld der Scharmützel. Schnell wird
dem Gegner Käuflichkeit oder Verlogenheit vorgeworfen. Werden politische
Akteure direkt auf diese Weise angegriffen, kommt es häufig zu
Gerichtsverfahren, in denen dann das Zutreffen der Unterstellungen untersucht
wird.
Auch auf der internationalen Ebene wird fleißig
mit Unterstellungen gearbeitet und für Außenstehende ist es oft schwierig, die
Sachverhalte zu klären und zu unterscheiden, wo es um bloße Propaganda oder um
Fakten geht. Aktuelle Beispiele: Ukraine: Russland bombardiert absichtlich
Kindergärten und Spitäler. Wir wissen, dass Kindergärten und Spitäler
vernichtet wurden; wir wissen aber nicht, ob es Absicht oder Versehen war.
Russland: Die Ukraine produziert biologische Kampfstoffe. Es gibt aber bisher keine
Hinweise oder Beweise. Propagandistische Unterstellungen werden in diesem Fall
wie auch in anderen benutzt, um die eigenen Angriffs- und Zerstörungsabsichten
zu rechtfertigen.
Unterstellungen in Alltagskonflikten
Wenn wir uns in Auseinandersetzungen bedroht
fühlen, greifen wir manchmal zum Mittel der Unterstellung. Es besteht darin,
der anderen Person Gedanken, Gefühle oder Absichten anzuhängen, so, als wüssten
wir genau, was in der anderen Person abläuft. Wir sind gerade gefangen in den
eigenen Gefühlen, sind verletzt und verärgert, weil uns die andere Person
unrecht getan hat und wehren uns, indem wir dem Gegenüber unsere Mutmaßungen unterjubeln.
Wir verwechseln unser Spekulieren und Fantasieren mit dem Inneren unseres
Gegenübers. In solchen Zusammenhängen verwenden wir Äußerungen wie: „Du hörst
mir nicht zu.“ (Woher wollen wir das wissen?) „Du verstehst mich nicht.“ (Könnte
sein oder auch nicht!)
Eine Gangart wird zugelegt, wenn Sätze
kommen wie: „Du willst mir die Laune verderben, wenn du mich so unfair
kritisierst.“ „Du musst mich hassen, wenn du so etwas zu mir sagst.“ „Du kannst
nur Böses über mich denken, wenn du dich so verhältst.“
Wir vermeinen in diesen Situationen, dass
wir über die besondere Gabe des Gedanken-, Gefühle- oder Absichtenlesens
verfügen, die wir vor allem dann aktivieren, wenn wir uns durch andere Personen
bedroht, verletzt oder beschämt fühlen. Wir tun so, als ob die Mitmenschen wie
offene Bücher für uns sind, die wir nur aufschlagen müssen, und schon wissen
wir, was da los ist und können diese Erkenntnisse gegen sie verwenden. Tatsächlich
aber blättern wir dauernd in unseren eigenen Notizen und in den alten
Aufzeichnungen aus dem Archiv unseres defensiven Denkens mit seinen selbstkonstruierten
Annahmen, Erwartungen, Vermutungen und Konzepten.
Wenn wir namhaft und dingfest machen
können, was im Gegenüber gerade abläuft, glauben wir, die Situation kontrollieren
zu können. Wir haben die andere Person durchschaut und ihre bewussten und
unbewussten Antriebe bloßgelegt. Damit verringert sich das Ausmaß der
Bedrohung. Und wir können die andere Person in einen schamvollen Zustand
versetzen, der sie außer Gefecht setzt und wehrlos macht. Sie ist aufgeblättert,
und es liegt zu Tage, wo die Ursache und die Schuld am Zerwürfnis zu finden ist.
Sie muss klein beigeben und ihre Mangelhaftigkeit und Schuld einbekennen, weil
sie durchschaut und damit ihrer Waffen entledigt ist. Wenn wir der anderen
Person auf den Kopf zusagen können, was sich in ihrem Inneren abspielt, soll
sie Einsicht zeigen und ihr Verhalten sofort ändern. Wir gewinnen damit eine
Machtposition, von der wir uns Schutz erhoffen. Denn unser eigenes Inneres
bleibt unberührt, während das der anderen Person im kritischen Rampenlicht
steht.
Psychologisieren
Unterstellungen dienen folglich als
Machtmittel zur Durchsetzung der eigenen Sicht auf die Dinge. Meist bedienen wir
uns dabei des Psychologisierens. Denn die Psychologie stellt uns viele
begriffliche Möglichkeiten zur Verfügung, mit denen wir unsere Projektionen anbringen.
Menschen mit psychologischer Bildung oder Halbbildung nutzen deshalb gerne
psychologisch aufgeladene Unterstellungen: „Du solltest diesen Ärger deiner
Mutter umhängen, nicht mir.“ „Du denkst wieder einmal wie dein Vater.“
Allerdings wissen wir aus der Psychologie
ebenfalls: Nicht nur die Fantasien, die wir über andere und deren Innenleben
entwickeln, gehören zu uns, sondern auch deren Wurzeln und Hintergründe. Es
sind meistens Ängste und Beschämungserfahrungen, die wir von früher kennen und
die wir dann in die andere Person projizieren, wenn in uns ein ähnliches Gefühl
auftaucht, wie eines, das wir schon einmal unter unangenehmen Umständen erlebt
haben. Wir sollten dafür die Verantwortung übernehmen, statt sie dem Gegenüber
aufzuladen.
Zu diesem Zweck lehrt uns die Psychologie,
Feedback-Sätze mit „Ich“ zu beginnen statt mit „Du“. Es wird viel schwieriger,
eine Unterstellung vorzunehmen, wenn wir eine Ich-Botschaft wählen: „Ich habe
das Gefühl, du verstehst mich nicht.“ Indem die Perspektive gewechselt wird,
wird die Angriffsenergie entschärft. Der Sprecher bleibt im eigenen Rayon und
teilt sich aus seiner Welt mit. Die Tatsachenbehauptung wird auf eine Vermutung
zurückgestuft. Es bleibt nur die Unklarheit, ob es ein Gefühl namens
„der-andere-versteht-mich-nicht“ gibt oder ob das nicht eher eine mentale
Konstruktion darstellt. Manchmal, und das ist auch eine verbreitete psychologisierende
Unsitte, wird der Begriff „Gefühl“ verwendet, um etwas Untrügliches und
Unhinterfragbares, gewissermaßen einen Fixstern in die Debatte einzubringen. Gegen
Gefühle kann man nicht argumentieren. Würde man hingegen sagen, man hätte den
Eindruck, nicht verstanden zu werden, wäre das neutraler und nähme den
manipulativen Gehalt weg.
Beschämungsfolgen
Bei genauerem Hinsehen erkennen wir, wie wir
die Beschämung in mehrfacher Weise nutzen: Zum einen dringen wir in die andere
Person ein und kehren ihr Inneres nach außen. Wir zerren Intimes an die
Öffentlichkeit, was bei der anderen Person Scham auslöst. Weiters geben wir vor,
dass wir besser als die Angesprochenen selbst wissen, was in ihnen ist, nämlich
was ihre versteckten und verborgenen Impulse und Regungen anbetrifft. Wir
wollen ihnen glaubhaft machen, dass ihre Eigenwahrnehmung schlechter ist als
unsere Einsichten von außen. Wir werten sie ab und beschämen sie dadurch.
Schließlich bietet der Inhalt des Unterstellten – die böse Absicht, der
schlechte Gedanke, das feindliche Gefühl – Anlass für Beschämung und will auch
beschämen: Es sind Mängel und Fehlerhaftigkeiten, die angeprangert werden und
die betroffene Person in ein schlechtes Licht stellen, und die Veröffentlichung
soll dazu führen, dass es zu einer Veränderung kommt, sodass das verletzende
Verhalten nicht mehr vorkommt. Da wir selber über Erfahrungen verfügen, in
denen wir als Folge einer Beschämung unser Verhalten verändert haben – z.B.
indem wir in der Folge bestimmte Gefühlsäußerungen, verbale Wendungen oder
Handlungen unterdrückt haben –, meinen wir, dass das Machtmittel der Beschämung
auch im aktuellen Fall Abhilfe schaffen wird.
Natürlich hängt es von der Reaktion der
angesprochenen Person ab, sie kann sich fügen und verändern. In ihr verbleibt
aber das gleiche innere Ressentiment, das wir selber aus unserer früheren
Beschämungssituation kennen und das mit dem heimlichen Wunsch verbunden ist, es
einmal heimzuzahlen. Es kann aber auch zur Abwehr kommen, zu einem Gegenangriff
oder einer Gegenunterstellung, und die Auseinandersetzung verschärft sich und
eskaliert. Es kann die andere Person auch erkennen, was abläuft, und die
Unterstellung als Unterstellung benennen und sich dagegen abgrenzen. In all
diesen Fällen zeigt sich, dass das Kommunikationsmittel der Unterstellung
keinen wirklichen Erfolg bringt, sondern die Beziehungssituation zusätzlich
anheizt und verschlechtert.
Manchmal fühlt sich jemand ertappt oder
erkannt – die Unterstellung hat, wenn vielleicht nicht in allen Aspekten, doch
einen wunden Punkt getroffen. In den meisten Fällen wird dann die Abwehr
besonders heftig ausfallen oder zum totalen Rückzug führen. Es bedarf dann
einer hohen Schamkompetenz und integrer Reife, zu sagen, dass etwas an dem, was
vermutet oder interpretiert wurde, stimmt und dass man sich damit
auseinandersetzen wird.
Unklare Grenzen zwischen innen und außen
Die Tendenz zum Unterstellen stammt aus einer
Schwäche in der Unterscheidungsfähigkeit zwischen innen und außen. Wir verfügen
über keine klare Grenze zwischen dem, wo wir selber sind und wo wir aufhören,
und dem, wo der andere ist und aufhört. Diese Schwäche stammt aus Erfahrungen
mit Grenzüberschreitungen. Wenn Eltern oder Erziehungspersonen die physischen
oder emotionalen Grenzen des Kindes nicht respektieren z.B. durch Gewalt oder
Bedürfnismanipulation, wird es schwierig für das Kind, ein realitätsgerechtes
Gefühl für die eigenen Grenzen zu bilden. Sie werden zu durchlässig und schwammig. Aus den unklaren,
konfluenten Grenzen entsteht die Grundlage für Unterstellungen, die sich als Gefühls-
und Gedankenlesen ausgeben: So wie meine Grenzen überschritten wurden,
überschreite ich sie jetzt. Die eigene Sphäre dehnt sich nach Belieben aus,
weil sie von der Sphäre des anderen nicht unterschieden ist. Deshalb weiß ich
besser als du selber, was in dir abläuft.
Alle Unterstellungen, die mit Projektionen
arbeiten, stammen also aus erlittenen Grenzverletzungen. Häufig geschieht dies
durch Fehlinterpretationen der eigenen Bedürfnisse: Eltern „lesen“ die
Bedürfnisse ihrer Kinder falsch und geben ihnen, was sie nicht brauchen,
während sie ihnen das vorenthalten, was sie bräuchten. Kinder leiten aus
solchen Erfahrungen ab, dass sie selber falsche Bedürfnisse haben und dass sie die
Unterstellungen ihrer Eltern zu den richtigen Bedürfnissen führt. Sie verlernen
dabei, ihrem eigenen inneren Sinn zu vertrauen und können deshalb auch dem
inneren Sinn von anderen nicht vertrauen. Sie lernen, stellvertretend zu fühlen,
statt sich selber. Denn sie müssen auch lernen, die Eltern zu manipulieren, um
zumindest einige der Eigeninteressen durchbringen zu können.
Die Beschämung, die mit dem Prozess der
Uminterpretation der eigenen Bedürfnisse einhergeht, wird dann später anderen
durch den Vorgang der Unterstellung zugefügt. Da die eigenen Grenzen nicht
geachtet wurden, gelingt es später nicht, die Grenzen anderer zu achten. Es
besteht kein klares Gefühl dafür, was ein respektvoller Umgang mit Grenzen sein
könnte. Im Ernstfall, wenn es zu kommunikativen Spannungen kommt, wird das
Grenzüberschreiten mittels Unterstellungen zur Waffe. Ich dringe in die
Innenwelt des anderen ein, so wie in meinen Innenraum eingedrungen wurde. So,
wie andere besser wussten als ich selber, was in mir ist , weiß ich jetzt
besser, was in anderen ist, als sie selber.
Wie können wir mit Unterstellungen umgehen?
Zunächst sollten wir in uns selber
überprüfen, ob die Aussage, die die Person über uns trifft, zutrifft oder
nicht. Ist uns klar, dass wir nicht fühlen, denken oder beabsichtigen, was uns
angedichtet wird, sollten wir uns klar und unmissverständlich dagegen
abgrenzen: „Ich sehe – erlebe – fühle es so und nicht so. Ich habe diese
Absichten und nicht jene.“ Wir sind die Experten für unsere eigene Innenwelt,
wir wissen, was da stimmt und was nicht. Wir verfügen über die Fakten, die
andere Person hat nur ihre Fantasie.
Jedenfalls sollten wir alles, was uns als
Unterstellung erscheint, nicht einfach übergehen. Denn das könnte die
unterstellende Person in ihren Meinungen über uns befestigen und unseren Ruf
und unser Ansehen schädigen. Es ist wichtig, auf die Klärung der Faktizität und
Authentizität zu dringen, um uns selbst und den Kommunikationsraum frei zu
halten von Projektionen und manipulativer Machtausübung. Wir dürfen uns auf
keinen Fall die Oberhoheit über unseren Innenraum streitig machen lassen und sollten
alles, was da hinein interpretiert wird, ruhig und entschieden zurückweisen. Wir
sind für unseren Grenzschutz zuständig und
Ein freundlich und unterstützend gemeintes
Feedback stellt ein anderes Kaliber dar als offen oder versteckt aggressive
Unterstellungen mit Vorwurfsgehalt und Änderungsappellen. Es ist die Absicht,
die den Unterschied macht. Und wir sollten uns immer vergewissern, welche Absicht
die andere Person hat, indem wir rückfragen. Denn aus unserem eigenen Spüren
heraus wissen wir nur, was in uns selber los ist; für das Außen brauchen wir
andere zusätzliche Quellen, um zur Gewissheit zu gelangen.
Zum Weiterlesen:
Psychologisieren - eine moderne Untugend
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