Samstag, 30. April 2022

Unterstellungen und ihre Ursprünge

Unterstellungen kommen immer wieder vor in der menschlichen Kommunikation. Damit ist gemeint, dass wir Annahmen über das Innere unserer Gesprächspartner bilden, die uns als real erscheinen, ohne dass wir dafür eine stichhaltige Begründung haben. Auf der juridischen Ebene können Unterstellungen schwerwiegende Folgen haben, wenn sie den Tatbestand der Verleumdung oder der üblen Nachrede erfüllen. Der Rechtsstaat schützt in diesen Fällen das Ansehen aller Staatsbürger vor ungerechtfertigter öffentlicher Beschämung. Erfolgen Unterstellungen hinterrücks, so bilden sie die Grundlage für Mobbing. In der Alltagskommunikation erzeugen sie Unstimmigkeiten und Konflikte oder werden in solchen als Angriffsinstrument verwendet.

Sie betreffen Absichten, Gefühle, Gedanken sowie Werte und Haltungen:

  • Absichten: Du bist mir absichtlich auf die Zehen getreten.
  • Gefühle: Du magst mich nicht.
  • Gedanken: Du denkst immer abwertend über mich.
  • Werte und Haltungen: Du bist ein Chauvinist (Rassist, Linker, Rechter)

Politische Propaganda und Unterstellungen

In der politischen Debatte gehören Unterstellungen offenbar zum täglichen Kleingeld der Scharmützel. Schnell wird dem Gegner Käuflichkeit oder Verlogenheit vorgeworfen. Werden politische Akteure direkt auf diese Weise angegriffen, kommt es häufig zu Gerichtsverfahren, in denen dann das Zutreffen der Unterstellungen untersucht wird.

Auch auf der internationalen Ebene wird fleißig mit Unterstellungen gearbeitet und für Außenstehende ist es oft schwierig, die Sachverhalte zu klären und zu unterscheiden, wo es um bloße Propaganda oder um Fakten geht. Aktuelle Beispiele: Ukraine: Russland bombardiert absichtlich Kindergärten und Spitäler. Wir wissen, dass Kindergärten und Spitäler vernichtet wurden; wir wissen aber nicht, ob es Absicht oder Versehen war. Russland: Die Ukraine produziert biologische Kampfstoffe. Es gibt aber bisher keine Hinweise oder Beweise. Propagandistische Unterstellungen werden in diesem Fall wie auch in anderen benutzt, um die eigenen Angriffs- und Zerstörungsabsichten zu rechtfertigen.

Unterstellungen in Alltagskonflikten

Wenn wir uns in Auseinandersetzungen bedroht fühlen, greifen wir manchmal zum Mittel der Unterstellung. Es besteht darin, der anderen Person Gedanken, Gefühle oder Absichten anzuhängen, so, als wüssten wir genau, was in der anderen Person abläuft. Wir sind gerade gefangen in den eigenen Gefühlen, sind verletzt und verärgert, weil uns die andere Person unrecht getan hat und wehren uns, indem wir dem Gegenüber unsere Mutmaßungen unterjubeln. Wir verwechseln unser Spekulieren und Fantasieren mit dem Inneren unseres Gegenübers. In solchen Zusammenhängen verwenden wir Äußerungen wie: „Du hörst mir nicht zu.“ (Woher wollen wir das wissen?) „Du verstehst mich nicht.“ (Könnte sein oder auch nicht!)

Eine Gangart wird zugelegt, wenn Sätze kommen wie: „Du willst mir die Laune verderben, wenn du mich so unfair kritisierst.“ „Du musst mich hassen, wenn du so etwas zu mir sagst.“ „Du kannst nur Böses über mich denken, wenn du dich so verhältst.“

Wir vermeinen in diesen Situationen, dass wir über die besondere Gabe des Gedanken-, Gefühle- oder Absichtenlesens verfügen, die wir vor allem dann aktivieren, wenn wir uns durch andere Personen bedroht, verletzt oder beschämt fühlen. Wir tun so, als ob die Mitmenschen wie offene Bücher für uns sind, die wir nur aufschlagen müssen, und schon wissen wir, was da los ist und können diese Erkenntnisse gegen sie verwenden. Tatsächlich aber blättern wir dauernd in unseren eigenen Notizen und in den alten Aufzeichnungen aus dem Archiv unseres defensiven Denkens mit seinen selbstkonstruierten Annahmen, Erwartungen, Vermutungen und Konzepten.

Wenn wir namhaft und dingfest machen können, was im Gegenüber gerade abläuft, glauben wir, die Situation kontrollieren zu können. Wir haben die andere Person durchschaut und ihre bewussten und unbewussten Antriebe bloßgelegt. Damit verringert sich das Ausmaß der Bedrohung. Und wir können die andere Person in einen schamvollen Zustand versetzen, der sie außer Gefecht setzt und wehrlos macht. Sie ist aufgeblättert, und es liegt zu Tage, wo die Ursache und die Schuld am Zerwürfnis zu finden ist. Sie muss klein beigeben und ihre Mangelhaftigkeit und Schuld einbekennen, weil sie durchschaut und damit ihrer Waffen entledigt ist. Wenn wir der anderen Person auf den Kopf zusagen können, was sich in ihrem Inneren abspielt, soll sie Einsicht zeigen und ihr Verhalten sofort ändern. Wir gewinnen damit eine Machtposition, von der wir uns Schutz erhoffen. Denn unser eigenes Inneres bleibt unberührt, während das der anderen Person im kritischen Rampenlicht steht.

Psychologisieren

Unterstellungen dienen folglich als Machtmittel zur Durchsetzung der eigenen Sicht auf die Dinge. Meist bedienen wir uns dabei des Psychologisierens. Denn die Psychologie stellt uns viele begriffliche Möglichkeiten zur Verfügung, mit denen wir unsere Projektionen anbringen. Menschen mit psychologischer Bildung oder Halbbildung nutzen deshalb gerne psychologisch aufgeladene Unterstellungen: „Du solltest diesen Ärger deiner Mutter umhängen, nicht mir.“ „Du denkst wieder einmal wie dein Vater.“

Allerdings wissen wir aus der Psychologie ebenfalls: Nicht nur die Fantasien, die wir über andere und deren Innenleben entwickeln, gehören zu uns, sondern auch deren Wurzeln und Hintergründe. Es sind meistens Ängste und Beschämungserfahrungen, die wir von früher kennen und die wir dann in die andere Person projizieren, wenn in uns ein ähnliches Gefühl auftaucht, wie eines, das wir schon einmal unter unangenehmen Umständen erlebt haben. Wir sollten dafür die Verantwortung übernehmen, statt sie dem Gegenüber aufzuladen.

Zu diesem Zweck lehrt uns die Psychologie, Feedback-Sätze mit „Ich“ zu beginnen statt mit „Du“. Es wird viel schwieriger, eine Unterstellung vorzunehmen, wenn wir eine Ich-Botschaft wählen: „Ich habe das Gefühl, du verstehst mich nicht.“ Indem die Perspektive gewechselt wird, wird die Angriffsenergie entschärft. Der Sprecher bleibt im eigenen Rayon und teilt sich aus seiner Welt mit. Die Tatsachenbehauptung wird auf eine Vermutung zurückgestuft. Es bleibt nur die Unklarheit, ob es ein Gefühl namens „der-andere-versteht-mich-nicht“ gibt oder ob das nicht eher eine mentale Konstruktion darstellt. Manchmal, und das ist auch eine verbreitete psychologisierende Unsitte, wird der Begriff „Gefühl“ verwendet, um etwas Untrügliches und Unhinterfragbares, gewissermaßen einen Fixstern in die Debatte einzubringen. Gegen Gefühle kann man nicht argumentieren. Würde man hingegen sagen, man hätte den Eindruck, nicht verstanden zu werden, wäre das neutraler und nähme den manipulativen Gehalt weg.

Beschämungsfolgen

Bei genauerem Hinsehen erkennen wir, wie wir die Beschämung in mehrfacher Weise nutzen: Zum einen dringen wir in die andere Person ein und kehren ihr Inneres nach außen. Wir zerren Intimes an die Öffentlichkeit, was bei der anderen Person Scham auslöst. Weiters geben wir vor, dass wir besser als die Angesprochenen selbst wissen, was in ihnen ist, nämlich was ihre versteckten und verborgenen Impulse und Regungen anbetrifft. Wir wollen ihnen glaubhaft machen, dass ihre Eigenwahrnehmung schlechter ist als unsere Einsichten von außen. Wir werten sie ab und beschämen sie dadurch. Schließlich bietet der Inhalt des Unterstellten – die böse Absicht, der schlechte Gedanke, das feindliche Gefühl – Anlass für Beschämung und will auch beschämen: Es sind Mängel und Fehlerhaftigkeiten, die angeprangert werden und die betroffene Person in ein schlechtes Licht stellen, und die Veröffentlichung soll dazu führen, dass es zu einer Veränderung kommt, sodass das verletzende Verhalten nicht mehr vorkommt. Da wir selber über Erfahrungen verfügen, in denen wir als Folge einer Beschämung unser Verhalten verändert haben – z.B. indem wir in der Folge bestimmte Gefühlsäußerungen, verbale Wendungen oder Handlungen unterdrückt haben –, meinen wir, dass das Machtmittel der Beschämung auch im aktuellen Fall Abhilfe schaffen wird.

Natürlich hängt es von der Reaktion der angesprochenen Person ab, sie kann sich fügen und verändern. In ihr verbleibt aber das gleiche innere Ressentiment, das wir selber aus unserer früheren Beschämungssituation kennen und das mit dem heimlichen Wunsch verbunden ist, es einmal heimzuzahlen. Es kann aber auch zur Abwehr kommen, zu einem Gegenangriff oder einer Gegenunterstellung, und die Auseinandersetzung verschärft sich und eskaliert. Es kann die andere Person auch erkennen, was abläuft, und die Unterstellung als Unterstellung benennen und sich dagegen abgrenzen. In all diesen Fällen zeigt sich, dass das Kommunikationsmittel der Unterstellung keinen wirklichen Erfolg bringt, sondern die Beziehungssituation zusätzlich anheizt und verschlechtert.

Manchmal fühlt sich jemand ertappt oder erkannt – die Unterstellung hat, wenn vielleicht nicht in allen Aspekten, doch einen wunden Punkt getroffen. In den meisten Fällen wird dann die Abwehr besonders heftig ausfallen oder zum totalen Rückzug führen. Es bedarf dann einer hohen Schamkompetenz und integrer Reife, zu sagen, dass etwas an dem, was vermutet oder interpretiert wurde, stimmt und dass man sich damit auseinandersetzen wird.

Unklare Grenzen zwischen innen und außen

Die Tendenz zum Unterstellen stammt aus einer Schwäche in der Unterscheidungsfähigkeit zwischen innen und außen. Wir verfügen über keine klare Grenze zwischen dem, wo wir selber sind und wo wir aufhören, und dem, wo der andere ist und aufhört. Diese Schwäche stammt aus Erfahrungen mit Grenzüberschreitungen. Wenn Eltern oder Erziehungspersonen die physischen oder emotionalen Grenzen des Kindes nicht respektieren z.B. durch Gewalt oder Bedürfnismanipulation, wird es schwierig für das Kind, ein realitätsgerechtes Gefühl für die eigenen Grenzen zu bilden. Sie werden zu durchlässig und schwammig. Aus den unklaren, konfluenten Grenzen entsteht die Grundlage für Unterstellungen, die sich als Gefühls- und Gedankenlesen ausgeben: So wie meine Grenzen überschritten wurden, überschreite ich sie jetzt. Die eigene Sphäre dehnt sich nach Belieben aus, weil sie von der Sphäre des anderen nicht unterschieden ist. Deshalb weiß ich besser als du selber, was in dir abläuft.

Alle Unterstellungen, die mit Projektionen arbeiten, stammen also aus erlittenen Grenzverletzungen. Häufig geschieht dies durch Fehlinterpretationen der eigenen Bedürfnisse: Eltern „lesen“ die Bedürfnisse ihrer Kinder falsch und geben ihnen, was sie nicht brauchen, während sie ihnen das vorenthalten, was sie bräuchten. Kinder leiten aus solchen Erfahrungen ab, dass sie selber falsche Bedürfnisse haben und dass sie die Unterstellungen ihrer Eltern zu den richtigen Bedürfnissen führt. Sie verlernen dabei, ihrem eigenen inneren Sinn zu vertrauen und können deshalb auch dem inneren Sinn von anderen nicht vertrauen. Sie lernen, stellvertretend zu fühlen, statt sich selber. Denn sie müssen auch lernen, die Eltern zu manipulieren, um zumindest einige der Eigeninteressen durchbringen zu können.

Die Beschämung, die mit dem Prozess der Uminterpretation der eigenen Bedürfnisse einhergeht, wird dann später anderen durch den Vorgang der Unterstellung zugefügt. Da die eigenen Grenzen nicht geachtet wurden, gelingt es später nicht, die Grenzen anderer zu achten. Es besteht kein klares Gefühl dafür, was ein respektvoller Umgang mit Grenzen sein könnte. Im Ernstfall, wenn es zu kommunikativen Spannungen kommt, wird das Grenzüberschreiten mittels Unterstellungen zur Waffe. Ich dringe in die Innenwelt des anderen ein, so wie in meinen Innenraum eingedrungen wurde. So, wie andere besser wussten als ich selber, was in mir ist , weiß ich jetzt besser, was in anderen ist, als sie selber.

Wie können wir mit Unterstellungen umgehen?

Zunächst sollten wir in uns selber überprüfen, ob die Aussage, die die Person über uns trifft, zutrifft oder nicht. Ist uns klar, dass wir nicht fühlen, denken oder beabsichtigen, was uns angedichtet wird, sollten wir uns klar und unmissverständlich dagegen abgrenzen: „Ich sehe – erlebe – fühle es so und nicht so. Ich habe diese Absichten und nicht jene.“ Wir sind die Experten für unsere eigene Innenwelt, wir wissen, was da stimmt und was nicht. Wir verfügen über die Fakten, die andere Person hat nur ihre Fantasie.

Jedenfalls sollten wir alles, was uns als Unterstellung erscheint, nicht einfach übergehen. Denn das könnte die unterstellende Person in ihren Meinungen über uns befestigen und unseren Ruf und unser Ansehen schädigen. Es ist wichtig, auf die Klärung der Faktizität und Authentizität zu dringen, um uns selbst und den Kommunikationsraum frei zu halten von Projektionen und manipulativer Machtausübung. Wir dürfen uns auf keinen Fall die Oberhoheit über unseren Innenraum streitig machen lassen und sollten alles, was da hinein interpretiert wird, ruhig und entschieden zurückweisen. Wir sind für unseren Grenzschutz zuständig und

Ein freundlich und unterstützend gemeintes Feedback stellt ein anderes Kaliber dar als offen oder versteckt aggressive Unterstellungen mit Vorwurfsgehalt und Änderungsappellen. Es ist die Absicht, die den Unterschied macht. Und wir sollten uns immer vergewissern, welche Absicht die andere Person hat, indem wir rückfragen. Denn aus unserem eigenen Spüren heraus wissen wir nur, was in uns selber los ist; für das Außen brauchen wir andere zusätzliche Quellen, um zur Gewissheit zu gelangen.

Zum Weiterlesen:
Psychologisieren - eine moderne Untugend

Grenzen und Durchlässigkeit

Krieg und Propaganda

Wenn Fiktion zum Faktum wird

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen